Wie geht Seelsorge? Der folgende Essay plädiert dafür, Seelsorge “theopoietisch” zu verstehen: Sie hilft, die Arbeit Gottes im Leben aufzufinden – und ihn manchmal auch beim Namen zu nennen. Der Text ist zuerst in “Geist und Leben – 2/2018” erschienen.

Gott arbeitet!

Text: Peter Hundertmark/Martina Patenge – Photo: Jenco215/pixabay.com

Seelsorge hat einen guten Klang!  Seelsorge – im Sinne von Einzelseelsorge –  wird gerne in Anspruch genommen: im Krankenhaus, im Gefängnis, am Telefon, online, in Trauersituationen… Erwartet wird geduldiges, mitfühlendes Hören. Erwartet wird spürbare emotionale Solidarität. Erwartet wird ein Beitrag, wie die eigene Existenz in und nach einem Schicksalsschlag, in oder nach einer Krise, in oder nach einem biographischen Übergang neu „zusammengesetzt“, als konsistent erlebt und erzählt werden kann. „Seelsorge“ wird teilweise explizit als religiöses Angebot gesucht – und teilweise unhinterfragt einfach als die nächstbeste Hilfe in Anspruch genommen.

Hilfe, Sinnfindung und Wiederherstellung der Identität kann jedoch auf unterschiedlicher Basis geleistet werden – therapeutisch, sozialarbeiterisch, esoterisch, philosophisch, und eben auch seelsorgerisch… Die verschiedenen Ansätze sind dabei nicht beliebig austauschbar, sondern greifen schwierige Lebenssituationen von unterschiedlichen Seiten und Fachkenntnissen auf.

Was bietet die Seelsorge, was die anderen Professionen nicht bieten? Seelsorge unterstützt Hilfesuchende auf dem Weg der Krisenbewältigung und Wiederherstellung ihrer Identität. Sie tut es ausdrücklich religiös. Aber sie ist nicht katechetisch, ist keine Hinführung in Glaube und Kirche. Wie kann spirituell profilierte, theologisch verantwortete, religiös ausdrückliche Seelsorge geschehen, ohne dass die Gesprächspartner(innen) die christliche Symbolwelt vorher kennen und akzeptieren müssen?

Hierzu soll das Konzept einer theopoietischen Seelsorge (ein Kunstwort, abgeleitet von den griechischen Worten für „Gott“ und  für „schaffen/arbeiten“) entwickelt werden, in dem die Erfahrungen und Ansätze der geistlichen Begleitung für die allgemeine Seelsorge umgesetzt werden. Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildet die Erfahrung: Gott „arbeitet“– und dieses Arbeiten Gottes ist die Grundlage jeder menschlichen Existenz.

Wir sind es vielleicht nicht gewohnt, so zu denken oder zu empfinden, gar Gottes Wirken im Leben jedes Einzelnen als „arbeiten“ zu bezeichnen.  Aber das eigene Leben so zu deuten, dass hier Gott längst „arbeitet“, ist ein heilsamer, vielleicht auch überraschender Schritt im Verstehen des eigenen Lebens und seiner Sinnzusammenhänge. Dass in dem Kunstwort „theopoietisch“ das Adjektiv „poetisch“ anklingt, ist eher zufällig – und erweitert gleichzeitig sehr charmant die Gedanken zu einem neuen Selbstverständnis von Seelsorge: Schließlich soll hier eine religionskreative, anschlussfähige, zugleich im Augenblick verdichtete, also durchaus auch poetische Sprechform der Seelsorge vorgeschlagen werden.

 

Gott ist am Werk

Ausgangspunkt für die theopioetischen Überlegungen ist der Vers in Johannes 5,17: „Jesus aber entgegnete ihnen: Mein Vater ist noch immer am Werk, und auch ich bin am Werk.” Dieser Vers wird üblicherweise im Kontext einer Schöpfungstheologie ausgelegt und stützt dort die Theorie der “Creatio continua” – Gott hat die Schöpfung nicht nur am Anfang konzipiert und auf den Weg gebracht, sondern erhält sie immer weiter. Er erschafft und erneuert sie ständig. Für die Seelsorge ist der Vers in einen weiteren Bedeutungskosmos zu setzen und von daher neu zu bedenken. Denn Gott wirkt gleichzeitig in die Erlebnisse, inneren Verarbeitungsvorgänge, Reifungsprozesse… in die Personwerdung und Selbstfindung des Menschen hinein. Weil Gott arbeitet, wird gelingendes Leben möglich.

Hinweise für diese Deutung von Joh 5,17 gibt das Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola. In einer der geistlichen Übungen fordert er die Übenden auf, sie sollen „erwägen, wie Gott sich anstrengt und müht um meinetwillen in allen geschaffenen Dingen auf der Welt, das heißt, er verhält sich wie einer, der mühselige Arbeit verrichtet.“ (EB 236)[1]

Besonders auffallend ist hier die Formulierung „um meinetwillen“, mit der Ignatius das „pro me“ bzw. das „propter nos“ des Glaubensbekenntnisses aufgreift. Ignatius akzentuiert dabei zum einen den aktiven Part Gottes: Identität, Freiheit, Mündigkeit und gelingendes Leben sowie Erlösung geschehen nicht einfach, sie sind nicht „nur“ Produkt menschlicher Selbstoptimierungsbestrebungen. Sie entspringen vielmehr schon dem Wollen und absichtsvollen Handeln Gottes. Ignatius erlebt und versteht dies so, dass Gott jeweils auf den Einzelnen und dessen Entfaltung hin arbeitet. Es geschieht nicht nur etwas für die Menschheitsgeschichte im Ganzen, sondern Gott müht sich konkret und aktuell für mich. Er müht sich für jede und jeden je individuell und zu jedem Moment des Lebens. Schöpfungs- und Erlösungshandeln Gottes ereignen sich gleichzeitig und zu jedem Zeitpunkt der Geschichte.

 

Gott arbeitet auf drei Ebenen

Ignatius geht in seiner integralen Sicht des Arbeitens Gottes sogar noch einen Schritt weiter. Als weiteres Element der „Mühe“ Gottes für jeden Menschen fügt er die Charismen und Gaben des Heiligen Geistes  hinzu. (EB 234) Folgt man dieser Intuition des Ignatius, so klingen in dem Satz „Gott arbeitet“ drei Dimensionen mit: Gott handelt in Schöpfung, Erlösung und Geistsendung. Auf den einzelnen Menschen hin gesagt bedeutet das: Gott handelt für den Körper und seine Bedürfnisse;  er handelt für die Seele, für Identität und gelingendes Leben mit allen seinen Bezügen, Beziehungen, Fähigkeiten, Hoffnungen, Erfahrungen und Widerfahrnissen; und er handelt für den menschlichen Geist als Ort der Geistbegabung, der Kreativität und des Sehnens über diese begrenzte, endliche Welt hinaus. Gott arbeitet auf diesen drei Ebenen für und mit jedem Menschen, je einzeln und zu jeder Zeit. Diese Arbeit Gottes ist existentiell, sie ereignet sich im Jetzt des Lebens, in dem ein Mensch sich um ein gutes Leben müht.

An dieser Stelle lohnt es sich, inne zu halten und die ganze Wucht dieser Überlegungen bei sich persönlich ankommen zu lassen: Gott arbeitet für mich. Jetzt. Gott arbeitet für meinen Körper, für meine Identität und für mein in Ewigkeit gelingendes Leben. Aber spätestens jetzt wird auch die gesamte Dimension erkennbar: Denn Gott arbeitet natürlich auch für meine Nächsten, meine Fernsten und auch für die, die so ganz anders sind. Er arbeitet sogar für meine Feinde. Auch jetzt. Und er lässt sich bei seiner Arbeit für uns nicht von uns beeindrucken. Er arbeitet unabhängig davon, ob wir religiös sind, gar einer bestimmten Religion oder Konfession angehören, ob wir in einem moralischen Sinn gute oder schlechte Menschen sind. „… er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Mt 5,45) Skandalöser noch: Gott arbeitet besonders und zuerst für die Problematischen: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.“ (Mt 9,12f) Gott arbeitet für die Frommen und für die Agnostiker, für Performer und Hedonisten, für Erfahrene und Naive. Gott arbeitet für jede und jeden, ob er/sie darum weiß oder nicht, damit einverstanden ist oder nicht. Für den Glaubenden birgt alles – Materie, Leben, jeder Ausdruck menschlichen Verstandes – die Möglichkeit, darin eine Spur dieses Wirkens Gottes zu entdecken. Und für die Nicht-Glaubenden „funktioniert“ es trotzdem.

Indem er arbeitet, offenbart sich Gott. Er zeigt sich, indem das Leben seinen Gang geht: zu jeder Stunde und alle Tage. Er zeigt sich, ob er erkannt wird, oder nicht. Aber Gott hofft: er schafft den Menschen um eines Geschöpfes willen, das gottfähig ist; ein Geschöpf, das die Selbstgabe Gottes verstehen und darauf antworten kann. Wie Gottes Arbeit im individuellen Leben wirkt, muss dabei prinzipiell „lesbar“, verstehbar und benennbar sein. Gottes Zuwendung machte keinen Sinn, wenn sie für den Menschen grundsätzlich nicht zu verstehen wäre. Offenbarung zeigt das Geheimnis Gottes – in seinen Wirkungen. „Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt, aber ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich im Namen meines Vaters vollbringe, legen Zeugnis für mich ab.“ (Joh 10,25)

 

Offenbarung für Nicht-Religiöse?

An dieser Stelle entsteht allerdings eine Unsicherheit. Was ist dem säkularen Verstehen zugänglich? Kann die Selbstoffenbarung Gottes wahrgenommen werden, wenn Menschen nicht auf religiöse Erfahrung und theologische Vorstellungen des Christentums zurückgreifen können oder wollen? Hier könnte die Konstitution „Dei filius“ des 1. Vatikanums weiterhelfen. Sie setzt in Abschnitt 23[2] eine wichtige Unterscheidung: Sie zitiert gleichzeitig Röm 1,20 – „Gott wird aus der Schöpfung erkannt“ –  und 1Kor 2,7-11 – „Gott kann nur durch die Gabe des Heiligen Geistes erkannt werden“ . Versucht man dieses Doppelzitat für den hier gegebenen Kontext auszulegen, so ergibt sich: Die spezifische Gestalt der christlichen Offenbarung lässt sich weder einfach aus der Natur noch aus dem menschlichen Denken und Empfinden allein ableiten. Diese spezifische Gestalt erfordert ein „mehr“, um sie überhaupt erkennen zu können:  sie braucht die Wortoffenbarung der Heiligen Schrift und vor allem die Kenntnis des menschgewordenen Wortes Gottes, Jesus Christus.

Dem „natürlichen“ Verstehen ist aber durchaus der ganze Bereich der Ethik zugänglich. Jeder Mensch sollte erkennen und unterscheiden können, ob Erlebnisse, Erkenntnisse, Kräfte oder Entdeckungen stimmig, lebensförderlich, zukunftseröffnend wirken oder im Gegenteil zerstörerisch, beengend und lebensbeschädigend sind. In  der Linie des 1. Vatikanums kann also festgehalten werden, dass Gott in jedem Leben und in allen Situationen wirkt und auf Erlösung hin arbeitet. Die Wirkungen dieses Mühens Gottes können mit der säkularen Vernunft und Emotionalität unterschieden und damit erkannt werden. Es ist aber nicht möglich, dadurch Einsicht in den christlichen Glauben und die biblischen Gottesvorstellungen zu gewinnen. Diese Einsicht entsteht erst durch die Gabe des Geistes im deutenden Wort.

Die Selbstoffenbarung Gottes im eigenen Leben und für die eigene Identität kann also auf einer ersten Ebene „gelesen“ und verstanden werden, ohne dieses Verstehen mit biblisch-christlichen Vokabeln zu kodieren. Damit ist schon Ende des 19. Jahrhunderts dem postmodernen Menschen ein Weg der Gotteserfahrung und Gottesbegegnung frei geräumt, der auch für die Seelsorge völlig neue Handlungsspielräume eröffnet.

Denn während vor der Aufklärung nahezu alle Menschen in Europa auf den christlichen Kosmos aus Worten, Bildern, inneren Vorstellungen und Geboten zurückgriffen, um sich selbst und das eigene Leben zu verstehen und zu deuten, hat sich spätestens mit der Postmoderne eine Trennung eingestellt, die nicht mehr umkehrbar zu sein scheint. Die modernen Menschen, Agnostiker ebenso wie Religiöse, begreifen sich und deuten ihr Erleben und Handeln zuerst und vollständig ohne Gott. Sie verwenden  säkulare Kategorien und greifen höchstens zusätzlich und quasi als „Mehrwert“ auch auf spezifisch christliche, gar theologische Symbolwelten zurück. Sie erzählen sich selbst und ihr Leben, ihre Existenz und Identität „etsi Deus non daretur“ („als wenn es Gott nicht geben würde“).

Da deshalb immer weniger Menschen im Kontakt mit Seelsorger/innen oder engagierten Christ/innen explizit nach dem „Grund ihrer Hoffnung“  (1 Petr 3,15)  fragten, kam es faktisch zu einer Selbst- Säkularisierung seelsorgerlichen Handelns. Weiter verstärkt durch die zweifellos notwendige Integration psychologischer Erkenntnisse und Interventionsformen wurde seelsorgerliches Sprechen in den letzten Jahrzehnten immer zurückhaltender gegenüber biblisch-christlichen Deutungen.

Religiös sprachlose Menschen treffen also im schlechtesten Fall auf Seelsorger/innen, die darin ungeübt sind, anspruchsvoll-verstehbare religiöse Sprache je neu kreativ aus der jeweiligen Situation heraus zu entwickeln und so das „Wort Gottes“ frisch, persönlich und poetisch zu sagen. Es ist fast paradox: Die Menschen machen Erfahrungen mit Gott, der für sie arbeitet, können dessen Wirkungen beschreiben, begegnen zugewandten Seelsorger/innen – sie können aber dennoch ihr Erleben nicht auf Gott hin deuten.

 

Eine theopoietische Seelsorge

Der theopioetische Ansatz setzt ganz bei der Lebensrelevanz an und verweist auf das Geheimnis Gottes, der sich in jedem Leben offenbart. Er versucht, Gottes Wirken in der Lebensgeschichte des je einzelnen Menschen aufzufinden und zu benennen und unterstützt so das Bemühen eines Menschen, sich selbst zu verstehen.

Jeder Mensch erzählt sein Leben auf eigene Weise. Er schafft sich seine eigene Lebenserzählung – doch diese bleibt provisorisch, experimentell, nur im Jetzt gültig. Ein solcher Blick auf das eigene Leben ist keine objektive Chronik, Beschreibung, auch kein Tatsachenbericht, sondern immer gedeutete Erzählung, die aus einem nur jetzt erkennbaren oder nur jetzt zur Verfügung stehenden Deutungshorizont entstehen kann. Je nach Rolle, Situation, vermuteter Erwartungshaltung der Hörer, je nach Alter, Denk- und Deutegewohnheiten können die Erzählungen des(der) gleichen Sprechers(in) über sein(ihr) Leben stark variieren.

Im Freundeskreis erzählt jemand sein Leben anders als im Kontakt mit den eigenen Eltern oder Kindern. Zudem entwickeln sich die Erzählungen des eigenen Lebens ständig weiter, integrieren neue Erlebnisse. Frühere Ereignisse können als „bedeutungslos“ ausgemustert oder im Gegenteil neu bewertet werden. So unterscheiden sich zum Beispiel die Erzählungen – bevor und nachdem Menschen eine Partnerschaft eingegangen sind. Innerhalb einer neuen Partnerschaft erzählen sie ihr Leben anders:  Manche frühere Beziehung verschwindet vielleicht aus der Lebenserzählung oder erfährt einen anderen Stellenwert.

 

Gottes Arbeit wahrnehmen

Weil Gott immer für den Menschen arbeitet, werden in den Deutungen des eigenen Lebens unablässig die Wirkungen der Arbeit Gottes abgespeichert. Dies geschieht unabhängig davon, ob die Autor/innen der Lebensgeschichten auf religiöse Deutemuster zurückgreifen können und wollen, ob sie christliches Vokabular verwenden, ob sie Gott als real-mögliche Hypothese akzeptieren, sich gar als gläubige Menschen begreifen oder nicht.

In der theopoietische Sichtweise greift der(die) Seelsorger(in) die Wirkungen Gottes in der Lebensgeschichte auf und eröffnet dadurch eine neue, umfassende Perspektive: Hier entwickelt sich eine Perspektive für eine christlich-profilierte, zugleich anthropozentrische und spirituelle Seelsorge auch mit agnostischen, entchristlichten oder einfach „religiös-unmusikalischen“ Menschen. Denn in der theopoietischen Seelsorge geschieht nur das, was in allen Alltagsgesprächen ständig vorkommt: zu einer bestehenden Lebensdeutung wird im Gespräch mit dem Seelsorger/der Seelsorgerin eine weitere Deutung hinzugefügt und eine Beziehung – in diesem Fall zwischen Lebenserzählung und christlicher Verkündigung –  geschaffen. Indem so zwei verschiedene Elemente miteinander in Beziehung treten, entsteht ein neuer Raum der Bedeutung.

Es kommt ohne weiteres Zutun der Gesprächspartner(innen) zu einem religionskreativen Geschehen: Die innere Spannung der beiden Erzählungen von Leben und Evangelium lässt das Angebot einer neuen, anderen Deutungs- bzw. Sinnperspektive für das Leben des(der) Gesprächspartner(in) entstehen. Denn nun gerät eine bisher säkulare, eventuell agnostische Lebenserzählung in Spannung zu einer fremden, christlich profilierten Deutung. Der Seelsorger (die Seelsorgerin) bietet das Mühen und Wirken Gottes als mögliche Deutung in der Lebensgeschichte an und legt es zu den bisherigen Deutungen dazu. Unvermeidlich verändert sich die Situation durch diese „Zugabe“. Der betroffene Mensch kann die theopoietische Deutung der Erfahrungen annehmen oder ablehnen. Aber er wird sie, eine wechselseitig wertschätzende Gesprächsatmosphäre vorausgesetzt, kaum ignorieren. In diesem einen Moment bilden die aktuelle Lebenserzählung und die christliche Deutung gemeinsam die Basis, auf der gesprochen wird. Im Idealfall „glauben“ beide Gesprächspartner(innen) in diesem Moment – und vielleicht nur für diesen Moment – an das konkrete, lebenspraktische, wohlwollende Wirken Gottes in den erzählten Begebenheiten. Sie glauben aber nicht einfach die christliche Botschaft, wie sie kodifiziert wurde, sondern sie glauben die personal-aktuelle Theologie dieser konkreten Lebensgeschichte: Gottes Wort und Menschenwort ineinander verwoben zu etwas Neuem, Schwebendem, jetzt lebendig Pulsierendem noch nie Gesagtem, nie Gehörtem.

 

Kontemplativ und zeigend

Seelsorge in diesem theopoietischen Sinn muss sich dabei vorbehaltlos auf die jeweilige Lebenserzählung einlassen. Diese persönliche Deutung des Lebens und nur sie der Ort, an dem die konkreten Wirkungen von Gottes Arbeit für diesen Menschen zu erkennen sind. Gott ist ständig am Werk und hinterlässt dabei unablässig Spuren in der Lebensgeschichte. Die theopoietische Seelsorge pendelt deshalb immer zwischen zwei grundlegenden Haltungen: Sie ist abwechselnd „kontemplativ“ und „deiktisch“. Kontemplativ ist sie im Sinne des achtsamen und sorgsamen Hinschauens auf die Präsenz und das Mühen Gottes. Gemeinsam schauen die Gesprächspartner(innen) nach Spuren von Gottes Wirken in der Lebensgeschichte. Gemeinsam suchen sie Gottes Gegenwart und versuchen, seine Selbstoffenbarung von anderen Wirkungen zu unterscheiden. In dieser kontemplativen Phase „steigt“ der(die) Seelsorger(in) so unvoreingenommen wie möglich „in“ die Lebenserzählung „hinein“ und sucht sie zusammen mit Hilfe des(der) Gesprächspartner(in) zu erkunden. Zusammen wenden sie sich Gottes Gegenwart und Wirken im konkreten Erleben und Handeln zu. Der(die) Seelsorger(in) verzichtet in diesem ersten Schritt auf jegliche Deutungen oder Bewertungen. Es geht ganz und nur darum, den(die) Gesprächspartner(in) aus ihrer eigenen Erzählung heraus zu verstehen.

Dieses „kontemplative“ Handeln des(der) Seelsorger(in) ist Bedingung dafür, von „Seelsorge“ sprechen zu können – im Unterschied zu anderen Formen der Lebensbegleitung. Gott muss in diesem ersten Schritt nicht ausdrücklich benannt werden. Seelsorge wird nicht durch religiöse Vokabeln zur Seelsorge. Entscheidend ist die Haltung, die auf Gottes Arbeiten hin spürt.

Damit ist Seelsorge schon wirklich Seelsorge, aber sie schöpft noch nicht alles aus, was Seelsorge kann. Je nach Situation – die Theologen nennen das Kairos  – je nachdem ob der(die) Gesprächspartner(in) offen genug ist und ob der(die) Seelsorger(in) einen Zugang findet, erfolgt ein zweiter Schritt mit einer anderen, ergänzenden Haltung: Der(die) theopoietische Seelsorger(in) beginnt den Gott der biblischen Tradition nun mit Worten zu nennen. Er(sie) zeigt auf Gott in seinen Wirkungen und gibt Gott im erzählten alltäglichen Geschehen Stimme und Wort. Dies geschieht „hinweisend“: Gott wird aus einer vorsichtigen Distanz heraus gezeigt, quasi vom Rand her. Das aus dem Griechischen gebildete Wort „deiktisch“ – „zeigend“, abgeleitet von „Deiktis“=Zeigefinger – soll diesen tastenden Versuch beschreiben, Gott zu benennen.

Deiktisches Handeln in der Seelsorge „wächst“ immer aus dem Gespräch heraus. Es versucht verstehbar in Worte zu fassen, was zuvor betrachtet, wertgeschätzt und erkannt wurde: dass Gott arbeitet – in dieser speziellen Situation für diesen Menschen. Der(die) Seelsorger(in) macht sich dabei mit der eigenen spirituellen Erfahrung und religiösen Prägung sichtbar und „zeigt“ auf das hin, was er(sie) in seinem(ihren) Deutesystem „Selbstoffenbarung Gottes“ nennt.

Dieses deiktische, Gott zeigende, seelsorgerliche Handeln ist dabei jedes Mal Experiment – ein Experiment unter Risiko. Denn jedes dieser  Gott-Worte gilt nur für diese Situation und nur, soweit der(die) Gesprächspartner(in) mitgehen kann. Das deiktische Nennen Gottes ist nicht in einem alltagssprachlichen Sinn „Verkündigung“. Deiktisch zu sprechen bleibt Seelsorge. Es ist ein weiteres religionskreatives Geschehen: Im Moment entsteht gemeinsam und aus dem Gespräch heraus ein profilierter Glaubens-Vorschlag. Dabei kommt es einerseits unbedingt darauf an, formelhaft-theologische Redeweise zu vermeiden und unter gar keinen Umständen „fertige“ religiöse Deutungen auf die Erlebnisse „aufzukleben“. Andererseits ist die deiktische Rede dem biblisch-christlichen Gott und damit Tradition und Theologie verpflichtet. Diese Spannung zu halten ist eine eigene seelsorgerische Kunst.

Die Chance liegt in der neuen Verknüpfung: Der(die) theopoietische Seelsorger(in) spricht hier und jetzt das existentielle Wort Gottes aus, indem er(sie) die in der Lebensgeschichte beobachteten Wirkungen der Arbeit Gottes benennt. Eine solche Seelsorge handelt in einem übertragenen Sinne „sakramental“ – entstehen Sakramente doch aus der Kombination eines materiellen Zeichens mit dem deutenden Wort Gottes (z.B. Hostie und Einsetzungsworte…). Ähnlich fügt eine theopoietische Seelsorge in ihrem deiktischen Handeln der erfahrenen Wirkung Gottes in der Lebensgeschichte das deutende Wort Gottes hinzu.

 

Anforderungen an den Seelsorger/die Seelsorgerin

In der theopoietischen Seelsorge sind die Seelsorger nicht die „Fachleute für Gott“, die aus der Fülle der eigenen Gottgewissheit und der Beherrschung eines tradierten religiösen Zeichenkodex Anderen etwas geben. Sie sind auch nicht Geburtshelfer(in), die hervorzubringen helfen, was schon ganz im Anderen angelegt ist. Das Bildwort von der Collage kann helfen, die Rolle der theopoietischen Seelsorger(innen) zu beschreiben: Collage-Künstler(innen) fügen verschiedenartige, teils vorgefundene, teils neu hergestellte Elemente zusammen. Aus dem vorher Unverbundenen wird auf einmal ein beziehungsreiches Ganzes. Theoipoetische Seelsorger(innen) arbeiten in der Weise der Collage: sie fügen kreativ das „fremde“, Gott-zeigende Element dem erzählten Leben ihrer(ihres) Gesprächspartner(in) hinzu. Wie in einer Collage kann aus der Wechselwirkung von Lebenserzählung, neuem Verstehen und Deutung ein anderer Sinn entstehen. Dieser ist einmalig, unverfügbar, kostbar. Indem sie auf eine Lebenserzählung trifft, macht die Erzählung des Evangeliums Sinn – oder auch nicht.

 

Gottes Wort ist mehr!

Probehalber einer Lebenserzählung in einer seelsorgerlichen Collage ein Element des Wortes Gottes hinzuzufügen, ist jedoch nie eine einfache Bestätigung oder lediglich „interessante“ Erweiterung des erzählten Selbstbildes. Das wäre zu wenig. Das Wort Gottes ist mehr. Es entwickelt aus sich heraus eine Kraft, die zu einem heilen, heil werdenden, letztlich heilig werdenden Leben drängt. Diese Bewegung in einem Leben anzustoßen ist die besondere Gnade der Seelsorge.

Theopoietische Seelsorger(innen) brauchen dafür, gerade wenn sie mit religiös sprachlosen Menschen im Gespräch sind, eine breit fundierte Kenntnis der Wort-Offenbarung in der Heiligen Schrift, und Wissen über die geistlichen und theologischen Traditionen der Kirche. Aus dieser Kenntnis und ihrer eigenen glaubenden Erfahrung schöpfen sie das „Material“, um die Lebenserzählung ihres(ihrer) Gesprächspartner(in) mit Glaubenselementen in Kontakt zu bringen. Sie benötigen dazu mehr als gute theologische Kenntnis über Gott. Sie brauchen persönliche Erfahrung mit seiner wirksamen Gegenwart und eine lebendige Gottesbeziehung. Ihr eigenes geistliches Leben, ihr eigenes Erleben Gottes ist eine wesentliche Ressource für eine menschen- und gottfreundliche Seelsorge.


Kreative Sprache

Dabei ist die Sprache entscheidend, in der das Wort Gottes gesagt wird. Seelsorger(innen) sollten sich nahe an den Erfahrungen und an der Lebenserzählung der Menschen orientieren, situativ und kreativ versuchen, das Evangelium jetzt zu sagen, auf Gottes Wirken in diesem Leben hinzuzeigen. Dann kann eine mitmenschlich-geistliche Sprache gelingen. Diese Sprache ist augenblicksgeboren. Sie ist eine der Situation, dem Gegenüber und seiner Sprachwelt angemessene Neuschöpfung. Sie ist kardiognostisch – herzwissend, mit dem Herz wissend, um das Herz des anderen wissend. Mit dem Herzen wissend und spürend beginnt jede gelingende seelsorgerliche Begegnung. Theopoietische Sprache ist zudem körpernah, bewohnbar, erfahrungssatt, himmelsschwanger, erdenschwer, realitätsmutig und freiatmend…

Eine solche kreative Sprache entwickelt sich durch die eigene Gottsuche in Gebet und Reflexion des(der) Seelsorger(innen), die Worte suchen für ein kaum beschreibbares Erleben. Sie entsteht im Echo-Raum der eigenen Innerlichkeit, ist das Ergebnis langjähriger Gott-Resonanz. Sie kann nicht vorbereitet werden, sonst wirkt sie rasch auswendig gelernt, formelhaft und „abgestanden“. Im besten Fall sind auch die Seelsorger/innen von den neuen Worten, die sich im Dialog für die Gegenwart und das Wirken Gottes finden, selbst überrascht und innerlich angerührt. Vielleicht dürfen sie erleben, dass in Beiden eine innere Resonanz zum Klingen kommt, in der sie sich stimmig, kraftvoll und getröstet erfahren. Beide am Gespräch Beteiligten können für ihre Lebensdeutung Wesentliches hinzu gewinnen, wenn Evangelium und Lebenserzählung so miteinander in Beziehung treten. Denn wo das Wort Gottes verstehbar und anschlussfähig in ein Leben hinein gesagt wird, ist es wie ein keimfähiger Samen, der in die Erde gelegt wird. Es beginnt sofort mit seiner Arbeit. Gott arbeitet.

 

[1] Ignatius von Loyola, Die Exerzitien, übertragen von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln 8/1983, 236. Künftig abgekürzt EB.

[2][2] Denzinger-Schönmetzer, Enchiridion Symbolorum (editio XXXIV). Freiburg i. Br. 1965, S. 586

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