Seit Jahren kommen in der Kirche immer noch mehr Verbrechen durch sexualisierte Gewalt ans Licht. Dahinter öffnet sich ein Dunkelraum spiritualisierten Machtmissbrauch. Es gibt offensichtlich schwer Geschädigte, aber noch wenig Klarheit über das Phänomen. Deshalb viel mehr Fragen als Antworten.

Prävention spiritualisierten Machtmissbrauchs

Text: Peter Hundertmark – Photo: Amber_avalona/pixabay.com

Bei Prävention denkt man in der Regel zuerst an Maßnahmen. Wer muss wie geschult werden? Welche Sanktionen braucht es? Wer ist zuständig? Diese Fragen müssen gelöst werden und sie müssen bald angegangen werden. Alleine allerdings werden sie zu kurz greifen. Noch ist zu wenig erfasst, was spiritualisierter Machtmissbrauch ist und wo überall er vorkommt. Deshalb ist eine umfassendere Strategie der Prävention notwendig.

Die im Folgenden vorgeschlagenen Interventionen sind umfangreich, tiefgreifend und erfordern nicht unerheblichen Einsatz. Bedenkt man jedoch, dass spiritualisierter Machtmissbrauch Menschen in ihrem Glauben und für ihr ganzes Leben schwer schädigt und zugleich das existentielle Fundament der Kirche zerstört, relativiert sich der notwendige Präventions-Aufwand sofort wieder. Zumal sich viele Interventionen parallel zur Prävention sexualisierter Gewalt aufbauen lassen und an vielen Stellen Synergien genutzt werden können.

  1. Aufarbeitung

Es gibt keine Prävention ohne Aufarbeitung. Bevor nicht die Geschehnisse wirklich gesichtet und verstanden, bevor nicht Verantwortlichkeiten geklärt und Täterpersonen zur Rechenschaft gezogen wurden, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Prävention am tatsächlichen Phänomen vorbei geht. Aufklärung ist ein mühsamer Weg voller unangenehmer Überraschungen, peinlicher Entdeckungen, mit schmerzhafter Konfrontation mit den Betroffenen, in schwieriger Auseinandersetzung mit den Täter/innen und tatbegünstigenden Organisationen.

Das sicherste Wissen, über das wir bisher im Bereich des spiritualisierten Machtmissbrauchs verfügen, ist dass es Menschen gibt, die Schaden genommen haben, deren Gottsuche zerstört wurde, deren Leben verdunkelt wurde. Da gilt, was in jedem Fall von Machtmissbrauch gilt: Sie, die Betroffenen und Geschädigten sind die einzigen wirklichen Fachleute. Sie wissen, was ihnen geschehen ist, wie es sich für sie ausgewirkt hat, welche Faktoren beteiligt waren, wer die Täter/innen waren und was diese motiviert hat. Kirche ist hier auf Menschen angewiesen, denen im Bereich der Kirche erhebliches Leid zugefügt wurde und die dennoch bereit sind, ihre Erfahrungen zur Verfügung zu stellen. Sie, die Betroffenen sind unverzichtbare Ressourcenpersonen. In ihren Händen liegen die Schlüssel zur Veränderung.

Der Weg der Aufarbeitung beginnt also immer damit, die Betroffenen zu hören: Sie lange, achtsam, wohlwollend und mit großem Vertrauensvorschuss zu hören. Dabei ist immer zu bedenken, dass jede Auseinandersetzung mit den Erfahrungen, jede Erinnerung schmerzhaft ist, wieder die alten Bilder aufwühlt, Traumatisierungen wieder lebendig werden lassen kann. So ist eine hohe Achtsamkeit, Dankbarkeit und Vorsicht erforderlich, wenn die Betroffenen gehört werden. Ihre Selbstbestimmung, ihre Diskretionsbedürfnisse und ihr (Selbst-)Schutz haben oberste Priorität, hinter der jedes „kriminalistische“ Wissenwollen zurückstehen muss. Dazu gehört auch, dass die Betroffenen einen Vertrauensvorschuss verdient haben. Ihre Erzählungen sind unbedingt mit dem positiven Vorurteil der Wahrheit zu hören. Alle Abwägungen, alles Zusammenführen verschiedener Informationen und der Abgleich sich widersprechender Einschätzungen können erst in einem späteren Schritt geschehen.

Zu hören sind die Betroffenen einerseits von kundigen, theologisch gebildeten, mit dem Phänomen spiritualisierten Machtmissbrauchs vertrauten Seelsorger/innen, die gemeinsam mit ihnen die belastenden Erfahrungen vorsichtig explorieren können. Zu hören sind sie aber unbedingt auch von den Verantwortlichen der Kirche – Bischöfe, Ordensobere, Leitungsebene von Institutionen und Organisationen. Eine direkte Gegenüberstellung der Opfer mit den Täter/innen ist jedoch absolut und unter allen Umständen zu vermeiden.

Mit dem Hören der Betroffenen ist ein wesentlicher Schritt getan. Um eine wirksame Prävention vorzubereiten, sind jedoch weitere Schritte notwendig. Die Erfahrungen der Betroffenen müssen gesichtet, kategorisiert und von den persönlichen Umständen abstrahiert werden. Erst aus diesem Verarbeitungsschritt entsteht nach und nach ein handlungsleitendes Wissen über die Komplexität des Phänomens spiritualisierten Machtmissbrauchs. Einige wichtige Ressourcen und Kriterien für diesen Verarbeitungsschritt sind auch im Bereich der Sekten- und Weltanschauungsbeauftragten erarbeitet worden und können eventuell übertragen werden.

Anders als im Fall sexualisierter Gewalt kann Kirche, wenn es um spiritualisierte Gewalt geht, wenig auf gesellschaftliche Klärungen zurückgreifen. Sie ist weitgehend auf eigene Anstrengungen angewiesen. Es muss also in eigene, gründliche Forschungsarbeit investiert werden. Neben dem Phänomen selbst müssen auch die Kontexte, in denen es zu spiritualisiertem Machtmissbrauch kam und kommen kann, verstanden werden. So zeigte sich im Laufe der bisherigen Aufarbeitung, dass entgegen der ersten Annahmen spiritualisierte Gewalt primär ein Problem geistlicher Leitung und nicht der geistlichen Begleitung bzw. der Seelsorge ist. Prävention im Bereich der Seelsorge und Begleitung ist folglich notwendig, verfehlt aber den weitaus größeren Problemkontext und greift damit als alleiniger Ansatz zu kurz.

Noch weitgehend unerforscht ist die Frage, ob es spezifische Bedürfnisse der Täter/innen gibt, die von den allgemein beschriebenen Bedürfnissen von Täter/innen jeglicher Form von Machtmissbrauch unterschieden werden können, die also über Angstbewältigung, emotionale Bestätigung, Machtgefühl, Status und sadistische Entgleisungen hinausweisen. Es spricht viel dafür, dass es solche spezifischen Bedürfnisse gibt. Die Differenz zwischen auferlegter Aufgabe und persönlichem Charisma könnte eine von vielen möglichen Wurzeln sein, aus der heraus legitime Macht in Machtmissbrauch und spiritualisierte Gewalt umschlägt. Auffallend ist auch, dass viele Täter/innen ohne jedes Problembewusstsein agieren. Gruppendruck, theologische Überzeugungen, spirituelle Prägungen spielen offensichtlich eine wichtige Rolle.

Aber nicht nur die Bedürfnisse, auch die Täterstrategien sind zwar im Bereich der sexualisierten Gewalt gut dokumentiert und verstanden, aber im Feld des spiritualisierten Machtmissbrauchs noch wenig erforscht. Erste Heuristik zeigt einen Zusammenhang und eine Abfolge von spiritueller Vernachlässigung, Kommunikations- und Informationsbeschränkung, Manipulation und dann offener Gewalt. Um wirksam eingreifen zu können, müssen diese Abläufe noch viel besser verstanden werden und für verschiedene Kontexte des spiritualisierten Machtmissbrauchs gegengeprüft werden. So ist zum Beispiel die selbstschutzrelativierende Wirkung von langen, tranceähnlichen Gebeten, von religiösen Massen-Events oder von intensiven Gruppenerfahrungen in von der Person nicht kontrollierbaren Situationen zu erforschen. Auch gibt es Berichte für die gezielte Anwerbung späterer Opfer von spiritualisierter Gewalt. Über die einschlägigen Vorgehensweisen ist aber noch wenig bekannt.

Äußerst heikel ist die Frage nach Dispositionen, die Menschen mehr in Gefahr bringen, zu Opfern zu werden. Heikel, weil es leicht so scheinen kann, als würden wieder die Opfer zu Schuldigen gemacht. Deshalb ist das Erste ein NEIN: Nein, wer Opfer von Machtmissbrauch wird ist nicht selbst schuld. Nein, es passiert ihm7ihr nicht, weil er/sie etwas falsch macht, sondern weil ein anderer die Macht, die ihm/ihr gegeben ist, missbraucht. Dennoch muss sich effektive Prävention auch mit dieser Frage auseinander setzen. Was könnte Menschen für spiritualisierte Manipulation anfälliger machen? Oder anders gesagt: Wer braucht ein Mehr an Schutz und Aufmerksamkeit? (Noch) schwach ausgebildete Persönlichkeit, starkes, religiös kodiertes Über-Ich mit hohen innerpsychischen Sanktionsandrohungen, wenig Übung in kritischer Beurteilung religiöser Überzeugungen und Praktiken, erlerntes Verbot eigener, abweichender Meinung in religiösen Dingen, geringe Kenntnis geistlicher Traditionen und theologischer Instrumentarien… sind einige Elemente. Erste Berichte sprechen zudem davon, dass Menschen mit überdurchschnittlicher spiritueller Begabung, eventuell auch hochsensible Personen für Tatgeneigte besonders attraktiv sind. Wer muss also in besonderer Weise durch Präventionsanstrengungen geschützt werden?

Kaum Informationen liegen auch darüber vor, wie und in welchem Umfang Menschen durch spiritualisierte Gewalt Schaden nehmen. Was geschieht mit ihrem Selbstbild, ihrer Affektivität, ihrer Fähigkeit zur Lebensbewältigung, ihrer Bindungsfähigkeit, ihrer Spiritualität, ihren Gottesvorstellungen…? Berichte von „Gewalt-Überlebenden“ zeigen, dass die Schädigungen bis in den intimsten Personkern reichen und jahrelange oder lebenslang bleibende Beeinträchtigungen nach sich ziehen können. Insbesondere auch Gebet, Gottesdienst, geistliches Leben können für immer zerstört sein. Das Wissen um die Dimensionen der Schädigung ist aber entscheidend, um Prävention und angemessene Hilfen konzipieren zu können.

Weiter zu klären sind auch die Verantwortlichkeiten. Da spiritualisierter Machtmissbrauch vor allem im Kontext geistlicher Leitung auftritt, ist die Frage nach der Aufsicht über geistliche Leitung höchst virulent. Dies gilt umso mehr, wenn der Machtmissbrauch in einer Gruppe mit intern allgemein geteilten Gruppenüberzeugungen einhergeht. Wer aber ist regional zuständig, auf welche Bereiche bezieht sich diese Zuständigkeit, wie kann sie ausgeübt werden? Wie ist aber auch unangemessener Einmischung zu wehren, wie Denunziation zu vermeiden? Welche Sanktionen sind möglich und wie können sie eingesetzt werden? Welche Hilfsangebote brauchen Betroffene und wo können sie solche erhalten? Ein wesentlicher Schritt zu einer klareren Verantwortung könnte die (Selbst-)Zuschreibung der Zuständigkeit der Ortsordinarien für alle Gruppen, Gemeinschaften und Institutionen auf ihrem Territorium sein – die exemten Abteien natürlich ausgenommen. Aber klar muss sein, dass diese Aufsicht nur geleistet werden kann, wenn auch Ressourcen – fachlich qualifizierte Personen, aber auch Sachmittel und juridische Durchgriffsrechte –  dafür bereitgestellt werden.

Noch grundlegender ist jedoch die Frage nach „Gewaltenteilung“, Aufsicht und Transparenz in allen kirchlichen Machtzusammenhängen zu stellen. Vor allem sind alle Vorgehensweisen zu reformieren, in denen „forum internum“ und „forum externum“ nicht klar getrennt sind.

Da theologische Überzeugungen eine wesentliche Rolle für die Selbstlegitimierung der Täter/innen spielen, muss ganz wesentlich auch im Bereich der Aufarbeitung unbedingt theologisch gearbeitet werden. Welche theologischen Theorien, die oft in einem völlig anderen historischen Kontext entwickelt wurden, wirken heute in welcher Kombination als Einladungen und Ermöglichungen für spiritualisierten Machtmissbrauch? Wie kann und muss der gleiche Glaube neu gesagt werden, um spiritualisierter Gewalt vorzubeugen? Gibt es so etwas wie eine „toxische“ Spiritualität und wie können solche potentiell toxischen Produktionen identifiziert werden? Die theologische Aufarbeitung steht noch vor dem ersten Schritt.

Nicht zuletzt gehört zur Aufarbeitung, dass den Betroffenen Gerechtigkeit widerfährt. Schuldige müssen benannt, Schuld bekannt gemacht, tatfördernde Institutionen reformiert, Verantwortung auch öffentlich übernommen werden. Dabei ist davon auszugehen, dass ähnlich wie im Feld der sexualisierten Gewalt durch Kleriker den Betroffenen nur wenig geholfen ist, wenn allgemeine Schuldbekenntnisse abgelegt werden. Transparenz, Gespräche, Klagemöglichkeiten, Hilfen und eindeutig beobachtbare Veränderungen sind wichtiger.

2. Qualität

Es gibt eine breite gesellschaftliche Debatte, was ein angemessenes, grenzrespektierendes Verhalten zwischen Menschen ist und was als unangemessenes Verhalten bewertet wird, was Grenzverletzungen, Übergriffe und was sexualisierte Gewalt ist. Wie leicht über die letzten Jahre zu beobachten ist, handelt es sich dabei um ein flexibles Gleichgewicht, das sich weiter ausdifferenziert und immer wieder hin zu weiterreichendem Opferschutz verschiebt. Kirche kann diese gesellschaftliche Arbeit aufgreifen und für ihre eigenen Kontexte fruchtbar machen. Gleiches liegt in diesem Umfang erwartungsgemäß für das Problem des spiritualisierten Machtmissbrauchs im gesellschaftlichen Diskurs nicht vor. Einzig in der Sektenforschung sind analytische Instrumente und wichtige Einsichten über defiziente Formen erarbeitet worden, die bei den entsprechenden Fachleuten abgerufen und angepasst werden können.

Vor der Definition abweichenden, schädigenden Verhaltens muss jedoch die Anstrengung stehen, positive Beschreibungen zu erarbeiten: Was ist gute, grenzrespektierende, reifungsfördernde, geistlich lebendige und fruchtbare Gemeinschaft? Was ist entsprechende Seelsorge? Welche spirituellen Praktiken stützen und fördern Menschen in ihrer Gottsuche und Selbstwerdung? Welchen „Nutzen“ kann Kirche Menschen realistisch zusagen, wenn sie geistliche Angebote aufgreifen, wenn sie sich spirituellen Gemeinschaften anschließen…? Woran kann jemand ermessen, ob das, was er/sie erlebt, gut, angemessen, richtig, normal… ist?

Diese Arbeit ist umso schwieriger, da es nicht genügt, theologie- bzw. spiritualitätsintern zu argumentieren. Innerhalb eines theoretischen Systems können auch Dinge schlüssig und normal aussehen, die dennoch schädigende Wirkung auf Menschen haben. Formal stellt die Qualitätsforschung hier wesentliche Hilfen zur Verfügung. Für kirchlich-geistliche Zusammenhänge ist das Denken von den Wirkungen her sehr ungewohnt und gerät leicht unter Instrumentalisierungsverdacht. Dennoch ist davon auszugehen, dass jede kirchliche Handlung – offener Sadismus als Extremform einmal ausgenommen – aus einer Selbstlegitimierung als „lebensförderlich“, „gottgewollt“ und „evangeliumsgemäß“ heraus gesetzt wird. Es gibt also eine Nutzenbehauptung. Nur wird dieser Nutzen in der Regel nicht konkret und personal expliziert und ist damit nicht durch die Betroffenen überprüfbar.

Es braucht also dialogisch vermittelte, über den kirchlichen bzw. gemeinschaftlichen Binnenraum hinaus kommunizierbare, explizite Konsense darüber, was gutes kirchliches Handeln ist. Hier öffnet sich ein weites Forschungsfeld für die wissenschaftliche Theologie, aber es braucht auch institutionalisierte, regelmäßige, partizipative Gesprächszusammenhänge auf allen kirchlichen Ebenen und in allen kirchlichen (Sonder-)Bereichen. Nur so kann ein allgemein bekannter und geteilter Konsens erreicht werden. Diese positiven Beschreibungen müssen nach und nach für alle kirchlichen Lebens- und Handlungsfelder erarbeitet werden. Nur da, wo positive Beschreibungen vorliegen, können dann in einem zweiten Schritt auch unstatthafte und schädigende Abweichungen definiert werden. Spiritueller Machtmissbrauch bestimmt sich von dem her, was legitimer, menschenfreundlicher und gottgemäßer Einsatz von (Gestaltungs-, Beratungs-, Leitungs-…)Macht in Kirche ist.

Zu erarbeiten ist auch, welche Rahmenbedingungen mehr Schutz für Menschen bieten, die sich einer Institution oder einem kirchlichen Handeln anvertrauen. Welche institutionellen Maßnahmen sind zu ergreifen und wie kann der Schutz von Menschen gegen missbräuchliche Handlungen im Feld der Spiritualität möglichst gut gewährleistet werden? Auch diese Rahmenbedingungen sind für jedes kirchliche Lebens- und Handlungsfeld eigens zu beschreiben, wobei überall die gleichen Grundsätze und Haltungen gelten dürften.

Dabei ist zu beachten, dass sich die Schutzanstrengungen keineswegs nur auf Kinder, Jugendliche und aufgrund von Einschränkungen schutzbefohlene Menschen verengt werden darf. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung sind auch Erwachsene durchaus nicht immer in der Lage, sich selbstbewusst und frei von missbräuchlichen Kontexten und Handlungen zu distanzieren. Diese Selbstwirksamkeit sinkt zudem dramatisch bei längerem Aufenthalt in stark oder ausschließlich binnenorientierten Kontexten. Die interne Logik des Systems wird dann eventuell so umfassend übernommen bzw. ihre Übernahme so drastisch durchgesetzt, dass eine kritische Auseinandersetzung fast unmöglich wird. Diese Effekte sind aus der Sektenforschung als bekannt vorauszusetzen, gelten aber mit Varianten auch für strikt abgeschottete kirchliche Lebensbereiche.

Rollenbilder, Haltungen und Kultur der Akteure und Akteurinnen bestimmen deren Verhalten oft mehr als reflektierte und geplante Interventionen. So zeigt sich in den Berichten von Betroffenen, dass theologisch-spirituell motivierte Rollenerwartungen und –legitimierungen mit den gravierendsten Faktor für spiritualisierten Machtmissbrauch darstellen. Angemessene, normative Rollenbilder, Haltungen und ein entsprechendes Selbstverständnis sind also dialogisch zu erarbeiten und kontinuierlich einzuüben. Unterstützt werden kann dieses Einüben dann durch einen formalisierten ethischen Kodex eines jeden kirchlichen Handlungsfeldes. Damit wird für die Selbstreflexion wir für das Fremd-Feedback und aufsichtliches Handeln ein verbindlicher, transparenter und allgemeingültiger Rahmen geschaffen.

3. Maßnahmen

Auf der Basis von Aufarbeitung und positiver Qualitätsbeschreibung können Maßnahmen der Prävention definiert werden. In der Qualitätsarbeit wird dabei bereichsübergreifend auf das „FMEA“-Instrument zurückgegriffen. FMEA steht für „Failure Mode and Effect Analysis“ und lenkt die Aufmerksamkeit auf drei Dimensionen: Welche Abweichung von den positiv definierten Zuständen und Abläufen kann wie entstehen und wie kann dem entgegen gewirkt werden? Welcher Schaden kann durch Abweichungen entstehen und wie kann dieser minimiert werden? Wie kann die Wahrscheinlichkeit erhöht werden, dass die Abweichung rasch bemerkt und mögliche Schäden verhindert werden können?

3.1. Tatgeneigte Personen

In kirchlichen Kontexten entstehen Abweichungen von gewollten und positiv beschriebenen Abläufen ausschließlich durch die handelnden Personen. Solange möglicherweise tatgeneigte Personen nicht präziser zu beschreiben und einzugrenzen sind, sind die präventiven Maßnahmen für alle zu konzipieren, denen Macht in Kirche anvertraut wird. Das sind natürlich primär die Kleriker, die kirchlichen Berufsgruppen und die Verantwortlichen der Institutionen, Gemeinschaften, Verbände und Bewegungen. Ihnen wird regelmäßig und notwendig erhebliche Macht über Menschen und Gemeinschaften übertragen. Aber auch die freiwillig und ohne dienstrechtliche Einbindung handelnden Personen in gemeindlichen oder anderen Kontexten kirchlicher Verantwortung sind potentiell einzubeziehen, auch wenn in ihren Händen in der Regel sehr viel weniger Macht konzentriert ist und damit die Versuchung des Machtmissbrauchs auch geringer ist.

Dabei sind Maßnahmen zu unterscheiden, die relativ rasch und regional eingeführt werden können und solche, die nur langfristig wirken und/oder breiten kirchlichen Konsens erfordern.

Kurz- bzw. mittelfristig kann durch den jeweiligen Ortsordinarius ein verbindlicher Rahmen der Selbstreflexion, ethischen Abwägung, des regelmäßigen Fremd-Feedbacks und aufsichtlicher Routinen für alle legitim kirchlich handelnden Personen eingeführt werden. Diese Reflexion und Aufsicht bekommt die nötige Kraft, wenn zugleich Sanktionen für Verweigerung und fortgesetztes abweichendes Verhalten, das möglicherweise Menschen geistlich schädigt, definiert und transparent angewandt werden. Dies ist ortskirchenrechtlich möglich. Bei Gemeinschaften, die nicht direkt der Jurisdiktion des Ortsordinarius unterworfen sind, können solche Sanktionen die Form der Klage vor den zuständigen vatikanischen Stellen und des Entzugs der Zulassung zum apostolischen Handeln in der Diözese annehmen. Auch können, wenn die Aufsicht verweigert wird, beispielsweise Fördermaßnahmen gestrichen oder eine öffentliche Distanzierung ausgesprochen werden.

In allen Dimensionen von illegitimem Gewalteinsatz steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen, die Macht, die ihnen anvertraut ist, missbrauchen, wenn sie unter Stress kommen, sich überfordert fühlen, ihrer Verantwortung nicht gerecht werden können, wenn sie zu wenig Ausgleich und Entspannung haben und für die eigenen emotionalen Bedürfnisse nicht ausreichend in grenzrespektierender und angemessener Weise sorgen können. Weitere Maßnahmen, um spirituellem Machtmissbrauch entgegen zu wirken, werden also hier ansetzen müssen. Arbeitsbeschreibungen sind so zu gestalten, dass sie leistbar sind. Kleriker, pastorale Berufsgruppen und andere kirchlichen Verantwortungsträger/innen müssen zu einem förderlichen Einüben von Work-Life-Balance unterstützt werden. Verantwortung ist so zu gestalten, dass sie selbstsorgend und menschenfreundlich ausgeübt werden kann. Spirituelle, asketische und liturgische Verpflichtungen sind auf ihren Stressfaktor zu untersuchen und gegebenenfalls zu relativieren. Diese Maßnahmen sind wesentlich komplexer und werden frühestens mittelfristig wirksam. Sie können aber regional durch die Ortsordinarien auf den Weg gebracht werden.

Erst langfristig wirksam wird, was häufig reflexartig die Debatte bestimmt, nämlich eine verbesserte Ausbildung, intensivere Unterstützung in der menschlichen und geistlichen Reifung und tiefgehende spirituelle Formation für die Anwärter/innen der pastoralen Berufsgruppen und Priesterkandidaten. Eine sorgsame Auswahl und Ausbildung der Kandidaten für kirchliche Ämter und Verantwortungen trägt natürlich zur Prävention bei. Langfristig ist die Wirkung aber nicht nur deshalb, weil die Integration in die jeweiligen Berufsgruppen nur demographisch geschieht, sich also mindestens über 40 Jahre hin zieht, sondern auch, weil sie eine veränderte und verbesserte Formation der Formator/innen und Ausbildungsverantwortlichen voraussetzt. Hier sind unbedingt Maßnahmen zu ergreifen. Es bleibt jedoch eine Daueraufgabe, die erst langfristig messbare Veränderungen in der Breite des kirchlichen Handelns zeitigen kann.

Unerlässlich ist auch die theologische Arbeit. Allen kirchlichen Macht- und Verantwortungsträgern muss eine grenzrespektierende, Machtmissbrauch begrenzende, spirituellen Überhöhungen wehrende Theologie zur Verfügung gestellt werden. Das ist sicher das „dickste Brett“, das zur Prävention spirituellen Machtmissbrauchs zu bohren ist. Diese theologische Grundlagenarbeit erfordert beherztes Angehen, langen Atem, nationale und internationale Verständigung und wird erst mittel- und langfristig präventive Effekte hervorbringen. Sie kann aber wesentlich dazu beitragen, die Qualität guten kirchlichen Handelns zu beschrieben, ethische Reflexionsmöglichkeiten für die handelnden Personen zur Verfügung zu stellen und die Ausbildung der zukünftigen Verantwortlichen zu verbessern. Die Notwendigkeit einer theologischen Besinnung kann deshalb gar nicht zu hoch eingeschätzt werden.

3.2. Potentiell Betroffene

Es gibt keine Wahrscheinlichkeitsrechnung, die etwas darüber sagen könnte, wer in welcher Situation mit spirituellem Machtmissbrauch konfrontiert wird. Praktizierende Katholik/innen können ebenso Opfer werden, wie Menschen, die neu nach dem Glauben suchen, junge Menschen in gleicher Weise wie Senior/innen und wer als Erwachsener in einer Krise oder einem Übergang steckt, ist vielleicht sogar noch mehr gefährdet. Sicher lässt sich nur sagen, dass die Gefahr in Kontakt mit missbräuchlichem geistlichem Handeln zu kommen, steigt, je stärker die Kommunikation einer Gruppe, der sich jemand anschließt, binnenorientiert oder gar nach außen abgeschlossen ist. Das trifft auch für manche Gemeinde zu, wo der Kern der Engagierten einen Großteil seiner Kontakte und glaubensrelevanten Kommunikation in einem engen Kreis von Personen hat. Besonderes Augenmerk muss aber den Menschen gelten, die in religiös geführten Einrichtungen leben, die für ihre Mitglieder für sehr viele oder alle Lebensbereiche sorgen, damit aber auch alle Lebensbereiche regulieren:  Internate, Priesterseminare, spirituelle Sondergruppen, geistliche Gemeinschaften, Ordensgemeinschaften, charismatische Initiativen, aber auch kirchlich verantwortete Altenpflegeeinrichtungen, Behinderteneinrichtungen, Hospize, Obdachlosenheime, Flüchtlingsunterkünfte…

Um Prävention spirituellen Machtmissbrauchs rasch voran zu bringen, ist deshalb der erste, weil unmittelbar Veränderungen provozierende Schritt, möglichst vielen Menschen, vor allem aber denen, die in den aufgezählten oder ähnlichen Institutionen leben, umfassende Informationen über ihre Rechte und über Beschwerdewege zur Verfügung zu stellen. Solche Merkblätter können umgehend erstellt werden und die Ortsordinarien können ihre Verteilung anordnen. Mehr Aufwand ist es bereits, den möglicherweise von spirituellem Machtmissbrauch Betroffenen die oben erläuterten Beschreibungen guter Gemeinschaft, grenzrespektierender Pastoral, verantwortlicher Spiritualität zugänglich zu machen. Aber auch diese Qualitätsaussagen können kurz- bis mittelfristig zusammengestellt und breit gestreut werden. Damit sollen möglichst viele Menschen Kriterien an die Hand bekommen, um eigene Erfahrungen einschätzen, und sich gegen missbräuchliche Vorkommnisse zur Wehr setzen zu können.

Der beste Schutz für potentiell Betroffene ist es jedoch, wenn sie mit verschiedenen Menschen mit unterschiedlichen religiösen Überzeugungen und vielfältigen spirituellen Traditionen im Gespräch sind. Zugang zu religiösen, spirituellen und theologischen Büchern in der ganzen Breite der Autoren, Internetrecherchemöglichkeiten, Chats, Foren, Mailkontakte, Messengerdienste… tragen zusätzlich dazu bei, dass der Horizont weit bleibt und Menschen ihre eigenen Erlebnisse mit anderen Meinungen und Erfahrungen abgleichen können. Im Sinne der Prävention ist also allen Schließungsbedürfnissen von Gruppen und Institutionen entschieden entgegen zu wirken. Es darf künftig keine kirchlich verantworteten Situationen geben, wo Menschen sich ausschließlich in einer einzigen spirituell-theologischen kommunikativen Blase bewegen müssen.

Da Menschen aber auch von sich aus dazu neigen können, nur im Binnenraum zu kommunizieren, eine religiöse Sondersprache einer Gruppe zu entwickeln, ausschließlich immer gleiche Informationen, spirituelle Anregungen und theologische Produktionen wahrzunehmen, ist es die Verantwortung aller Leitungspersonen in solchen kirchlichen Einrichtungen, aktiv darauf hinzuwirken, dass alle Bewohner/innen, Mitglieder, Betreuten… immer wieder die interne „Blase“ verlassen. Die Kontrolle dieser Leitungspflicht wiederum kann nicht intern geregelt werden, sondern muss von außen, im Auftrag des Ortsordinarius geschehen. Dazu müssen die Ortsordinarien bzw. die von ihnen beauftragten Personen Zugang zu den Institutionen und unter Diskretion auch zu den Mitgliedern bekommen.

Wahrscheinlich sind Personen besonders gefährdet, die eine tiefe Sehnsucht nach einem intensiven geistlichen Leben in der Nachfolge Jesu verspüren und sich dafür einer Gemeinschaft anschließen. Entgegen der Praxis auch einiger klassischen Orden, sollten diese Menschen deshalb zu jeder Zeit, auch im Noviziat, unbedingt mindestens eine/n geistliche Gesprächspartner/in, eine/n geistliche/n Begleiterin, einen Beichtpriester… haben (dürfen/müssen), der/die nicht mit der Gemeinschaft verbunden ist, der sie beitreten bzw. angehören. Auch sollten sie immer wieder Gottesdienste besuchen, die von Menschen außerhalb der eigenen Gemeinschaft gefeiert werden. Exerzitien, geistliche Einkehrtage, spirituelle Weiterbildung bei anderen Trägern und Gemeinschaften müssen ebenfalls in überschaubaren Abständen immer wieder möglich sein.

Eine Daueraufgabe für alle kirchliche Katechese, Predigt, für Religionsunterricht, kirchliche Presse… ist es, Menschen zu einem Mehr an Selbstbestimmung, Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit hin zu fördern. Das schließt für den hier gegebenen Kontext ausdrücklich ein, dass Menschen die Möglichkeiten an die Hand geben werden, sich ein eigenes religiöses Urteil zu bilden. Kritikfähigkeit ist ein wesentlicher Baustein zu geistlicher Mündigkeit und damit eines der wichtigsten „Gegengifte“ gegen toxische Spiritualitäten und spirituellen Machtmissbrauch. Nicht Konformität und fraglose Zustimmung zu tradierten Vorgaben sind das Erziehungsziel kirchlichen Handelns, sondern persönliche Aneignung, intensives Durcharbeiten, eigene Position und reflektierte, rational-diskursiv verantwortbare Überzeugungen. Auf diese Weise wird der Möglichkeit der spirituellen Manipulation, die in der Regel der spiritualisierten Gewalt vorausgeht, ein entscheidender Riegel vorgeschoben.

Dass es sich dabei um eine Daueraufgabe und Grundhaltung handelt, erklärt schon, dass diese Ausrichtung absolut unerlässlich ist, aber keine schnellen präventiven Ergebnisse erbringen wird. Nur die Kombination aus Beschwerdewegen, Qualitätsstandards, kommunikativen Öffnungen und einer auf Selbstbestimmung ausgerichteten Verkündigung sorgen dafür, dass der Schaden bei den potentiell Betroffenen hoffentlich begrenzt werden kann.

3.3. Entdeckungswahrscheinlichkeit

Kurz-, mittelfristige und dauerhafte Investitionen in die Prävention bei möglicherweise tatgeneigten Personen und zugunsten potentiell gefährdeter Menschen sind unbedingt erforderlich. Schnelle Verbesserungen können aber vor allem durch den Faktor „Entdeckungswahrscheinlichkeit“ erreicht werden. So können relativ unaufwändig „Inseln der Macht“ aufgelöst und scheinbar nichtkritisierbare Vorgesetzte oder Einflusspersonen identifiziert werden.

Der erste Schritt ist es, für alle möglichen Betroffenen leicht erreichbare Ansprechpersonen zu benennen. Anders als im Kontext sexualisierter Gewalt braucht es hier jedoch theologisch geschulte Personen mit gutem Zugang zu unterschiedlichen geistlichen Traditionen. Diese Ansprechpersonen benötigen eine spezifische Schulung und Sensibilisierung für das Phänomen des spirituellen Machtmissbrauchs und müssen unkompliziert und rasch jederzeit Zugang zum Ortsordinarius haben. Wo spiritualisierte Gewalt vorkommt, ist häufig auch die Gewalt gegen mögliche Aufklärer/innen massiv. Die Ansprechpersonen brauchen deshalb den unverbrüchlichen Rückhalt des Ortsordinarius.

Die Arbeit dieser Ansprechpersonen ist umso effizienter, je klarer und transparenter die Beschwerdewege beschrieben und je eindeutiger die Verfahren festgelegt sind, mit denen auf Hinweise spiritualisierter Gewalt reagiert wird. Hier ist in Analogie zur Vorgehensweise bei Hinweisen auf sexualisierte Gewalt ein Reaktionsplan festzulegen, der eine je angemessene Abfolge von Interventionen und Sanktionen vorbereitet.

Überprüfte Verpflichtung zur Selbstreflexion, regelmäßiges Fremd-Feedback und Dienstaufsicht sind als weitere Maßnahmen bereits im Abschnitt über die handelnden Personen beschrieben. Sie tragen ebenfalls sehr unmittelbar dazu bei, dass es weniger Bereiche gibt, die der öffentlichen Wahrnehmung entzogen sind und in denen deshalb „Inseln der Macht“ entstehen können. Sie machen die Spielräume für spirituellen Machtmissbrauch enger und treiben die Entdeckungswahrscheinlichkeit massiv nach oben.

Mittelfristig hilft es, ähnlich wie zur Prävention sexualisierter Gewalt, auf Sensibilisierung großer Personenkreise in der Kirche zu setzen. Schulungen, die die Aufmerksamkeit für das Phänomen spirituellen Machtmissbrauchs schärfen und regionale Schutzkonzepte sind hier hoch wirksam, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass Ansätze spiritualisierter Gewalt schnell bekannt werden und damit effektiv gegengesteuert werden kann.

Aufwändiger einzurichten, aber dennoch keineswegs zu vernachlässigen, sind unabhängige Visitationen und Umfeldbefragungen. Bei Visitationen ist darauf zu achten, dass alle Mitglieder einer Gemeinschaft oder Bewohner/innen eines Heimes… unter strikter Diskretion gehört werden. Dann, wenn der Verdacht umfassender und längeranhaltender spirituelle Manipulation nicht von der Hand zu weisen ist, ist vielleicht auch eine „eingebettete“ Visitation notwendig, bei der der/die Visitator/in eine Zeit lang an allen Lebensvollzügen einer Gemeinschaft oder Institution teilnimmt und sich so selbst einen „Binnen“-Eindruck von der Lehre und der spirituellen Praxis verschafft. Ist der Ortsordinarius selbst Mitglied einer zu visitierenden Gemeinschaft, oder steht er in direkter Verantwortung für die handelnden Personen oder die Institution, wie beispielsweise für das diözesane Priesterseminar, so ist die Visitation durch eine/n Beauftragten eines benachbarten oder übergeordneten Ordinarius durchzuführen.

Spiritualisierter Machtmissbrauch stellt Kirche vor massive Herausforderungen. Kirche wird durch den Missbrauch in ihrem zentralen Selbstverständnis und in ihrer Verkündigung eines menschenfreundlichen Gottes in Frage gestellt, sogar sabotiert. Vor allem aber nehmen Menschen Schaden – an ihrer Seele und bis in ihren Leib hinein. Entschiedenes, gegensteuerndes Handeln ist unerlässlich.

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