Der folgende Text ist zuerst in der Zeitschrift „Theologie und Glaube“, Heft 2/2024 im Aschendorf Verlag erschienen. Das Themenheft beschäftigt sich mit den Kirchlichen Bewegungen. Im Beitrag wird die Komplexität der Leitungsherausforderungen reflektiert. Handlungsbereiche und Querschnittsaufgaben werden in Beziehung gesetzt.

Text: Peter Hundertmark – Photo: Fotocitizen/pixabay.com

Leitung in kirchlichen Bewegungen und ihren geistlichen Gemeinschaften steht durch deren differenzierte Binnenstruktur vor Herausforderungen, die je nach Bereich unterschiedlichen (Leitungs-)Logiken folgen.[1] Zu unterscheiden sind: Mitarbeiter*innen mit Anstellung, Wohn- und Lebensgemeinschaften, Mitglieder, angegliederte Institute des geweihten Lebens und Klerikerinstitute, Freund*innen. Je nach Situation einer Bewegung sind diese Bereiche unterschiedlich relevant. Vorgelagert ist die Selbstleitung – die entscheidende Voraussetzung erfolgreichen Leitungshandelns in allen Bereichen.

Während die Aufgaben in den Handlungsbereichen zumindest teilweise den Leitungsaufgaben in säkularen Organisationen vergleichbar sind, kommen spezifische Anforderungen dazu: Leitung in der Nachfolge der Gründerpersönlichkeit; Leitung innerhalb der katholischen Kirche; Geistlich gestaltete Leitung.

  1. Handlungsbereich: Selbstleitung

Von Leitungskräften wird Souveränität, Sachlichkeit und Fairness erwartet. Hinzu kommen die sogenannten Soft Skills: Kommunikation, emotionale Intelligenz, strategisches Denken, Kreativität, Lernbereitschaft. Da in Kirche allgemein und umso mehr in den Bewegungen mit ihrer überwiegend ehrenamtlichen Leitungsstruktur kaum strukturierten Programme existieren, die künftige Verantwortungsträger*innen an ihre Aufgabe heranführen, ist die erste Leitungsaufgabe, sich selbst so in Lern- und Reifungsprozesse zu bringen, dass sich die Kompetenzen guter Leitung entwickeln können. Gute Leitung beginnt folglich immer mit Selbstleitung. Geeignete Maßnahmen sind die regelmäßige Selbstreflexion[2], sodann Fremdwahrnehmung durch Supervision und andere Feedbackverfahren, aber auch Schulungen und Selbsterfahrungsgruppen. Manche Reifungsblockaden, unbewusste Bedürfnisse und Reaktionsmuster bedürfen therapeutischer Unterstützung. Diese aktiv angegangenen Entwicklungsschritte nutzen der Person – und ihrem Leitungsverhalten.

Eine weitere wesentliche Funktion von Leitung ist es, Halt und Orientierung zu vermitteln. Dies gilt besonders in wenig strukturierten, „freien“ Zusammenschlüssen. Halt geben kann jedoch nur der*diejenige, die selbst für sich ein gewisses Maß Halt, Grund und Stabilität gefunden hat. Selbstvertrauen, Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, Resilienz, aber auch spirituelle Erfahrung und religiöse Einbindung sind hier wesentliche Faktoren. Leitungspersönlichkeiten müssen weiterhin in der Lage sein, persönliche Wünsche und Ziele hinter das „Gemeinwohl“ der Organisation, konkret oft auch hinter das Wohl der Mitarbeiter*innen, zurück zu stellen. Dazu müssen sie lernen, sich der eigenen „hidden agenda“ bewusst zu werden und diese zugunsten der Ziele der Organisation zu relativieren.

Leitungspersonen sind in einer Organisation häufig sehr einsam. Das wird umso mehr zum Problem, wenn die Organisation sehr viele Lebensbereiche – Sinnsuche, Sozialkontakte, Freizeitgestaltung, berufliche Tätigkeit … – abdeckt. Leitungskräfte müssen also gelernt haben, mit Einsamkeit umzugehen. Da sich Mitarbeiter*innen an den Leitungspersönlichkeiten orientieren, wird von ihnen zudem eine vorbildliche Work-Life-Prayer-Balance erwartet. Wieder gilt, dass nur der/diejenige andere anleiten kann, der für sich ein gesundes Maß gefunden hat.

Zielbild ist eine Persönlichkeit, die ihre eigenen Bedürfnisse gut kennt, ihre Bindungen, Sympathien, Muster, Hoffnungen, persönlichen Ziele, Überzeugungen… sich aber im Umgang mit den Mitarbeiter*innen und in den Sachfragen der Organisation nicht davon bestimmen lässt, sondern sich selbst, mit aller Sachkenntnis, mit Soft Skills, mit der ganzen eigenen Persönlichkeit in den Dienst stellt. Eine solche Leitungskraft ist in der Lage, sach- und persongerecht zu handeln und auf diese Weise Vorbild zu sein, das heißt zu orientieren und motivieren.

2. Handlungsbereich: Mitarbeiterführung

Manche kirchliche Bewegung hat angestellte Mitarbeiter*innen mit Arbeitsvertrag oder einem anderen formalen Dienstverhältnis. Hier greifen die Regeln und Herausforderungen betrieblicher Leitungsaufgaben. Folglich sind Kenntnisse in den ganzen personal-, arbeits-, steuer- und versicherungsrechtlichen Fragen, Fähigkeiten bei der Personalauswahl und -führung, Konfliktbearbeitung, Unterbinden von Mobbing … unerlässlich. Diese Kenntnisse und Fähigkeiten müssen sachgerecht, entwicklungsorientiert und menschenfreundlich angewendet werden. In kirchlichen Bewegungen, die weitgehend ehrenamtlich geleitet werden, müssen diese Kenntnisse und Fähigkeiten meist „on the job“ erworben werden. Kompetente Auskunftspersonen und sachkundige Supervision sind deshalb umso notwendiger.

    Leitungskräfte stehen gegenüber den Angestellten aber auch in der Verantwortung, dass die Ziele der Organisation erreicht werden. Sie müssen das „mission statement“, das Leitbild und die strategische Ausrichtung verkörpern, wach halten und einfordern. Arbeitsplatzbeschreibungen sind vorzunehmen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten zu delegieren, die Mitarbeiter*innen zur Leistungserbringung anzuhalten und die Anstrengungen der Einzelnen zu einem gemeinsamen Erfolg hin zu bündeln. Wichtige Instrumente dafür sind Dienstgespräche, Besprechungen, Jahreszielvereinbarungen, Evaluations- und Konfliktgespräche. Diese verschiedenen Kommunikationsformen mit ihren Chancen und Grenzen müssen erlernt werden.

    Zielbild der Mitarbeiterführung ist die person- und sachgerechte Einbindung, passende Herausforderung und Förderung der einzelnen Mitarbeiter*innen. Die Matrix von Hersey und Blanchard ist dafür ein von Nicht-Fachleuten leicht nutzbares Instrument[3].

     

                                                                                                                                                   [4]

    Unterschieden werden vier Verhaltensweisen, die jeweils von den Kompetenzen und vom Commitment des*der Mitarbeiter*in und dem Aufgabenprofil abhängen. Nicht immer sind Partizipation und Delegation sinnvoll und angebracht. Es kommt auf ein je nach Fähigkeiten und Anforderungen differenziertes, situatives Leitungsverhalten an. Aus der Matrix lässt sich auch der zu veranschlagende zeitliche Aufwand für die Leitungskraft herauslesen.

    Hinzu kommen in diesem formalen Leitungsbereich auch Verantwortlichkeiten im Bereich der Finanzen, des Budgets, der Einzelhaushalte … Leitungskräfte in Organisationen wie den kirchlichen Bewegungen mit kleiner Verwaltung, flacher Hierarchie und wenigen Personen auf der Leitungsebene müssen deshalb eventuell auch Haushaltspläne erstellen und kontrollieren, Geldanlagen managen, Rückstellungen im Blick behalten … Die Zuarbeit mit einer*m kompetenter*n Steuerberater*in und einer vertrauenswürdigen Bank sind hier dringend anzuraten.

    Wichtige Werte in diesem Handlungsbereich sind Transparenz, Verlässlichkeit und Gerechtigkeit. Leitung gibt Orientierung. Das ist ihr erster Dienst an einer Organisation. Deshalb muss Leitung aktiv, konsistent und konsequent wahrgenommen werden. Andernfalls reagieren Mitarbeiter*innen jenseits aller persönlichen Disposition in der Regel depressiv oder mit anhaltenden, die Organisation lähmenden internen Machtkämpfen. Eine unklare oder willkürliche Leitung macht Mitarbeiter*innen krank.

    Im Idealfall ist die Leitungspersönlichkeit in der Lage, flexibel auf Mitarbeiterbedürfnisse zu reagieren. Das bedeutet, gegebenenfalls unkonventionelle Lösungen zu erproben, Traditionen zu relativieren, die Zusammenarbeit auf neue Herausforderungen auszurichten, interne Umstrukturierungen partizipativ und fair durchzuziehen, eigene Fehler zuzugeben und zu korrigieren.

    Leitung im Bereich der formalen Mitarbeiterführung bringt Macht mit sich. Dabei muss immer bewusst bleiben, dass Macht und Verantwortung durch kommunizierende Röhren miteinander verbunden sind. Wächst die Macht, wächst auch die Verantwortung. Wächst die Verantwortung einer*s Mitarbeiter*in, muss dies mit der Übertragung von Macht einhergehen. Verantwortung heißt transparent und regelmäßig Rechenschaft zu geben und für die Mitarbeiter*innen einstehen, insbesondere wenn diese Fehler gemacht haben, in Schwierigkeiten geraten sind, angefeindet werden. Leitungskräfte „haften“ mit ihrer Person, mit ihrer Anstellung/Berufung, mit ihrem Status, je nach Organisationsform manchmal sogar mit ihrem Vermögen für die Mitarbeiter*innen und den Erfolg der Organisation. 

    3. Handlungsbereich: Lebens-/Wohngemeinschaft

    Viele kirchliche Bewegungen haben Formen gemeinschaftlichen Lebens entwickelt: Mit oder ohne Gütergemeinschaft, nur für Zölibatäre oder auch für Familien, als Kerngruppe oder als eine zusätzliche Verwirklichung des spezifischen Charismas. Nicht selten leben die Leitungspersonen in einer solchen Wohn- und Lebensgemeinschaft. Manchmal leiten sie beides: eine Wohngemeinschaft und die gesamte Bewegung.

      Eine Lebensgemeinschaft stellt an ihre Leitung Anforderungen, die einer anderen Logik als der Mitarbeiterbereich folgen. Hier sind eher Verhaltensweisen und Leitungskompetenzen gefragt, die auch in Familien benötigt werden. Da geht es darum, allen einen angemessenen Platz zu sichern, Interessen auszugleichen, Konflikte anzusprechen, Schwächere zu schützen und ihnen Erfahrungen der Selbstwirksamkeit zu ermöglichen, eine Atmosphäre von Vertrauen und Freiheit zu schaffen… Leitungsverantwortliche in Lebensgemeinschaften übernehmen dabei partiell Elternfunktionen und stellen ein sekundäres Bindungsangebot zur Verfügung: Ein Zuhause als sicheren Hafen[5]. Das ist zuerst ein personales Angebot: Leitungspersonen in Lebensgemeinschaften sind Ohr für die Freude, sind Klagemauer und „Mülleimer“, Tröster*innen und Schlichter*innen.

      Dann aber sind die Leitungspersonen auch Anwälte der gemeinsamen Regeln. Sie achten darauf, dass Absprachen eingehalten werden, mahnen und vermitteln. Die Mitglieder der Lebensgemeinschaft geben den Leitenden die Vollmacht, Sanktionen zu verhängen und durchzusetzen. Auch auf diese Weise sorgen sie dafür, dass die Gemeinschaft eine sichere Basis für alle bleibt.

      Wichtige Leitungsinstrumente sind erstens – in Parallelität zur Familienkonferenz[6] – das Gemeinschaftstreffen, bei der alle praktischen Fragen, alle Konflikte und Regelverstöße, alle Projekt- und Veränderungsideen auf den Tisch kommen können, und zweitens das regelmäßige Einzelgespräch mit allen Mitbewohner*innen. Die Leitung ist dabei meist in mehreren Rollen zugleich gefordert: Als Verantwortliche*r mit Letztentscheidungsvollmacht, als Mediator*in, als Anwält*in offener Klärungsprozesse und Anwält*in der schwächeren und stilleren Beteiligten. Diese Rollenvielfalt stellt eine beständige Überforderung dar und wird leicht zur Quelle endloser Konflikte.

      Wie jedes familienähnliche System haben Lebensgemeinschaften ihre spezifischen Gefahren. Sie haben notwendig ein gegenüber der Öffentlichkeit abgeschirmtes Innenleben. In Gemeinschaften, die durch ein schwaches Selbstwertgefühl geprägt sind, kann das dazu führen, dass eine Stabilisierung durch Abwertung der Umwelt und Sakralisierung der Innenwelt angestrebt wird. Es können Binnensprachen entstehen, die die Mitglieder von der Außenwelt isolieren. Im ungünstigen Fall absorbiert die Gemeinschaft alle Sozialkontakte ihrer Mitglieder und entwickelt sich dadurch unter der Hand zu einer „totalen“ Organisation.

      Die Familienanalogie – angelehnt an Eltern-Kind-Beziehungen – legt in problematischer Weise eine Stufung nahe, die in einer Gruppe von Erwachsenen möglicherweise entstehenden Abhängigkeiten verschleiert und vernebelt. Es können – unter der Hand – eine Gruppe mit größeren Freiheiten, offeneren Möglichkeiten und umfassenderem Ressourcenzugang, und eine unterlegene Gruppe entstehen, die dann oft zusätzlich die mühsamen, unbeliebten Arbeiten zugewiesen bekommt. Familienähnliche Systeme geistlicher Gemeinschaft sind anfällig für Mobbing, Machtmissbrauch und geistlichen Missbrauch. Leitungsaufgabe ist es, Schließungs- und Stratifizierungstendenzen zu widerstehen und Machtmissbrauch und Mobbing zu verhindern.

      Leitung ist der uneigennützige Dienst an einer regelbasierten Gemeinschaft von Gleichen und Freien.[7]

      Wenn Leitungsverantwortliche dieser Aufgabe nicht gewachsen sind bzw. selbst von einer Ungleichheitspraxis profitieren, sind die Selbstheilungskräfte einer Gemeinschaft außer Kraft gesetzt. In diesem Fall müssen die Verantwortlichen der übergeordneten Ebene innerhalb der Bewegung – gegebenenfalls auch der Ortsbischof oder das zuständige vatikanische Dikasterium – eingreifen.

      4. Handlungsbereich: Mitglieder

      Die Anerkennung einer Bewegung und ihrer Gemeinschaften durch die kirchliche Autorität setzt voraus, dass Statuten erarbeitet werden. Diese müssen unter anderem regeln, wie die Mitgliedschaft erworben und wieder aufgekündigt werden kann, und welche Pflichten und Rechte damit verbunden sind. Daraus folgt, dass alle Mitglieder einer Bewegung ihr freiwillig angehören. Prioritäre Leitungsaufgabe hat deshalb dafür zu sorgen, dass diese Freiwilligkeit in jedem Moment und für jedes Mitglied gewährleistet ist. Die Freiheit, eine Bewegung wieder zu verlassen, wird zum Beispiel erheblich eingeschränkt, wenn ehemalige Mitglieder sozial geächtet und spirituell abgewertet werden. Leitungsaufgabe ist es, eine Kultur zu schaffen und zu bewahren, in der ein freundschaftliches Verhältnis zu ausgeschiedenen Mitgliedern der Regelfall ist. Wenn kirchliche Bewegungen auch Familien zu ihren Mitgliedern zählen, hat die Leitung auch Verantwortung für die Freiheit der Kinder, die „in die Bewegung hineingeboren werden“, über ihre Nähe oder Distanz zur Bewegung selbst zu entscheiden. Leitung muss jedem Mitgliedschafts-Automatismus entgegen arbeiten.

        Da alle Mitglieder freiwillig dabei sind, unterstützen sie die Bewegung, ihre Ziele und Aufgaben nur soweit, wie sie deren Sinn und Zweck verstehen und teilen. Mitglieder möchten sich gesehen und akzeptiert fühlen und einen persönlichen Gewinn erleben. Dieser Bereich der Leitungsaufgaben ist den Leitungsaufgaben in einer Pfarrgemeinde zu vergleichen. Die Vision und das Charisma wach zu halten und die Mitglieder dahinter zu versammeln, ist hier das zentrale Leitungsinstrument.

        Mitgliederbindung braucht unmittelbaren sozialen Kontakt. Das konkretisiert sich in Charismenförderung: durch personale Nähe, Verbundenheit und Formen sozialer Gratifikation, sowie durch Hilfe bei der Klärung und Unterscheidung ihrer Charismen. Dazu müssen die Leitenden – bei allem Respekt vor deren Privatsphäre – die Mitglieder gut kennen und ihnen in Wohlwollen verbunden sein. Die Leitung hat zudem die Aufgabe, die intrinsische Motivation der Mitglieder zu stärken und gegen die Versuchung zur Selbstausbeutung zu schützen.

        Jenseits formal erklärter fällt die erlebte Mitgliedschaft für die meisten Menschen mit ihren Beteiligungsmöglichkeiten zusammen. Leitung im offenen Mitgliederbereich bedeutet deshalb auch, Partizipation an der internen Organisation, an der Sendung und an den Entscheidungsprozessen zu ermöglichen. Nur wenn eine sinnstiftende Selbstwirksamkeit erlebt wird, wird eine freie Mitgliedschaft aufrecht erhalten. Dabei ist auf einen gesunden Ausgleich und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den (angestellten) professionalisierten Mitarbeiter*innen und den freiwillig engagierten Mitgliedern zu achten. Einzelgespräche und Konfliktmanagement sind hier wichtige Instrumente.

        Die häufigste Rechtsform der kirchlichen Bewegungen ist die eines privaten Vereins von Gläubigen. Die Statuten solcher Vereine umfassen zwingend Regeln für die Wahl der Leitung, für Mitgliederversammlungen, für Abstimmungsmodi, Rechenschaftspflichten etc. Aufgabe der Leitung ist es, die konsequente Anwendung dieser Regeln nach Buchstabe und Geist der Statuten zu organisieren und zu schützen. Die Mitglieder in ihrer Gesamtheit sind der Souverän der Vereinigung. Ihnen kommt es zu, die großen Linien der apostolischen Tätigkeit, des Gemeinschaftslebens und der Einbindung in andere kirchliche Kontexte festzulegen. Die Leitung muss sich deshalb stets selbst relativieren und in ihrem Handeln an die Willensäußerungen des kollektiven Souveräns rückbinden. Instrumente sind Rechenschaftsberichte, verlässliche und effiziente Rückmeldeschleifen sowie Formen direkter Demokratie.

        Neben der kirchlichen Rechtsform für ihre Mitglieder sind viele kirchliche Bewegungen auch als zivilrechtliche „Eingetragene Vereine“ organisiert. Die dort verlangten Unterlagen und Nachweise für die Gemeinnützigkeit zu erbringen, ist ebenfalls Leitungsaufgabe. Im Rahmen der Gemeinnützigkeit haben die Leitungskräfte für den satzungsgemäßen, transparenten, gerechten, sozial und ökologisch[8] verantwortlichen Einsatz der Geldmittel des „Eingetragenen Vereins“ zu sorgen.

        Die Statuten sowohl der kirchlichen als auch der zivilen Rechtsform weisen die Verantwortung für die Außenvertretung eines Vereins der gewählten Leitung zu. Dazu gehört die Zusammenarbeit mit den relevanten Größen des staatlichen und kirchlichen Lebens ebenso wie die Verantwortung für die mediale Außendarstellung, Repräsentation und Rechenschaft. Notwendig ist eine authentische, ehrliche Kommunikation, die Ideal und tatsächliche Realität der Bewegung widerspiegelt.

        5. Handlungsbereich: Institute des geweihten Lebens

        Obwohl sie als Vereinigung von Laien verfasst ist, versammelt manche kirchliche Bewegung unter ihrem Dach auch rechtlich selbstständige Klerikergemeinschaften und Institute des geweihten Lebens. Das Kirchenrecht schließt eine Weisungsbefugnis von Laien über Klerikergemeinschaften und Religiosen aus, selbst wenn sie gewählte Verantwortliche der kirchlichen (Gesamt-)Vereinigung sind. Leitung besteht in diesem Fall wesentlich aus Diplomatie. Ziel und Aufgabe ist es, die jeweiligen Höheren Oberen bzw. Leitenden in ein gemeinsames Projekt, eine geistliche Familie und einen verlässlichen Zusammenhalt einzubinden. Dazu müssen regelmäßige, verlässliche Gesprächskanäle geschaffen und offengehalten werden.

          Im Idealfall kann dafür auf ein durch Selbstverpflichtung entstandenes Regelwerk zurück gegriffen werden. Sollte ein solches Regelwerk noch nicht bestehen, ist es Aufgabe der Gesamtleitung, es partizipativ zu entwickeln und damit in gewisser Weise Partikularrecht zu schaffen.

          Besonders heikel ist die Leitungsaufgabe, wenn in einem rechtlich selbständigen, aber der Bewegung inkorporierten Institut schwere Missstände auftreten, die für deren Mitglieder schädlich sind und das Ansehen des Instituts und der ganzen Bewegung belasten. Da keine Durchgriffsrechte vorliegen, kann die Leitung hier nur auf Einsicht hinwirken, muss aber im Notfall für Zwangsmaßnahmen den Weg über die zuständige kirchliche Autorität – bei päpstlicher Rechtsform die Dikasterien für die Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens sowie das für den Klerus, bei bischöflicher Rechtsform der Ortsordinarius – gehen. Vertrauensvolle und regelmäßige Kontakte zu diesen Stellen gehören deshalb ebenfalls ins Portfolio der Gesamtleitun einer kirchlichen Bewegung.

          6. Handlungsbereich: Freund*innen

          Jede kirchliche Bewegung hat eine Corona von Freund*innen, die meist um ein Vielfaches größer als der Kreis der Mitglieder ist. Dazu gehören in einer großen Bandbreite von Nähe und Distanz Besucher*innen von Veranstaltungen, Spender*innen, Unterstützer*innen, Menschen, die sich in ihrem geistlichen Leben am Charisma der Bewegung orientieren, ohne den Schritt in die Mitgliedschaft zu gehen, Leser*innen einer Zeitschrift der Bewegung… Der Freundeskreis ist   amorphes, sich rasch veränderndes Gebilde, vergleichbar einer „Wolke“. Leitung im eigentlichen Sinn ist hier nicht möglich. Gleichwohl stellt auch der Freundeskreis erhebliche Anforderungen an die Leitung einer Bewegung. Diese wichtige Gruppe von Personen muss regelmäßig gepflegt werden. Dazu gehören Informationen aus dem Innenleben der Gemeinschaft, spirituelle Anregungen und Beteiligungsmöglichkeiten. Je ferner vom Zentrum einer Organisation sich eine Person ansiedelt, desto stärker ist sie dabei auf die Leitung als den sichtbarsten Teil der Bewegung ausgerichtet. Von ihr werden die „Gratifikationen“ erwartet, die den/die „Freund*in“ im Orbit der Bewegung hält.

            Im Wesentlichen wird der „Freundeskreis“ geführt, indem die Vision, die apostolische Sendung, das Charisma anziehend und begeisternd kommuniziert und mit Berichten über authentische Lebensentwürfe von wichtigen Personen in der Bewegung kombiniert wird. Storytelling ist hier ein wichtiges Instrument. Dabei muss die gefühlte Zugehörigkeit attraktiv angeboten werden: Sie ist etwas Besonderes und macht besonders.

            Querschnittsherausforderung: Gründerpersönlichkeit

            Die meisten kirchlichen Bewegungen und Gemeinschaften sind aus dem Wirken einer charismatischen Persönlichkeit entstanden. Diese Gründerpersönlichkeiten haben die Ausrichtung und spezifische Spiritualität der Bewegung geprägt. Inzwischen sind viele Gründerpersönlichkeiten entweder nicht mehr in der aktiven Leitung ihrer Bewegungen oder bereits verstorben. Die Bewegungen verstehen sich dann als Verstetigung des Charismas der Gründerpersönlichkeit über deren Tod hinaus, sodass diese faktisch bleibend Leitung ausübt. Anstehende Richtungsentscheidungen können zumeist nur im Abgleich mit dem Gründerwillen debattiert werden.

            Aktuelle Leitungspersonen in den kirchlichen Bewegungen verstehen sich oft vor allem als Nachfolger*innen und sehen eine ihrer zentrale Aufgabe darin, das Erbe zu bewahren. Die Akzeptanz der aktuellen Leitungspersonen hängt wesentlich daran, dass sie sich als authentische Verteidiger*innen und Interpret*innen der Gründungsidee und -persönlichkeit etablieren. Durch das Gründungscharisma ist die Handlungsfreiheit der aktuellen Leitung begrenzt. Leitungsinitiativen, die Setzungen des*der Gründer*in aus aktuellen Fragestellungen heraus relativieren (müssen), werden in der Bewegung als eigenmächtig und schnell als illegitim aufgefasst. Es besteht die Gefahr, dass die Erinnerung an die Gründung von internen Oppositionsgruppen als entscheidendes Argument gegen die Leitung eingesetzt wird. Gelingt es der Leitung, sich als rechtmäßige Nachfolgerin zu positionieren, schlüpft sie unter den „Schutzmantel“ der Gründerpersönlichkeit und partizipiert an deren weitgehender Immunität gegen Kritik.

            Die Gründerpersönlichkeit wirkt durch konkrete, von ihr gesetzte Regelungen, durch ihr Lebenszeugnis, durch Predigten, Schriften – und durch die unzähligen Geschichten und Anekdoten, die über sie erzählt werden. Die formalen Festlegungen sind von einer ganzen Wolke von Erinnerungen umgeben, denen in der Wahrnehmung der Mitglieder vergleichbare Verbindlichkeit zukommt. Diese Wolke ist nicht begrenz- oder kontrollierbar. Es können ständig neue Erinnerungen hinzukommen. Auch deren Exegese und paränetische Anwendung auf Gegenwartsfragen flottiert frei in der ganzen Mitgliedergemeinschaft. Die Leitung einer kirchlichen Bewegung ist dadurch immer mit einem anarchischen Element konfrontiert.

            Wegen ihrer Gründer*innenbindung sind kirchliche Bewegungen – unabhängig von ihrer spirituellen oder kirchenpolitischen Ausrichtung – immer strukturkonservativ. Erfahrungen, Lösungen, theologische Konzepte, Menschen- und Weltbild aus einer teilweise bis zu einhundert Jahren zurückliegenden Vergangenheit wird häufig Ewigkeitswert zugeschrieben. Sie steuern Denken und Entscheiden der heutigen Verantwortlichen wesentlich mit. Dadurch kann sich die normale und soziologisch notwendige Innen-/Außenunterscheidung zu einer Frontstellung gegen „Neuerungen“ verhärten. Dies verhindert die notwendige kontinuierliche Pflege, Reinigung, Anpassung und Weiterentwicklung des Gründercharismas. Dann kommt es zu einem Rückzug vom zeitgenössischen Lebensgefühl und den spirituellen Suchbewegungen des 21. Jahrhunderts. Nicht wenige Bewegungen kämpfen deshalb – ähnlich wie Pfarreien und Verbände – mit Überalterung. Den gewählten Leitungen stehen kaum Möglichkeiten zur Verfügung, diese Dynamik zu durchbrechen. Dennoch werden sie für schrumpfende Mitgliederzahl und zurückgehende Bindungskraft verantwortlich gemacht. Für dieses Dilemma gibt es keine Lösung.

            Die Herausforderung für die Leitungskräfte ist größer, wenn die Gründerpersönlichkeit am Leben ist, sich aber aus dem operativen Leitungsgeschäft zurückgezogen hat. Selbst wenn der*diejenige sich nie mehr zu aktuellen Richtungsfragen äußert, entstehen weiter Predigten, Schriften und Erzählungen. Diese können die aktuelle Leitungsebene in Schwierigkeiten zu bringen, denn die erste Loyalität der Mitglieder gilt der Gründerpersönlichkeit. Nur das öffentlich inszenierte Gespräch zwischen der aktuellen Leitung und der Gründerpersönlichkeit kann hier dämpfend entgegenwirken.

            Besonders heikel ist die Leitungsaufgabe als „Nachfolger*in“ in einer kirchlichen Bewegung, wenn gegen die Gründerpersönlichkeit plausible Vorwürfe des Machtmissbrauchs, spirituellen Missbrauchs oder sexualisierter Gewalt vorliegen. Die Leitung ist dann mit einer einflussreichen Gruppe konfrontiert, die die Plausibilität leugnet und die Gründerpersönlichkeit von allen irdischen Fehlern rein gewaschen bewahren möchte. Eine zweite Gruppe – eher am Rand der Bewegung – fordert in dieser Situation die radikale Abkehr von der Gründerpersönlichkeit. Die weitaus größte Gruppe aber erwartet von den Verantwortlichen, Charisma und menschliche Schwächen in der Gründerpersönlichkeit chemisch rein voneinander zu scheiden. Das ermöglichte, die unbewusste Illusion, die eigene Spiritualität und Lebensregel unverändert beibehalten zu können. Diese Situation ist meist nicht lösbar und führt zu einer bleibenden Unwucht und bedeutet eine schwere Belastung für Betroffene und Bewegung.

            Querschnittsherausforderung: Kirchlichkeit

            Kirchliche Bewegungen und ihre Gemeinschaften sind Teil der katholischen Kirche, wenn auch ihr Zugehörigkeitsstatus unterschiedlich und manchmal länger unklar ist. Damit unterliegen sie dem gesamtkirchlichen Recht, insbesondere den Regelungen für die kirchlichen Vereinigungen, gegebenenfalls in Teilen auch dem Ordensrecht. Sie unterstehen der Aufsicht durch die römischen Behörden: das Dikasterium für die Laien, manchmal zusätzlich die Dikasterien für den Klerus sowie das für die Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens. Sind sie nur diözesan anerkannt, so übt der Bischof als Ortsordinarius die Aufsicht aus. Über entsprechende Kenntnisse und Kontakte zu verfügen, gehört zur Leitungskompetenz der Verantwortlichen. Dabei stellen die Bewegungen wegen ihrer inneren Struktur als Laienbewegungen, die aber sehr oft Kleriker und Mitglieder von Instituten des geweihten Lebens in ihre Reihen aufgenommen haben, eine konstante Herausforderung für das Kirchenrecht dar, das keine Rechte von Laien über Kleriker und Ordensleute kennt. In diesem systemischen Konflikt immer wieder konkrete taugliche Lösungen auszuhandeln, ist eine wichtige Aufgabe für die Leitungspersonen.

            Wegen ihres oft länger unsicheren kirchlichen Rechtsstatus und um sich dem Zugriff nachgeordneter Autoritäten zu entziehen, haben sich nahezu alle kirchlichen Bewegungen kommunikativ eng an Papst und kirchliches Lehramt gebunden. Daraus ergab sich häufig ein enges Korsett dogmatischer, disziplinärer und moralischer Linientreue. Konfrontiert mit der Vielgestaltigkeit von Lebenswirklichkeiten, die nie die reine Lehre abbilden, müssen die Leitungsverantwortlichen in der Lage sein, Linientreue und Mitgliederbindung kreativ miteinander zu verbinden.

            Durch die starke Bindung an das notwendig abstrakt argumentierende Lehramt entsteht die Versuchung, im Zweifelsfall gegen die Menschen und damit für eine Sektenwirklichkeit der Bewegung zu entscheiden. Die „Sekte“ begleitet jede kirchliche Bewegung beständig als „Schattenschwester“. Leitungsverantwortliche müssen sich aktiv gegen diesen drohenden Teufelskreis stemmen. Die Bewegung muss kirchlich und katholisch bleiben: sowohl im lehramtlichen Sinn als auch in der Wortbedeutung von „allumfassend“. Sie darf keine Sondergruppe mit sektoiden Zügen werden: eine Herkulesaufgabe für alle Verantwortlichen.

            Die kirchlichen Bewegungen sind alle aus einem Wachstumsimpuls heraus gegründet und sehen sich in ihrer Mehrheit dem wachstumsorientierten Konzept der Evangelisierung verpflichtet. Damit treffen sie in Deutschland auf den allgegenwärtigen Abwärtstrend der Kirche in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Leitungsverantwortung in organisationalen Abwärtsspiralen ist in sich schon äußerst anspruchsvoll. Leitungsverantwortliche in den kirchlichen Bewegungen müssen darüber hinaus mit der Spannung aus schrumpfenden kirchlichen Kontexten und eigener Wachstums-DNA umgehen.

            Querschnittsherausforderung: Geistlich leiten

            Erfolgreiche Leitung handelt immer kontextsensibel: sie verwendet organisationstypische Sprache, greift spezifische Themen auf und agiert entsprechend geprägten Erwartungsmustern geistlicher Bewegungen und Gemeinschaften. Leitung wird aber nicht einfach durch den Kontext geistlich. Geistlich leiten im präzisen Wortsinn geschieht, wenn sich die Verantwortlichen selbst und die Gruppierung im Ganzen vom Geist Gottes leiten lassen.

            Geistliche Leitung balanciert dabei immer auf einem schmalen Grat zwischen spezifischer Chance und Missbrauchsversuchung. Nutzt eine Leitungsperson den Anspruch geistlich zu leiten, indem sie den „Geist Gottes“ usurpiert und damit die eigene Autorität stärkt und unangreifbar macht, übt sie geistlichen Machtmissbrauchaus. Jede Leitung, die sich zwischen den Geist Gottes und andere Menschen stellt, handelt häretisch, denn sie setzt sich an Gottes Stelle und maßt sich seine Autorität an.[9] Wird die Leitungsperson von den Mitgliedern in einer Weise idealisiert, dass ihre Autorität in die Nähe des Wortes Gottes gerückt wird und geht die Leitung nicht aktiv dagegen an, handelt sie ebenfalls geistlich missbräuchlich.[10] Niemand darf über das Wirken der Heiligen Geistkraft bestimmen, sie festlegen und für eigene Ziele benutzen.

            Der Geist Gottes gibt kein sicheres Wissen, das unabhängig von einer Deutung, eindeutig und unhinterfragbar richtig wäre. Da er Gott ist und damit nicht Teil der materiellen, geschaffenen Welt, wirkt der Geist in der Welt nur indirekt durch Zweitursachen[11]. Diese sind immer ambivalent. Ihre Wirkung kann unterschiedlich gedeutet, erklärt und benutzt werden. Jede Person, die vorgibt zu wissen, was der Geist Gottes für eine andere Person, eine Gemeinschaft oder Bewegung will, die irrt oder sie betrügt.

            Geistliche Leitung, die diese Qualifizierung verdient, agiert genau gegenläufig. Sie wehrt allen Versuchen der Eindeutigkeit, sie setzt sich aktiv gegen gruppendynamische Schließungstendenzen[12] ein, stößt ergebnisoffene Partizipationsprozesse an, achtet darauf, dass alle Geistträger*innen – und das sind mindestens alle getauften Christ*innen – zu Wort kommen können, sorgt dafür, dass besonders auch das Wort der „Kleinen“, weniger Angesehenen, Frauen, Jungen…, das Wort der Armen und gegebenenfalls der Behinderten Gehör findet. Solange eine Stimme fehlt, ist der Leib Christi nicht vollständig[13] und das Wort Gottes, das die heilige Geistkraft in die jeweilige Situation sprechen will, nicht zu Ende und in seiner ganzen Tiefe gehört.

            Geistliche Leitung steht also dafür ein, dass die Geistkraft Gottes vermittelt durch die Geistträger*innen in den Abläufen der Bewegung oder Gemeinschaft eine aktive Rolle spielen kann. Hier geht es darum, die spirituelle Überzeugung, dass der Geist Gottes in allen Geistträger*innen in gleicher Weise wirken kann, mit den Notwendigkeiten von Entscheidung und personalisierter Verantwortung zusammen zu bringen. So müssen partizipative Abläufe geschaffen und offen gehalten werden, die ein gemeinsames Hören auf den Geist Gottes und eine gemeinsame Unterscheidung der Geister ermöglichen, ohne dass es zu endlosen Debatten kommt und notwendige Entscheidungen durch Verantwortungsdiffusion ständig verschoben werden.

            Auch geistliche Leitung beginnt mit Selbstleitung. Wer geistlich leiten will, muss sein eigenes Leben unter diese unkontrollierbare, irritierende Führung des Geistes stellen. Da aber niemand in der Lage ist, den „Balken im eigenen Auge zu sehen“ (Mt 7,4), ist der erste Schritt geistlicher Leitung, dass alle Verantwortlichen sich durch professionell ausgebildete Geistliche Begleiter*innen im „forum internum“ unterstützen lassen. Dann aber gehört es zu ihrer Fachlichkeit als Leitungspersonen, dass sie sich im „forum externum“ ihrer Leitungsaufgaben eine funktionierende Feedback-Kultur aufbauen und verlässliche Verfahren für Rückmeldung und Kritik schaffen. Ein historisch bewährtes, geistliches Verfahren dafür liegt in der „Unterscheidung der Geister“ vor, wie sie Ignatius von Loyola in seinem Exerzitienbuch einführt. Die „Geister“ können nur dialogisch, in organisationalen Kontexten nur in kommunitären Verfahren einigermaßen verlässlich unterschieden werden.

            Aufgabe der Leitung ist es deshalb, dafür zu sorgen, dass alle Mitglieder solche kommunitären Verfahren der Unterscheidung der Geister erlernen und einüben können. Des Weiteren muss sie für regelmäßige und transparenten Verfahren geistlicher Unterscheidung Sorge tragen.[14] Unterscheidung der Geister gehört in alle Entscheidungsprozesse, wenn eine Bewegung oder Gemeinschaft geistlich geleitet werden soll.

            Geistliche Leitung kann deshalb niemals eine Eigenschaft oder Job-Description einer oder mehrerer Personen sein.[15] Geistliche Leitung ist eine Qualität partizipativer, transparenter und gerechter Steuerungsprozesse innerhalb einer Gruppierung – eine Qualität eines Leitungsgeschehens, an dem alle Betroffenen in je ihrer spezifischen Weise beteiligt sind. Trägt eine Person den Titel „geistliche Leitung“ zu Recht, dann deshalb, weil sie genau dafür Sorge trägt, dass geistliches Suchen und Unterscheiden allen zukommt und die ganzen Entscheidungsprozesse durchzieht. Geistliche Leitung ist ein gemeinschaftliches Geschehen. In dieses eingebettet und funktional darauf hingeordnet ist sie auch – punktuell und stellvertretend – eine personalisierte Verantwortung. Das Beiwort „geistlich“ steht dabei nie für Immunisierung, sondern für eine radikale Relativierung jeglichen Leitungshandelns.  

            Geistliche Leitung muss den Geist Gottes vor Manipulation und theologischer Vereinseitigung schützen. Der Geist ist der Geist Jesu. Es ist die Geistkraft, die in der ganzen Kirche und allen ihren Verwirklichungen aktiv ist. Sie ist aus innerer Notwendigkeit heraus kreativ und schafft Leben. Die heilige Geistkraft verbindet und spaltet nicht, sie tröstet und macht niemals kleinmütig. Wo immer Missbräuchliches und Gewalt aufgedeckt werden, ist der Geist Gottes am Werk. Deshalb muss geistliche Leitung selbst kritisch bleiben und alle Mitglieder zu Skepsis und Kritik anhalten: Ist es wirklich der Geist Jesu, der zu uns zu sprechen scheint? Oder sind es unsere Partikularinteressen, die Erwartungen der Spender*innen, problematische (Binnen-)Traditionen, unbewusste Idealisierungen und Projektionen…?

            Da geistliche Leitung alle Mitglieder, Mitarbeiter*innen, Freund*innen, Verantwortlichen von Teilgemeinschaften… einschließt, kann geistlicher Missbrauch überall um sich greifen. Verantwortung der Leitungspersonen ist es, dem auf allen Ebenen entgegen zu wirken. Geistlicher Missbrauch kann, weil er sowohl Täter*innen als auch Betroffenen lange durch ideologische Überformungen verborgen ist, nur von „außen“, d.h. durch eine außenstehende kirchliche Autorität oder von „oben“ durch die übergeordnete Leitung beendet und aufgearbeitet werden. Der Schutz der Bewegung und ihrer Reputation darf dabei unter keinen Umständen dem Schutz der Mitglieder und Freund*innen der Bewegung übergeordnet werden. Um effizient vorgehen zu können, muss die Leitung auf externe Fachleute und die Unterstützung des jeweiligen territorial zuständigen Ortsordinarius zurückgreifen.

            • Resümee: Komplexe Matrix

            Leitung geschieht nie theoretisch, sondern arbeitet sich konkret an einem ständigen Fluss praktischer Fragestellungen und notwendiger Entscheidungen ab. Dabei verweben sich die sechs Handlungsbereiche und drei Querschnittsherausforderungen zu einer komplexen Matrix mit bis zu achtzehn Feldern. Die Matrix ermöglicht es, für jede Bewegung ein spezifisches Profil zu beschreiben. Mit Hilfe des Profil können dann die Leitungsaufgaben ermittelt werden. Die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Felder ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Handlungsbereich und Querschnittsherausforderung. Beispiele: Was bedeutet die Kirchlichkeit für die Mitarbeiterführung? Welchen Einfluss nimmt das Gründungscharisma auf das Zusammenwirken der Bewegung und ihrer Institute des geweihten Lebens? Wie können Freund*innen der Bewegung in den gemeinsamen Prozess geistlicher Leitung einbezogen werden?

            Durch die Komplexität der Matrix ist jedoch auch eine systemische Überforderung beschrieben. Das Faktum, dass Leitung in kirchlichen Bewegungen weitgehend ehrenamtlich, ohne umfassende berufliche Qualifizierung geleistet wird, verstärkt die Überforderung weiter. Um dennoch auf eine professionelle, dabei den Bewegungen angemessene, geistgeführte Leitung hinwirken zu können, brauchen die Leitungspersonen vielfältige Unterstützung durch Weiterbildungsangebote, Beratungsmöglichkeiten, Feedback und wechselseitige Hilfe – zwischen den Bewegungen und durch die Orden und Ortskirchen.


            [1] Vieles, was im Folgenden ausgeführt wird, gilt in ähnlicher Weise für gute kirchliche Leitung in anderen Feldern.

            [2] Hilfreiche Anleitungen finden sich unter anderem auf Internetseiten zu Management und Führung – z.B. https://www.business-wissen.de

            [3] Hersey, P./ Blanchard, K. H.: Management of organization behavior: Utilizing human resources. 4/1982, Englewood Cliffs.

            [4] https://www.pinterest.de/pin/business-wissen-management-security-reifegradmodell-hersey–1026680046279549122/

            [5] Bolby, J.: Attachment and Loss, New York 1969

            [6] Gordon, Th.: Familienkonferenz, München 2022

            [7][7] „Discipleship of Equals” vgl. Schüssler-Fiorenza, E.: Zu ihrem Gedächtnis, München/Mainz 1988, 137ff.

            [8] Seit der Enzyklika „Laudato si“ sind soziale und ökologische Kriterien für jede Form des Einsatzes finanzieller Mittel für alle kirchliche Sozialformen verbindlich.

            [9] Missbräuchlich bleibt das Leitungshandeln unabhängig davon, ob die Entscheidungen, die sie auf diese Weise begründet, für die Gemeinschaft förderlich oder schädlich sind.

            [10] Geistlicher Missbrauch ist es, wenn jemand sich selbst für die Stimme Gottes hält, oder wenn er*sie zulässt, dass andere sie*ihn dafür halten. Vgl. Mertes, K.: Geistlicher Missbrauch. Theologische Anmerkungen, Stimmen der Zeit, 2/2019, 93-102, 93.

            [11] „Die innerweltlichen Einzelursachen bezeichnet Thomas [von Aquin] dagegen als Zweit- bzw. Sekundärursachen, insofern sie bleibend auf die sie im Dasein erhaltende Erstursache verwiesen sind, zugleich aber auf geschöpflicher Ebene eine eigene Wirkursächlichkeit entfalten.“Stosch, K. von: Gott – Macht – Geschichte. Versuch einer theodizeesensiblen Rede vom Handeln Gottes in der Welt. Freiburg 2006, 62.

            [12] Vgl. Bion, W.: Group dynamics: a review. International Journal of Psycho-Analysis, 33/1952

            [13] Diese Formulierung verdanke ich P. Etienne Grieu SJ vom Centre Sèvres in Paris.

            [14] Für praktische Anregungen siehe: Hundertmark, P. – https://geistlich.net/anleitung-fuer-komplexe-geistliche-unterscheidung-in-gemeinschaft und ders. https://geistlich.net/professionell-synodal

            [15] Vgl. Daum, M.: Un consultant chez les religieuses. Paris 2020, « Gouvernance par discernement », 225

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