Unterscheidet sich die spirituelle Erfahrung von Gottsucher*innen heute grundsätzlich von den Erfahrungen und Einsichten der Menschen der Bibel? Sind in nachbiblischer Zeit nur abgeleitete Gottesbegegnungen möglich? Wie ist es zu bewerten, wenn Gott sich in neuen Bildern und Gestalten zeigt?
Offenbarung geht weiter
Text: Peter Hundertmark – Photo: fietzfotos/pixabay.com
Das Christentum ist eine Offenbarungsreligion. Dadurch unterscheidet es sich zusammen mit Judentum und Islam von anderen Religionsformen. Aber was ist Offenbarung? Die Antwort scheint nur auf den ersten Blick einfach: In der Heiligen Schrift ist die Offenbarung aufgeschrieben. Aber das Christentum ist keine Buchreligion. Im Mittelpunkt steht die Person Jesu von Nazareth, den wir als Christus, als Gesandten, als Bild, Wort, Weisheit und als Sohn Gottes glauben. Die Geheimnisse seines Lebens sind unser Zugang, unser Schlüssel und die Tür zur ganzen Schrift, aber auch zu aller geistlichen Erfahrung und auch zur Schöpfungsmystik. Auch den Kosmos glauben wir in Christus gegründet und auf ihn hin ausgerichtet. Die Mitte der Offenbarung ist Jesus Christus, in dem sich Gott selbst gibt.
In der Offenbarung zeigt Gott nicht nur etwas von sich, macht nicht nur sein Wollen offen- und verstehbar, gibt er nicht nur Anteil an seiner Kraft und seinem Leben: Er gibt sich selbst. Offenbarung ist Hingabe Gottes an die Menschen. Gott gibt sich. Jetzt. Jeder und jedem. Immer. Und er gibt sich ganz. Es gibt nie nur ein bisschen Gott. Er lässt sich durch nichts daran hindern, sich selbst in die Begegnung zu geben. Seine Hingabe kann nicht verdient, aber auch nicht aufgehalten werden. Sie hängt nicht an frommen Übungen oder theologischer Einsicht. Aber natürlich kann diese Hingabe ins Leere laufen – wenn sie nicht verstanden, nicht angenommen, nicht erwidert wird. So kommt die Offenbarung erst ganz zu sich, wenn sie beantwortet wird. Offenbarung ist ein Geschehen von zwei Seiten: Gott, der sich gibt und der Mensch, der sich zurückgibt. So schwebt und wirkt die Offenbarung in jeder Begegnung von Gott und Mensch. Sie ist in jedem Moment neu und doch immer sie selbst.
Sie selbst ist Offenbarung immer, weil sie stets das Bild Christi zeigt. Nicht jede Gipfelerfahrung, nicht jedes Transzendieren der Alltagsrealität, nicht jede Trance ist Offenbarungsgeschehen. Auch ist es immer die ganze Gestalt Christi, die im Offenbarungsgeschehen aufscheint. Eine Begegnung mit etwas Göttlichem, das sich vom Leben und Lebensschicksal Jesu ablöst, eine Vision des Auferstandenen ohne die Wundmale der Kreuzigung, ein Blick in den Himmel, bei dem nicht der Menschensohn zur Rechten Gottes steht, führen leicht in die Irre. Christliche Offenbarung versteht sich immer von Jesus Christus her und auf ihn hin. Wenn auch nicht jedes Offenbarungsgeschehen unmittelbar und inhaltlich von Christus spricht, so ist er doch immer der hermeneutische Schlüssel. Christlich wird jegliche Gotteserfahrung von der Erlösung und Neuschöpfung in der Auferweckung Jesu her gelesen und bewertet.
Offenbarung trägt deshalb auch immer die theologischen Merkmale des Christusgeschehens. Christus aber ist Jesus, er ist Immanuel – Gott mitten unter uns, in unserem Fleisch, Mensch unter Menschen. Jede Offenbarung folgt dieser Logik der Menschwerdung. Immer nutzt sie Bilder, Ideen, Erfahrungen und Deutungen, die kulturell bereits vorhanden sind. Sie ergeht nach Menschenmaß. Sie ist auch niemals roh, pur und unwiderstehlich. Offenbarung geschieht immer im anderen ihrer selbst. Sie ist vermittelt, verbirgt und gibt sich zugleich in Dingen dieser Welt. Wie Jesus in seinen Begegnungen braucht auch die Offenbarung, die jetzt und immer geschieht, den Glauben, der in der menschlichen Gestalt die Gegenwart Gottes erblickt, in der Regung der Seele den Herrn selbst am Werk findet, die Liebe Gottes spürt und ihr antwortet. Offenbarung geschieht, wenn etwas im Menschen jubelt: Es ist der Herr. (Joh 21,7)
Jedes Offenbarungsgeschehen ist geprägt von dem Menschen, dem es geschieht, von seiner Persönlichkeit, seiner Zeit und Situation. Die Offenbarung wischt den menschlichen Partner nicht weg. Im Gegenteil sie geht den Weg Jesu, den Weg der Entäußerung und der Demut. Sie wirbt und lockt und ruft, aber sie drängt nicht, zwingt nicht, überwältigt nicht. Offenbarung ergeht persönlich. Das ist für die Autor*innen der Bibel nicht anders als für die Gottsucher*innen heute. Die Offenbarung, die Kohelet niederschreibt, klingt und schmeckt völlig anders als die Offenbarung des Deutero-Jesaja und wieder anders als die Offenbarung an Amos, anders als die Offenbarung an Franz von Assisi und anders als die Offenbarung, die sich heute Gottsucher*innen erschließt.
Es macht deshalb auch keinen Sinn, die überzeitliche Bedeutung „hinter“ dem zeitgebundenen Offenbarungsgeschehen suchen zu wollen. Offenbarung ist immer kontextuell, orts-, zeit- und personengebunden, ist Gotteswort im konkreten Menschwort, Gotteserfahrung in einmaliger menschlicher Erfahrung, Gottesgegenwart in individuellen menschlichen Regungen und Bewegungen der Seele. Offenbarung „riecht“ und „schmeckt“ immer nach einem lebendigen Menschen. Je lebendiger, wärmer, farbiger… der Mensch im Geschehen göttlicher Offenbarung spürbar wird, desto einladender und berührender ist die Offenbarung. Die Gleichnisse und Begegnungen Jesu sind dafür ein sprechendes Beispiel. Ein herausdestillierter, abstrakt theologischer Glaubenssatz hingegen kann zur Orientierung sehr hilfreich sein, Offenbarung ist er nicht.
Offenbarung ist immer Evangelium: gute Neuigkeiten – und fühlt sich auch so an. Sie öffnet einen Raum lebendiger Begegnung, sie nährt und tröstet, sie setzt frei und lässt wachsen, sie stimuliert je neue, kreative Gottsuche und weist den Weg ins Land der Verheißung. Daran lässt sie sich von anderen geistigen Produktionen und Regungen der Seele unterscheiden. Offenbarung, die Selbstgabe Gottes an einen Menschen, nützt zudem niemals nur diesem einzigen Menschen. Es gibt in diesem Sinn keine Privatoffenbarung. Die Offenbarung, die aus dem Denken, Fühlen, Beten, Hoffen eines Menschen hervor tritt, geht potentiell immer alle Glaubenden an. Die Offenbarung an den jungen Samuel, dass Gott ruft und für sich in Dienst nimmt, hat Bedeutung und gibt den Rahmen für alle Gottsucher*innen aller Zeiten. Die Offenbarung an Teresa von Avila, dass Gott Freund ist und vertraute Freundschaft sucht, ist eine Zusage an alle Menschen. Auch daran lässt sich Offenbarung von anderen Erfahrungen unterscheiden. Ein drittes Kriterium tritt noch hinzu: Offenbarung aktiviert. Sie motiviert zu einem Handeln in der Logik des Reiches Gottes. Sie formt Menschen zu Mitmenschen, zum Nächsten, dessen der Not leidet, zu Sachwaltern der bedrohten Schöpfung. Was nur beruhigt, was ausschließlich ein Schatz und Trost für die eigene Seele ist, was nur dem eigenen Heil dient, ist nicht christliche Offenbarung.
Offenbarung verstanden als Selbstgabe Gottes im Bild Jesu Christi an die Menschen ist damit solange unabgeschlossen, als Gott lebt und Menschen leben und nach Gott fragen. Gott gibt sich jeder Zeit und jedem Kontext neu und überraschend – und ist doch immer der gleiche Gott, der seit Anbeginn der Zeit die gleichen Ziele verfolgt: Gerechtigkeit, Frieden, Erlösung, Versöhnung, Heilung… Gott erkennt sich selbst in jeder Offenbarung wieder. Für den menschlichen Partner der Offenbarung hingegen erfordert die Uneindeutigkeit des Geschehens, in dem Gott sich in weltlicher Gestalt und irdischen Bildern gibt, stets eine vertiefte Reflexion. Ist das, was mir da begegnet, der Gott der Bibel, der Gott Jesu Christi, der Gott meiner Glaubensgemeinschaft? Bei dieser Reflexion kommt der Heiligen Schrift eine entscheidende Bedeutung zu. In ihr ist die ganze Offenbarung schon da. Sie liefert die „Werkzeuge“ um Offenbarungen zu entschlüsseln. Ein Geschehen, das nicht an biblische Traditionen anschlussfähig ist, das nicht mit Leben und Botschaft Jesu überein gebracht werden kann, ist mit großer Wahrscheinlichkeit keine christliche Offenbarung. Die Heilige Schrift ist bleibend die Richtschnur, auch und gerade wenn Offenbarungen geschehen, die in ihren Lebensbezügen über die Welt der Bibel und die Erfahrungen antiker Menschen hinausgehen. Gott „verlangt danach, sich selbst jeder Gottsucherin und jedem Gottsucher zu geben, soweit er es nur vermag“ (vgl. Exerzitienbuch 234). Er zeigt sich je neu und ist doch immer mit sich identisch.