Erfahrung macht den Unterschied. Nicht nur der Christ der Zukunft ist ein Mystiker, einer, der etwas erfahren hat. Wie aber wird erfahren, was nicht erfahren werden kann? Welche Erlebnisse schwingen zu Gott hin? Und welche Hilfe kann Geistliche Begleitung geben?
Gott erfahren
Text: Peter Hundertmark – Photo: gr8effect/pixabay.com
Glaubende aller Religionen und Zeiten bestehen darauf, dass Gott erfahrbar ist. Alle Religionen berichten von großen „mystischen“ Erfahrungen. Viele lehren aber auch ganz alltägliche Wege der Gotteserfahrung. Sie erzählen wortreich von Gotteserfahrungen – obwohl alle wissen, dass Gott nicht sichtbar, greifbar, hörbar ist. Niemand hat ihn je gesehen. Er ist den äußeren Sinnen der Menschen entzogen. Gott ist nicht Teil dieser Welt und ihrer Dinge.
Eine Vorsicht vorweg
Gott ist deshalb immer nur vermittelt erfahrbar. Zwei Elemente müssen dabei zusammenkommen: ein inneres Erleben, mit dem Menschen einen Impuls verarbeiten und eine Deutung. Dabei kann das gleiche innere Erleben ganz unterschiedlich gedeutet werden. Durch die unterschiedliche Deutungen entstehen dann auch unterschiedliche Erfahrungen. Innerhalb des Deutungssystems sind sie folgerichtig und ergeben Sinn. Außerhalb sind sie durch nichts zu beweisen.
Erfahrungen weisen sich wiederum nur vermittelt durch die Früchte aus, die sie im Leben eines Menschen, in seinem Weltverstehen, seinen Haltungen und Handlungen bewirken.
Das meiste innere Erleben wird jedoch gar nicht gedeutet. Es entsteht und vergeht unmittelbar wieder und dringt nicht bis zur Dichte einer Erfahrung vor. Benannte Gotteserfahrungen im inneren Erleben sind deshalb auch eine Folge trainierter Selbstwahrnehmung und eingeübter Deutung. Erfahren wird, was aus Erfahrung erwartet werden kann und deshalb gesucht wird.
Dies sei zur Vorsicht gesagt, wenn im Weiteren von Gotteserfahrungen im inneren Erleben gesprochen wird.
Wie aber erleben Menschen Gott?
Ein starker Zugang ist das Empfinden von Hilfe: Gott, der mich bewahrt, mich unterstützt, mir einen lebensstärkenden Umgang mit schweren Situationen ermöglicht, der die Hoffnung in mir wach hält. Auf der gleichen Linie liegt eine der zentralen Erfahrungen, die die Bibel dem Wirken Gottes zuschreibt: Befreiung – Befreiung aus inneren und äußeren Zwängen, Freiwerden von eigenen Begrenzungen, frei werden von Angst. Menschen erleben Gottes Wirken in sich als innere Wandlung, Reifung und Entwicklung, und auch als die Fähigkeit, Scheitern, Krankheit und Altern zu integrieren oder nicht integrierbare Spannungen auszuhalten. Sie erleben eine Kraft, die sie übersteigt, die sie sich nicht einfach selbst zuschreiben können. Das Neue Testament rückt diese Erfahrung von Energie und Dynamik sehr in den Mittelpunkt, beschreibt damit, wie Jesus und auch seiner Jünger/innen von ihren Zeitgenoss/innen wahrgenommen wurden.
Ein weiterer Erlebensraum verbindet sich mit Begegnung und Beziehung. Menschen erleben Gott und sein Wirken in ihnen als Vertrauen und Vertrautheit. Sie erleben sich selbst gewollt, gesehen und erwünscht. Sie fühlen sich durch Gott eingeladen, eine Partnerschaft und einen Weg mit ihm zu gestalten. Sie erleben innere Berührung, Nähe, Freundschaft und Wärme. Immer wieder benutzen Menschen auch Begriffe aus dem Bereich der Sexualität, um ihr Erleben Gottes zu beschreiben: Verlangen, Zärtlichkeit, Erregung, Befriedigung… Die Dimension der Beziehung öffnet sich in die vielen Gestalten und Facetten der Liebe.
Wenn Menschen schwere Niederlagen erleben, Krankheit erleiden, besonders aber auch, wenn sie einen ihnen nahestehenden Menschen verloren haben, schließt sich oft der Zugang zu tragenden und beglückenden Beziehungen für einige Zeit. Eine Gottesbeziehung, die bisher sehr stark mit den Kategorien der Begegnung und der Nähe gelebt wurde, kann sich nun hohl, abgestorben und tot anfühlen, ein Erleben, das massiv verunsichert. Schmerz, Trauer und Vermissen bestimmen das innere Erleben. Dies kann jedoch auch die spezifische Weise der Anwesenheit und des Beistandes Gottes sein. Trauer, manchmal sogar Verzweiflung, sind der Situation angemessene Empfindungen. Gott sitzt – im Bild gesprochen – dabei, trauert, vermisst, weint… schweigt, wo jedes Wort zu viel wäre, bleibt und hält die Verbindung. Und nach und nach schwingt in die Trauer die vorsichtige Einladung, den Lebenden nicht bei den Toten zu suchen. Hoffnung und Liebe unterlaufen den Tod.
Je mehr Menschen sich selbst entwerfen und ihren eigenen Lebensweg gestalten können und müssen, desto dringlicher ist die Frage nach einer inneren Resonanz, die ihnen als Richtschnur dienen kann. Das Erleben von Stimmigkeit, von Orientierung, innerer Klarheit, Licht, Perspektive, Bestätigung wird als solch eine Resonanz und Gotteserfahrung erlebt. Ignatius von Loyola fasste diese Qualitäten in seinem Wort vom Trost zusammen: Trost weit über das Getröstet-werden in Trauer hinaus. Trost, so schreibt Ignatius, ist ein recht verlässliches Zeichen für die Resonanz mit dem Willen und Wirken Gottes, der mich zu meinem Besten leiten will. Das Erleben von Trost kann dabei durchaus in Spannung zu stehen zur äußeren Situation, zu körperlichen oder materiellen Einschränkungen, zu Erwartungen und Konventionen. Es ist auch nicht einfach ein sich Wohlfühlen mit einer Situation oder Entscheidung. Es ist diese innere Gewissheit, das Richtige, das Eigene, das Heilige zu tun.
Doch umgekehrt kann auch das Erleben von Frustration zu einer Gotteserfahrung werden. Dann, wenn ein Reifungsschritt ansteht, eine innere oder äußere Transformation, ein Übergang in eine neue Lebensphase…, aber noch viele innere Kräfte am Bisherigen festhalten wollen, das Risiko scheuen und die Veränderung, können sich von Gott her Unruhe, ein Drängen, Langeweile und Überdruss einstellen. Obwohl dieses Erleben unangenehm ist und möglichst vermieden wird, ist es in diesem Zusammenhang eben kein Anzeichen der Abwesenheit Gottes, sondern seiner Hilfe im Heiligen Geist.
Trost ist auch ein tragendes Element eines weiteren Erlebensbereiches. Immer wieder erleben sich Glaubende aufgerufen, sich zu engagieren. Sie empfinden einen Auftrag, sie spüren sich an die Seite Jesu gerufen, mit in seine Anliegen. Wie er erleben sie ein Leiden am Unrecht, an Ausgrenzung und Armut – ein Leiden, das sich mit Aggression verbinden kann und dann zum Handeln drängt. Trost, diese innere Stimmigkeit mit sich selbst und Gott, ist dabei die wichtigste Stütze. Prophetisches Klarsehen, Mut, Absehen-können von der eigenen Person und dem eigenen Vorteil, Hingabe an den Auftrag, Berufung… sind weitere innere Erleben, die in die gleiche Richtung weisen.
Nicht selten führt solches Engagement zu Gegenwind, zu Anfragen und Einsamkeit. Dann wird ein weiterer Bereich der Gotteserfahrung umso wichtiger. Gott wird erlebt als Halt, als Grund und Fundament. Er gibt innere Sicherheit und Gelassenheit. In ihm finden Menschen den Grund ihrer Würde. Sie erleben sich von ihm aufgerichtet, von ihm groß und selbstwirksam gemacht. Manchmal begegnen sie dabei etwas wie einer reinen, unverstellten Gegenwart, einer pure Präsenz des Heiligen, Starken und Unsterblichen – etwas was sie schaudern lässt und zugleich unabweisbar fasziniert: Eine alles übersteigende Wandlungskraft; eine Präsenz, die dann manchmal auch die äußeren Grenzen der Sinne überschreitet und in ihnen wie hörbare Stimme, geschautes Bild, Geschmack, Geruch und körperliches Getast wird.
Abraham Maslow verdanken wir eine religionenübergreifende Beschreibung von „Gipfelerlebnissen“: Momente der Einung, der Verbundenheit mit allem, dem All und dem Allgütigen. Staunen, Verzauberung, Dankbarkeit, tiefe, manchmal scheinbar grundlose Freude, das Gefühl überwältigt zu sein von Schönheit und Gutem, sind die „kleinen Geschwister“ dieser Gotteserfahrung. In diesem Erleben reichen Menschen über sich hinaus und greifen aus auf einen umfassenden Sinn ihrer Existenz.
Es gibt jedoch auch das Gegenteil, dass der/die Gottsuchende mit dem Nicht-sein verwoben wird. Gott ist und ist nicht. Er umfasst die Nähe und die Ferne, Leben und Tod. Es ist dies eine Nicht-Erfahrung, die sich jedoch paradoxer Weise „warm“, „dicht“, „seidig“… anfühlt – eben nicht der Abgrund der Verzweiflung, sondern das tiefste Vermissen des Seelenfreundes. Die mittelalterlichen Kommentatoren des Hohen Liedes rühren an diese Erfahrung, wenn sie die Verlassenheit der Braut aufgreifen: „Des Nachts auf meinem Lager suchte ich ihn, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn und fand ihn nicht.“ (Hld 3,1). Es ist die Erfahrung der „Dunklen Nacht“, die „noche oscura“ des Johannes vom Kreuz. Wehmut, Verlangen, Ausgeliefertsein prägen das Erleben. Gott ist scheinbar nur als Erinnerung da, als Echo seiner selbst. „Tränen sind mein Brot bei Tag und bei Nacht; denn man sagt zu mir den ganzen Tag: Wo ist nun dein Gott? Das Herz geht mir über, wenn ich daran denke: wie ich zum Haus Gottes zog in festlicher Schar, mit Jubel und Dank in feiernder Menge. Meine Seele, warum bist du betrübt und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, meinem Gott und Retter, auf den ich schaue. (Ps 42, 4-6)
Keines dieser Erleben ist eindeutig, keines ist unmittelbar. Selbst überwältigende Phänomene, wie Auditionen und Peak Experiences lassen eine große Bandbreite von naturwissenschaftlichen, psychologischen und spirituellen Deutungen zu. Kein Erleben aber ist zugleich in sich gottfern und ausschließlich immanent zu verstehen. Gott ist nirgends und doch ist die „Welt Gottes so voll, aus allen Poren quillt er gleichsam uns entgegen.“ (A. Delp)
Begleiten
Geistliche Begleitung kann helfen, das Erleben zu beschreiben, einzuordnen und ihm einen Sinnzusammenhang zu geben. Sie ist dabei für viele Menschen ein wichtiger kommunikativer Schutzraum, in dem inneres Erleben berichtet werden kann, weil es grundsätzlich wertgeschätzt und mit Achtsamkeit umgeben wird. In den Gesprächen der Geistlichen Begleitung können Menschen üben, ihr Erleben differenzierter wahrzunehmen und zu beschreiben. Der/die Geistliche Begleiter/in unterstützt auch dabei, Linien zwischen verschiedenen Erlebnissen zu ziehen und Entwicklungen probehalber zu benennen.
Sodann kann in der Geistlichen Begleitung mit dem Deutezusammenhang christlicher Überlieferung experimentiert werden. Nach und nach erschließen sich dem/der Übenden weitere Elemente der biblischen und spirituellen Tradition – und sie erschließen sich „von innen heraus“, von ihrer mystagogischen, erfahrungssatten und erfahrungsstimulierenden Dimension her. Der/die Übende lernt auf diese Weise, religiöse Überzeugungen und Grundlagentexte mehr auf seine Situation und sein Erleben anzuwenden. Er/sie findet sich im Spiegel der Texte und Bilder. Er/sie erfährt dadurch die transformierende Kraft der symbolischen Deutungen. Der/die Begleiter/in hilft, die so gewonnenen, reflexen Erfahrungen in eine Entwicklung einzuordnen, die etwas von der „Pädagogik Gottes“ erspüren lässt, der dem/der ihn Suchenden Schritt für Schritt mehr über sich selbst und über ihn, den lebendig liebenden Gott erschließt. Er/sie nutzt dabei das tradierte Wissen um Regelmäßigkeiten geistlicher Reifung.
Weil aber keines dieser inneren Erlebnisse einfach ist, widersteht der/die Begleiter/in allen Versuchen eine integristische Unmittelbarkeit zu postulieren. Die Gefahr besteht immer, ins Banale abzurutschen, jede alltägliche Seelenregung mit einer besonderen Gnade Gottes zu verwechseln, oder aus dem eigenen Erleben Regeln für andere ableiten zu wollen. Geistliche Begleitung weist sich hier als skeptische, kritische, unterbrechende und irritierende Intervention. Die Begleiter/innen nutzen dabei die Regel aus dem Exerzitienbuch und ihre Erfahrung mit der Unterscheidung der Geister. Sie stellen dem/der Übenden ihr Gespür – je nach Situation bestätigend oder konfrontierend – zur Verfügung. Sie rechnen auch mit der Wirkung anderer, schädlicher und lebensverneinender Kräfte und „Geister“ und wissen darum, wie sehr sich die Symptome im Erleben ähneln können. Sie lenken deshalb den Blick des/der Übenden immer wieder auf die beobachtbaren „Früchte“ im alltäglichen Leben, im Engagement, im Menschsein für andere. Von dort aus bestätigt sich eine geistliche Deutung oder verliert sie ihre scheinbare Evidenz.
Die Begleiter/innen sind jedoch auch die Anwälte der unüberschaubaren Vielfalt möglicher Gotteserfahrung. Diese Anwaltschaft ist für die Übenden dann umso wichtiger, wenn sich durch äußere oder innere Vorgänge ein Erlebensbereich (zeitweise) schließt. Was sich von innen heraus nicht selten nach dramatischem Gottesverlust anfühlt, lässt sich begleiterisch oft in einen anderen Erfahrungskontext setzen, so dass eine neue Weise sicht- und fühlbar wird, wie Gott sich selbst dem/der Übenden jetzt zeigen und schenken will. Gott verlässt den Menschen nie, selbst wenn er vielleicht nur noch als das Dunkel der geistlichen Nacht vermutet werden kann. Es gibt kein gottloses Leben und keine gottferne Situation. Aber Gott drängt nicht selten voran, will noch andere „Seiten“ seiner Zuwendung entdecken lassen und „ist“ dann scheinbar nicht mehr, wo er eben noch segensreich und beglückend erfahren wurde. Der/die Begleiter/in bezeugt diese unverbrüchliche Treue Gottes – gerade dann, wenn er abhanden gekommen scheint.
So stehen die Begleiter/innen dafür ein, dass das Suchen lohnt, auch wenn es momentan kein Finden gibt, dass das Üben seinen Wert hat, auch wenn sich über Strecken kein Erfolg zeigen will. Sie stützen und fördern die geistliche Selbstdisziplin des/der Übenden, sprechen Mut zu und helfen Durststrecken durchzustehen. Sie geben den Übenden Gebetsweisen und Betrachtungsimpulse an die Hand, die helfen können, die eigene Disposition für das Wirken Gottes in Achtsamkeit auf die ganze Bandbreite des Erlebens und experimentell-skeptisch-unterscheidender Deutung zu stärken. Sie gehen mit, probieren, bremsen, locken – mit einem Ohr und ganzem Herz nah an dem Menschen und seiner Geschichte und mit dem anderen Ohr und ebenfalls ganzem Herz ausgerichtet auf Gott, der durch seinen Geist in diesem Leben wirkt und wirken will.