Im Kontakt mit Seelsorger/innen fühlen sich viele Menschen unsicher und fremd. Schon deren Sprache wirkt manchmal befremdlich. Damit Seelsorge gelingen kann, lohnt es, diese Perspektive umzukehren und die Fremdheit der Seelsorger/innen zu Gast bei Ihren Gesprächspartner/innen zum Ausgangspunkt zu wählen.

Fremd und zu Gast

Text: Peter Hundertmark – Photo: StockSnap/pixabay.com

Über Jahrhunderte schien nichts so stabil zu sein, wie die Präsenz des Pfarrers am Ort. Er taufte die Kinder, dann deren Kinder und manchmal sogar noch deren Enkel. Der Pfarrer fand sich ganz im Zentrum des gemeinschaftlichen Lebens. Seither hat sich fast alles verändert. Den verlässlich im Pfarrhaus anzutreffenden Priester, zu dem man mit allen möglichen und auch ein paar unmöglichen Anliegen gehen konnte, gibt es nicht mehr. Er ist kaum noch eine Erinnerung aus früher Kindheit. Seit vielen Jahren wird an einem erneuerten Selbstverständnis der Seelsorge gearbeitet, das diese – ursprünglich der Not geschuldete Entwicklung – einordnet und deutet.

Ein Element für ein erneuertes Selbstverständnis kam durch eine irritierende Widerentdeckung einer ursprünglichen Wortbedeutung zu Tage. Der Pfarrer, lateinisch parochus, genau wie das alte Wort Parochie für Pfarrei, ist vom griechischen Wort für „Fremde“ – paroikoi – abgeleitet. Fremde, das waren diejenigen in der städtischen Gesellschaft der Antike, die kein Bürgerrecht hatten: Zugezogene, Leute aus anderen Regionen, Menschen, die andere Götter verehrten. Die Juden, und in der Folge auch die Christen, galten in den Städten des römischen Reiches durchweg als Fremde. Sie wurden durchaus akzeptiert. Sie waren wichtige Arbeitskräfte, oft Handwerker oder Handeltreibende. Aber sie waren Fremde und Gäste – und blieben es, egal wie lange sie am Ort waren.

Pfarrer leitet sich also vom Wort „Fremder“ ab. Er ist einer, der zu denen gehört, die nur zu Gast sind. Zunächst ganz praktisch: Der Pfarrer kommt von außen in die Dorfgemeinschaft und wird vielleicht auch wieder abberufen. Aber auch pastoral: mit dem Pfarrer – in unserer Zeit auch mit den anderen pastoralen Berufen – kommt etwas Fremdes in den Alltag. Die Seelsorger/innen stehen für viele Menschen für eine Dimension, die den Alltag übersteigt. Sie bringen Themen mit, mit denen man sich sonst zwischen Beruf und Haushalt vielleicht nicht beschäftigen würde. Sie stehen für eine Unterbrechung des Alltags. Sie stehen symbolisch für Gott und seine Gegenwart. Von Gott her, wenden sie sich Menschen zu, trösten, segnen, beten, deuten. Nicht, dass Gott nicht ohne sie da wäre, nicht dass man ohne sie nicht spirituell, gläubig und fromm sein könnte, aber diese Fremden, diese Gäste erinnern an diese tiefere Schicht des Lebens.

In dieser durchaus verbreiteten Erwartungshaltung liegt eine Gefahr. Die Seelsorger/innen können leicht einer Verwechslung unterliegen. Weil sie für dieses Fremde Gottes stehen, können sie in die Versuchung kommen, zu glauben, sie hätten Gott und die anderen nicht – als würden sie Gott im Gepäck mitbringen. Oder im Extrem, als könnten sie bestimmen, wer wie Zugang zu Gott bekommt. Der alte Katechismus hatte diese Versuchung in ein Bild umgesetzt: Ein Wasserhahn der Gnade, den der Priester öffnet. So ist es nicht. Wer, auch in der besten Absicht, Gott irgendwo hin tragen will, der verhebt sich. Gott ist da und längt am Werk. Sein Geist belebt und wandelt und ist in den Menschen gegenwärtig, arbeitet in ihnen, an ihnen und durch sie. Gott ist Nähe pur – und doch bleibend fremd.

Manchmal kommen Seelsorger/innen als Gäste zu Menschen, für die Religion eher ein Randthema ist. Manchmal aber treffen sie auch auf Menschen, die ein intensives geistliches Leben führen und auf eine lange Geschichte der Auseinandersetzung mit religiösen Erfahrungen zurückblicken. Nie aber ist es so, dass sie nur „etwas bringen“. Immer werden auch sie, die Gäste, beschenkt: mit Erfahrungen bewältigter Lebensherausforderungen, mit Hoffnung wider alle Hoffnung, mit der Begegnung mit einem authentischen Menschen, mit Gottes Gegenwart in diesem Menschen und in dieser Begegnung. Seelsorge bewegt immer beide – Gastgeber und Gast. Und gerade da, wo die Not des/der Gastgebenden erst einmal ganz im Vordergrund zu stehen scheint, werden Seelsorger/innen nicht selten tief in ihrem Leben, Hoffen und Glauben berührt.

Was geschieht also, wenn Seelsorger/innen mit Menschen ins Gespräch kommen? Zuerst einmal gewähren die Menschen diesen Fremden Gastfreundschaft. Dafür ist der Ort der Begegnung zweitrangig. Sie lassen sie herein. Manchmal ganz praktisch in die Wohnung, in die Begegnung, aber auch existentiell. Sie lassen diese Gäste in ihr Leben, zeigen ihnen etwas von sich, geben ihnen Anteil an ihrer Situation. Sie geben ihnen einen Platz und laden sie ein, von diesem Fremden, Nicht-Alltäglichen her Beistand zu leben und einen Beitrag zur Deutung des Lebens zu versuchen. Dieses Hereinlassen geschieht, ob es sich um ein Trauergespräch handelt, oder ob über die anstehende Taufe gesprochen werden soll, ob jemand eine Begleiterin auf dem Glaubensweg sucht, oder in seiner Verletzung gehört werden will.

Dabei läuft oft ein Interesse am Fremden mit, und die Hoffnung und Erwartung, dass der/die Seelsorger/in für mich und mein mich und mein Leben Verstehen etwas beiträgt, was das Fremde Gottes einbringt und mir so eine neue Sicht auf mich selbst und meine Erfahrungen ermöglicht. Fremd sein und fremd bleiben, bei aller Nähe, die sich im Gespräch einstellen mag, ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Seelsorger/innen diesem Auftrag gerecht werden können.

Die Menschen, die Seelsorger/innen als Gästen Anteil an ihrem Leben geben, leisten einen großen Vertrauensvorschuss. Dieser Schritt ist sehr hoch zu schätzen. Sie trauen diesen Fremden zu, achtsam und wohlwollend zuzuhören. Sie glauben, da ernstgenommen zu werden. Sie erwarten, vorurteilsfrei in ihrer Situation angenommen zu werden. Sie hoffen auf Trost und Perspektive. In diesem Vertrauen geben sie den Seelsorger/innen Zugang zu ihrem Innenleben, zu privaten Dingen, zu existentiellen Fragen und Sorgen. Manchmal sprechen sie mit diesen Fremden über Dinge, über die sie sonst noch nie mit jemandem gesprochen haben – nicht einmal mit dem Ehepartner. Dieses Vertrauen bedeutet eine große, umfassende Verantwortung für die Seelsorger/innen. Vertrauen und Verantwortung sind die beiden Bedingungen, damit Seelsorge beginnen kann. In dieser sorgfältig gehüteten Verantwortung, und nur dann, werden die Seelsorger/innen der Gastfreundschaft gerecht, die ihnen gewährt wird.

Anders als von Gästen in einem Hotel wird von privaten Gästen erwartet, dass sie sich selbst mit- und einbringen. Wer bin ich und wer bin ich heute? Und vor allem: was bewegt mich, jetzt wo ich diese Gastfreundschaft annehme, in diese Situation hinein komme. Seelsorger/innen werden als Personen aufgenommen, nicht als Funktionen. Sie sollen und dürfen sich zeigen, sich als lebendige Menschen, mit Gefühlen und Erfahrungen sichtbar machen. Das, was sie ausmacht, dieses mir Fremde, ist ein wichtig. Es braucht bei der Kontaktaufnahme erst ein paar vorsichtige Schritte – wie noch an der Tür. Seelsorger/innen tun gut daran, hier in Vorleistung zu gehen, indem sie sich zugänglich machen und zugänglich zeigen.

Diese Fremden sollen sich also zeigen, aber so zeigen, dass sie sich nicht selbst zum Thema machen. Die Basis, vor aller Rollendifferenzierung, ist die wechselseitige Resonanz zweier oder mehrerer Menschen, die sich von der Situation bewegen lassen. Ohne diese existenzielle Schwingen, ohne dass mein Empfinden vom anderen aufgenommen wird, über alle Fremdheit hinweg, beginnt keine Seelsorge. Auf diesem Grund trennen sich dann aber die Rollen in Gastgeber/in und Gast. Nicht die Seelsorger/innen sind es, die jetzt in dieser Situation Seelsorge empfangen. Anteil nehmen, mitfühlen, sich selbst zurückstellen, solidarisch sein, beistehen, manchmal auch mit aushalten, was kaum aushaltbar ist … sind die Gastgeschenke, die sie mitbringen. 

Wird das Gastgeschenk angenommen, entsteht eine Atmosphäre der vorurteilsfreien, freilassenden Verbundenheit und dann geschieht manchmal ein Weiteres, das zum Staunen einlädt. Viele Gastgebende, die Seelsorger/innen empfangen, pflegen wenig Kontakt zu Kirche und reflektieren ihren Glauben nur selten. Sie fühlen sich all dem gegenüber fremd. Dennoch werden die Gäste aus dieser fremden Welt eingeladen, über ihre Überzeugungen zu sprechen, ihren Gottesbezug spürbar zu machen. Sie sollen und dürfen Gott, der schon im Leben der Gastgebenden da und wirksam ist, auch mit Worten und Symbolen bezeugen. Die Gastgeber gewähren ihnen, dass sie ihr Kostbarstes – ihre Gotteserfahrung, ihre Gottsuche und Gotthoffnung – zeigen dürfen. Sie geben dem Raum in ihrer Mitte, an ihrem Tisch, manchmal an ihrem Krankenbett, immer aber in ihrer Lebenserzählung. Sie öffnen ihre eigene Lebensdeutung für das Fremde, für das Deutungsangebot, das die Gäste jetzt dazu legen. Sie erwarten dieses Kostbare sogar, denn schließlich zeigen sie auch etwas von ihrem Innersten, etwas von dem, was sie am besten hüten.

Freilich darf dieses Kostbare nicht als vielfach gesicherte Schatzkiste, bewehrt mit all den Ketten der biblischen Tradition, ummantelt mit moralischen Forderungen und gesichert mit den Schlössern einer theologischer Fachsprache auf den Tisch der Gastgeberinnen gelegt werden. Sie erwarten zu Recht ein Geschenk, das für sie persönlich bereitet ist. Das Deutungsangebot des Glaubens muss an ihrer Lebenserzählung und an Gottes Wirken, das in dieses Leben hineingesponnen ist, ansetzen. Es ist eine gute Neuigkeit – Evangelium eben: das fremde Wort, das mit jetzt mehr sichtbar macht, was Gott schon für mich wirkt. Im Glücksfall gibt dieses fremde Wort dem Erlebten einen spannenden neuen Rahmen, der eine andere Perspektive möglich macht. Es stellt ein Element zur Lebenserzählung hinzu und schafft so für den Moment eine neue Wirklichkeit. Aber eben wie ein paar Salzkörner, die das Essen schmackhaft machen. Das genügt. Manchmal hält das Evangelium eine Hoffnung offen, wo sich alles zu schließen scheint. Ist es Evangelium hier und jetzt, ist es gute Nachricht für diesen Menschen in seiner Situation – und muss sich auch unmittelbar so anfühlen.

Das Bild erschließt unmittelbar, dass selbstverständlich die Gastgebenden den Rahmen setzen. Sie geben den Raum, sie vertrauen sich an, sie horchen auf den Deutungsbeitrag aus dem Glauben hin – soweit sie es eben für gut befinden. Sie legen fest, wie lange sie Gastfreundschaft gewähren und wie tief sie die Gäste in ihre Lebenswohnung hinein bitten. Die Fremden sind eben Gäste und nicht Hausherren und Besitzer. Sie sind zu den Bedingungen ihrer Gastgeber dort und sind nur unter diesen Bedingungen eingeladen, zu hören, zu sprechen, zu schweigen oder zu beten.

Damit sie unter den Bedingungen ihrer Gastgeber wirklich Kostbares geben können, müssen die Seelsorger/innen sich vieles erst erschließen lassen. Sie sind ja fremd. Sie müssen bewusst diesen Raum des Nichtwissens betreten. Jedes Leben ist anders. Wissen, das sie aus anderen Kontexten oder von früher mitbringen, nützt nicht nur nichts, es schadet sogar. Seelsorger/innen, die als Gäste in ein Leben eingelassen werden, müssen sich immer bewusst sein, dass sie Fremde sind. Sie verstehen dieses Leben nicht, sie kennen die ungeschriebenen Gesetze nicht, sie ahnen die guten Gründe nicht und auch nicht die schlechten Erfahrungen, die hinter einem Verhalten stehen. Sie sind darauf angewiesen, dass die Gastgebenden ihnen von sich aus etwas zeigen.

Ein äußerst respektvolles, strikt grenzwahrendes, aber zugleich engagiertes Interesse ist deshalb eine wichtige Haltung. Es ist nicht selten eine schwierige Balance, aber der einzige Weg, der die Gäste für ihre Gastgeberinnen akzeptabel macht. Es ist die Voraussetzung dafür, dass wirklich die Seelsorger/innen Verständnis für das Erleben, Leiden und Hoffen ihrer Gesprächspartner entwickeln können. Dieses Verständnis aber wirkt nur dann tröstend, befreiend, verändernd, wenn es authentisch ist. Und das spürt man daran, ob und wie es die Seelsorgenden selbst verändert. Diese Veränderung muss jetzt spürbar sein.

Viele Gastgebende, die Seelsorger/innen empfangen, sind sehr gastfreundlich. Sie achten darauf, den Gästen nicht zu viel zuzumuten. Sie, die die ganze Last tragen, legen nur einen kleinen Teil davon in die Hände der Gäste. Und sie ertragen deren Nähe, ihre Fremdheit, ihr Nicht-Verstehen und ihren nicht immer gelingenden Versuch, wirklich Verständnis zu leben. Sie danken auch für manches ungeschickt eingepackte Geschenk. Sie mühen sich auszupacken und für sich kostbar zu machen, was so fremd daher kommt. Sie setzen sich dem Dialog aus und gehen in Resonanz, auch wenn sie eigentlich am Ende ihrer Kräfte sind. Sie sind großzügig und großmütig. Das Wissen um diese Großmut macht demütig.

Gäste bleiben eine Weile und gehen wieder. Sie haben Gastfreundschaft genossen und vielleicht ist ihr Gastgeschenk – Beistand und Evangelium – akzeptiert worden. Vielleicht ist für einen Moment die Fremdheit einer wohltuenden Nähe gewichen. Vielleicht hat eine Wandlung stattgefunden. Dann aber gehen sie wieder, werden sie wieder fremd. Sie haben kein Bürgerrecht im Leben ihrer Gastgeber und schon gar kein Recht über sie. Sie haben empfangen und sie haben gegeben. Daraus wächst keine Verpflichtung. Es ist genug.

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