Katholische Kirche ist in der Krise, auch und weil ihre Leitung in der Krise ist. Ein Paradigmenwechsel zu einem neuen Miteinander von geistlicher Entscheidung in Gemeinschaft als Zentrum des kirchlichen Leitungsgeschehens und geistlicher Leitung als Dienstamt könnte tragfähige Zukunftsperspektiven eröffnen.
Leitung neu denken
Text: Peter Hundertmark – Photo: johnhain/Pixabay.com
Was hat die Katholikinnen und Katholiken bei der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie 2018 so massiv erschüttert? Dass es verbrecherische sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche durch Priester gab, wussten alle. Neu ins Bewusstsein aber kam, dass die sexualisierte Gewalt nicht von Einzeltätern ausging, die von einzelnen überforderten Verantwortlichen geschützt wurden, sondern dass es sich um ein systemisches Problem und gesamtkirchliches Versagen handelte. Angesichts eines multifaktoriellen Ursachenbündels reicht es wahrscheinlich nicht aus, „nur“ die Zulassungsbedingungen zum Priesteramt zu verändern. Die systemischen, in den Leitungsgewohnheiten und Machtzuschreibungen begründeten Möglichkeiten zum Missbrauch würden sich – wie zum Beispiel ein Blick in manche Freikirche zeigt – damit keineswegs automatisch auflösen.
Szenenwechsel: Seit zwanzig Jahren setzen sich Managementtheoretiker/innen und Betriebswirtschaftler/innen mit der Frage auseinander, wie die Entscheider/innen in Firmen mit der ständig im raschen Fluss befindlichen Überkomplexität des Unternehmensumfeldes umgehen können. Die Vorschläge sind vielfältig, aber das eigentliche Ergebnis ausgesprochen ernüchternd: Sie können es nicht. Das Problem liegt dabei nicht in der Einzelperson, sondern ist wiederum systemisch. Kein/e Einzelne/r kann die Komplexität und den schnellen Wandel in sich allein hinreichend abbilden und damit ohne realitätsverzerrende Komplexitätsreduktion handlungsfähig bleiben. Die notwendige Reduktion gelingt mal besser, mal schlechter, aber das Grundproblem ist durch ein hierarchisches Leitungs- und Managementsystem, das in der einen Person an der Spitze gipfelt, nicht lösbar. Das gilt in gleicher Weise für Firmen, staatliche Institutionen, Vereine… und Kirchen.
Es mag trösten, dass viele mit der Kirche das gleiche Problem teilen, aber leider nützt diese Solidarität nichts. Wenn man es ein wenig überspitzt formuliert, bedeutet das, dass Systeme hierarchisch-individualisierter Leitung nicht nur Probleme produzieren: Sie sind das Problem. Die historischen Effizienzgewinne durch zentralisierte Macht sind in der Globalisierung verpufft und der Effekt hat sich in sein Gegenteil verkehrt. Hierarchische Leitung mit ihren Kontrollnotwendigkeiten führt zu wuchernder Kompliziertheit, ohne der Komplexität damit Herr zu werden wäre. In den komplexen Wirklichkeiten reifer Volkswirtschaften sind die „einsamen“ Leitenden systemisch überfordert. Skandale und selbst Verbrechen sind nicht Unfälle, sondern tatsächlich Teil der DNA hierarchisch-individualisierter Leitung in komplexen und sich rasch wandelnden Bedingungen. Einzelne dafür verantwortlich zu machen, ist oft unerlässlich, bekämpft jedoch nur das Phänomen, schafft aber keine grundsätzliche Abhilfe – und das gleichermaßen in Banken, Verwaltungen und Kirchen.
Wo die Gefahr wächst, wächst aber auch das Rettende – und es ist längst da. Alle wesentlichen Einsichten liegen auf dem Tisch, die notwendigen Maßnahmen sind durchgedacht, Pilotprojekte ausgewertet, Interventionsinstrumente erprobt und auf Selbstorganisation und geteilter Verantwortung basierende Leitungskonzepte wissenschaftlich validiert. Im speziellen Fall der Kirche verfügt diese auch über die theologischen und spirituellen Konzepte und Erfahrungen, um einen Neuansatz ihres Leitungssystems an die Praxis und Verkündigung Jesu und der frühen Kirche anzuschließen. Allerdings führt kein einfacher Weg von hier nach da. Es handelt sich um einen Paradigmenwechsel, der nur durch einen Sprung unter vollem Risiko vollzogen werden kann. Einmal gesprungen, fügen sich jedoch alle Elemente wieder konsistent, aber eben anders, zusammen.
Ein wesentliches Element dieses Paradigmensprungs ist es, Leitung in der Kirche als Prozessgeschehen zu denken und nicht als Eigenschaft, Status oder Vorrecht einzelner Personen. Leitung ist in diesem Verständnis die Summe der Prozesse, die es allen Beteiligten ermöglicht, möglichst effizient zusammen zu wirken und die die Teilinteressen in eine Ausrichtung auf die gemeinsame universale Vision – das Reich Gottes – zu bündeln. An diesem Leitungsgeschehen nehmen notwendig immer ganz verschiedene Akteure/innen – mit und ohne formalen Auftrag – teil und keineswegs nur die benannten Leiter/innen. Potentiell wirken sogar alle Mitglieder der Kirche auch an den Prozessen ihrer Leitung mit. Die Lehre von gemeinsamen Priestertum aller Getauften und der geteilten Verantwortung aller Christ/innen konvergiert unmittelbar mit dieser Einsicht der Betriebswirtschaft.
Die entscheidende Frage ist dann, wie diese Mitwirkung an den Prozessen auch systemisch und formal organisiert werden kann. Die bisher eingeübte Ergänzung hierarchischer Letztverantwortung durch beratende synodale Gremien scheint jedenfalls hinter den theologischen und praktischen Möglichkeiten von Kirche zurück zu bleiben. Aus dem Blickwinkel eines Paradigmenwechsels im Leitungsverständnis sind die Beratungsgremien eine Anpassung, keine grundlegende Veränderung des Leitungssystems.
Damit ist auch die Herausforderung schon benannt. Wie kann es gehen, dass korporativ-gemeinschaftliche Prozesse der Verständigung der Glaubenden das Zentrum des kirchlichen Leitungsgeschehens bilden, dem die operativen Einzelverantwortungen dann als nachgeordnete, dienende Funktion zugeordnet werden? Diese „Neuerung“ wirkt erst einmal schwer vorstellbar, ist aber bereits lehramtlich verbindlich in der Konstitution „Lumen Gentium“ des 2. Vatikanischen Konzils vorbereitet.
Wie gemeinschaftliche Leitungsprozesse dann gestaltet werden, dafür gibt es zwei Grundmodelle: das parlamentarische Modell mit Debatte und eventuell mit Abstimmung und das Modell der konsensorientierten Unterscheidung der Geister in Gemeinschaft. Beide haben ihre Berechtigung und ihre Grenzen. Die Unterscheidung in Gemeinschaft scheint jedoch in vielen Fällen für Leitungsprozesse der strategischen Ausrichtung kirchenkompatibler, weil es noch unmittelbarer alle beteiligten Glaubenden in eine geteilte Verantwortung für Entscheidung und Umsetzung nimmt. Auch vermeidet die Unterscheidung in Gemeinschaft das Phänomen, dass mögliche Abstimmungsverlierer sich als Oppositionsgruppe konstituieren.
Ein solcher Paradigmenwechsel wird in der Kirche jedoch immer fremd bleiben, wenn er sich nicht auch theologisch an die Gründungserzählungen des Neuen Testamentes anschließen lässt. Hier ist zu erwägen, wie die Geistgabe an die Jünger/innen gedeutet werden kann. Wird der Geist durch den Auferstandenen einer Versammlung von künftigen Leitungspersonen gegeben? Dafür spricht die Praxis, die Geistgabe durch individuelle Handauflegung weiter zu geben. Oder wandelt der Geist Gottes die Jünger/innen in eine neue gemeinschaftliche Wirklichkeit, die als solche Christus repräsentiert. Die Texte, die von der Gemeinschaft der Glaubenden als dem Leib Christi sprechen, an dem alle Einzelnen Glieder sind, stützen eher diese Lesart.
Wahrscheinlich bestehen beide Wirklichkeiten von Anfang an nebeneinander. Das würde sich auch mit der Festlegung des 2. Vatikanischen Konzils treffen, das gemeinsame Priestertum und das Weihepriestertum nicht auseinander abzuleiten, sondern beide als wesenhaft verschiedene Wirklichkeiten des einen Gottesvolkes zu verstehen. Daraus könnte ein Zugleich und Nebeneinander von sakramental-geistlicher Leitung durch Einzelne und gemeinschaftlicher strategisch-konzeptioneller Leitung durch die Gesamtheit des Leibes Christi abgeleitet werden. Dann müssten die jeweiligen Funktionen auch in ihrem Zueinander jedoch möglichst genau beschrieben werden, um immer wieder aufflammende Konflikte zu vermeiden.
Ein Verstehensmodell für dieses Zueinander von geistlicher und strategischer Leitung ist in der Amtstheologie vorbereitet. Jesus Christus ist in seinem Leib, der Gemeinschaft der Kirche gegenwärtig. Er handelt durch diesen ganzen mystischen Leib. Zugleich aber ist er ihr Herr. Ihm allein kommt die „Richtlinienkompetenz“ zu. Das Weiheamt erinnert durch seine Präsenz die Gemeinschaft daran, dass sie eben nicht nur eine Organismus, sondern der mystische Leib Christi ist, der von ihm geformt und geführt wird. Dieses Erinnern bedeutet auf den Herrn ausrichten, nicht Herrschaft ausüben. Es geht darum, wie es Petrus aufgetragen wird, „die Geschwister zu stärken“ und das Kirchengeschehen in jedem Moment auf Jesus Christus hin offen zu halten.
Ein Geschehen aus der Liturgie kann helfen, dieses geistliche Leitungsgeschehen exemplarisch zu beschreiben: Mit dem Ruf „Lasset uns beten“ lädt der Priester alle, die den Gottesdienst feiern, ein zu beten – sich also einzeln und als Gemeinschaft auf Gott auszurichten. Dann ist im Messbuch eine Stille vorgesehen. Nach einiger Zeit nimmt der Liturgievorstand das stille Beten aller auf und führt es im sogenannten Kollektengebet (Tages- oder Schlussgebet) zusammen. Dieses Kollektengebet ist nicht sein persönliches Beten und deshalb aus gutem Grund sehr abstrakt formuliert. Es ist „nur“ der Container für das Beten aller Getauften, die auf diese Weise ihr gemeinsames Priesteramt ausüben.
Entsprechend kann geistliche Leitung als „Kollekte“ verstanden werden: Der/die Verantwortliche eröffnet einen (Zeit-)Raum, damit sich alle einzeln und gemeinsam auf Gott und seinen Willen ausrichten können. In diesem von Gebet getragenen Raum bemühen sich dann alle gemeinsam, die Fakten zusammenzutragen, die Zeichen der Zeit zu deuten, die Geister zu unterscheiden und einen Konsens zu finden, der auf ein Mehr Reich Gottes hinzielt. Der/die Verantwortliche beteiligt sich dabei gegebenenfalls wie jede/r andere auch. Ist ein Konsens im Raum, nimmt er/sie ihn entgegen, formuliert ihn, überprüft die Formulierung vielleicht noch einmal mit allen Anwesenden, und setzt dann den gemeinsam geistlich gefundenen Konsens als Entscheidung in Kraft.
Dieser Paradigmenwechsel im Leitungsverständnis – gemeinsame Unterscheidung als Zentrum des Leitungsprozesses, geistliche Leitung als Ermöglichung und „Kollekte“ – bedeutet damit weder eine Geringschätzung der sakramentalen Ordnung der Kirche, noch eine Verantwortungsdiffusion, bei der in anarchischer Weise, jede/r alles macht und darf, sich alle für alles – und damit in der Regel auch für nichts – zuständig fühlen.
Postmoderne Managementkonzepte aus der Wirtschaft setzen, aus einer anderen Fragestellung kommend, genau dieses neue Zueinander von kollektiver strategischer Leitung und ermöglichender Leitung durch Einzelne um. Sie setzen einerseits auf Selbstorganisation aller am Produktions- und am Leitungsprozess Beteiligter, sehen dabei aber durchaus eine Person vor, die den Konsens der gemeinschaftlich entscheidenden Gruppe aufnimmt, formuliert, in Kraft setzt und mit anderen autonom und selbstorganisiert agierenden Gruppen verbindet. Dadurch wird aber keine Hierarchie und keine Herrschaft begründet. Nicht der/die Einzelne trifft die Entscheidungen und weist die anderen an. Die Verantwortung wird von allen getragen. Einzelnen kommen in diesem Geschehen spezifische Funktionen zu. Operative Leitung ist eine davon. Damit kommen diese Managementkonzepte kirchlichen Vorstellungen von geistlicher Leitung näher, als die aktuell verbreitete, stark von der Verwaltung her konzipierte priesterliche Leitungspraxis.
Das Schreiben der Deutschen Bischöfe „Gemeinsam Kirche sein“ bereitet ein solches Modell in selbstorganisierter Leitung durch Unterscheidung in Gemeinschaft, unterstützt durch die geistliche Leitung, in wesentlichen Zügen pastoraltheologisch vor. Alle Getauften werden als Geistträger/innen gesehen, die dadurch zumindest potentiell über die notwendige Kompetenz verfügen, um Kirche zu leben, zu gestalten und zu leiten – auch wenn diese Kompetenz in vielen Fällen erst eingeübt, trainiert und kultiviert werden muss. Management- und Verwaltungsleitung durch Priester und damit deren organisationale Überordnung über die Glaubenden werden in diesem Schreiben kritisch gesehen. Die Hierarchie der Kirche ist eine sakramentale Wirklichkeit, keine administrative Herrschaft.
Selbstorganisation und gemeinsame Unterscheidung der Geister bedeutet dabei keineswegs, dass alle Entscheidungen immer auf der lokalen, partikularen Ebene getroffen werden sollen und können. Die geistliche unterscheidende und damit strategische leitende Gemeinschaft als Verwirklichung des mystischen Leibes Christi ist keineswegs immer die Ortsgemeinde. Es kann auch die Ortskirche eines Bistums sein. Das gleiche Prinzip des Zueinanders von entscheidungskompetenter Selbstorganisation und ermöglichendem und entgegennehmendem Dienstamt lässt sich auf alle Ebenen und Orte kirchlicher Entscheidungsfindung übertragen. Wenn es also um die Positionierung der Kirche zu gesamtgesellschaftlichen Fragen oder um überdiözesane Vereinbarungen geht, kann der richtige „Corpus“, der gemeinsam geistlich unterscheidend um eine Entscheidung ringt, auch die Bischofskonferenz oder wie jetzt für den synodalen Prozess geplant, ein gemischtes Gremium aus Bischofskonferenz und Zentralkomitee der deutschen Katholiken sein. Selbst weltkirchliche Themen können durch aufeinander aufbauende Abfolgen von gemeinsamen Beratungen und entgegennehmendem Dienst vorangebracht werden, wie zum Beispiel die Vorbereitung und Durchführung der Jugendsynode und die Veröffentlichung der Ergebnisse durch den Papst gezeigt hat.
Allerdings braucht es dann geeignete Verfahren, wie der Glaubenssinn der Getauften und ihr geistliches Unterscheidungsgespür konkret und treu über die Ebenen transportiert wird, also geistliche Unterscheidungsprozesse „von unten her“ aufgebaut werden können, da sonst die Entscheidungen die Bodenhaftung – theologisch: Inkarnation und Inkulturation – verlieren könnten. Gleiches gilt übrigens dann auch wieder für die Umsetzung. Auch da macht es Sinn, sie nicht „von oben“ anzuordnen und damit zwangsläufig Widerstände auszulösen, sondern sie auf der Basis der entgegengenommen, formulierten und in Kraft gesetzten Entscheidung wieder „von unten“ her in gemeinschaftlichen Leitungsprozessen aufzubauen.
Ist damit dem Machtmissbrauch ein endgültiger Riegel vorgeschoben? Ist damit auf jeden Fall sachgerecht die ganze Komplexität im Blick? Nein. Der Einzelfall ist immer komplizierter und jedes noch so sorgsam erdachte System kann versagen und scheitern. Aber die Komponenten, die systemisch Machtmissbrauch und „exkarnierte“ Komplexitätsreduktion in Kirche beförderten, könnten auf diese Weise minimiert werden.