In den komplexen Anpassungsheraus-forderungen ist Kirche auf spezialisierte Organisationsberatung angewiesen. Kontextbezogene, partizipativ entwickelte theologische Reflexion – so die These – kann Horizonte jenseits der Selbststabilisierungs-sinteressen der Institution eröffnen. Der Text ist in der „Zeitschrift für Organisationsentwicklung und Gemeindeberatung, 22/2022“ erschienen.
Theologisch arbeiten?
Text: Peter Hundertmark – Photo: virnuls/pixabay.com
Kirchliche Organisationsberater*innen arbeiten professionell. Konkret heißt das, sie treten mit dem Anspruch an, offen, allparteilich und ohne Wertung dem beratenen System gegenüber unterwegs zu sein. Um das zu gewährleisten, wird viel in regelmäßige Inter- und Supervision investiert. So können mögliche Übertragungen und Gegenübertragungen erkannt und in ihrer Wirkung zu minimiert werden. Zugleich sind kirchliche Organisationsberater*innen natürlich ihrem jeweiligen Auftraggeber und seinen Zielsetzungen verpflichtet. Da Kirche einerseits ein soziales System ist, das ganz normalen sozialen Dynamiken und Regeln gehorcht, andererseits immer auch eine theologisch bestimmte Größe ist, ist auch hier besondere Achtsamkeit erforderlich. Dient der theologische Deuterahmen, der durch den Auftraggeber in der Regel nur implizit mitgegeben wird, für eine zukunftsfähige Kirchenentwicklung? Und wie steht es mit den eigenen ekklesiologischen und pastoralen Prägungen der Berater*innen? Denn der hermeneutische Zirkel schlägt immer gnadenlos zu: Man sieht, was man kennt, und strebt an, wovon man selbst überzeugt ist. Das kann genau hilfreich sein. Muss es aber nicht. In den unausgesprochenen theologischen Vorentscheidungen steckt die Gefahr, Kirchenentwicklung vergangenheitsgesteuert und nicht, wie natürlich beabsichtigt, wirklich offen zukunftsorientiert zu gestalten. Vielleicht aber liegt die Zukunft von Kirche jenseits der vertrauten Kirchenbilder.
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Indifferenz
Claus Otto Scharmer beschreibt in seinem Buch „Theorie U“[1] die gleiche Gefahr mit ganz anderen Bildern. Wird, um ein Problem anzugehen, direkt und auf der gleichen Ebene, auf der das Problem liegt, nach der Lösung gesucht, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Bedingungen des Problems in die Lösung mitgeschleppt werden. „Downloading“ nennt Scharmer dieses ebenso weit verbreitete, wie unterkomplexe Vorgehen. Frederic Vester nennt es in seiner „Kunst, vernetzt zu denken“[2] den „Hochrechnungsirrtum“, wird doch so getan, als könne man die bisherigen Erfahrungen und theoretischen Zugänge bruchlos in die Zukunft verlängern.
Ohne die Problembeschreibungen „Downloading“ und „Hochrechnungsirrtum“zu kennen, auch ohne mit dem Problem des hermeneutischen Zirkels vertraut zu sein, entwickelt bereits im 16. Jahrhundert Ignatius von Loyola, quasi als Abfallprodukt seiner „Geistlichen Übungen“[3] ein Verfahren, an der Wurzel selbst ansetzt. Er nennt den Zustand, in dem jemand wirklich frei handeln, beraten oder begleiten kann „Indifferenz“. Allparteilichkeit ist ein Element davon. Das Konzept aber ist wesentlich umfassender.
Um es einzuführen, unterscheidet Ignatius zuerst für jede denkbare Situation zwischen dem Ziel und den möglichen Mitteln. Die Mittel, so die Theorie, können je neu gewählt werden, um das Ziel unter den jetzt gegebenen Umständen anzustreben. Aber, so Ignatius, praktisch funktioniert diese an sich logische Vorgehensweise oft nicht, denn Menschen sind durch ihre Prägungen, Erfahrungen, Ideale… an manche Mittel emotional gebunden, während sie andere erst gar nicht in Betracht ziehen. Er nennt diese Grenzen der Wahlfreiheit in der Sprache seiner Zeit „ungeordnete Anhänglichkeiten“. Der moderne Begriff der „sachfremden Loyalitäten“ kommt dem relativ nahe.
Ungeordnete Anhänglichkeiten, sachfremde Loyalitäten, unreflektierte Vorentscheidungen… verhindern die Auswahl des jetzt besten Mittels. Solche emotionalen Bindungen können Menschen jedoch nicht einfach loslassen. Über die spontanen Sympathien und Antipathien sind wir nur sehr begrenzt Herr im eigenen Haus. Die inneren Bilder können nur schwer verlernt werden. Ignatius empfiehlt deshalb einen anderen Weg. Er empfiehlt, die sachfremden Loyalitäten möglichst schonungslos wahrzunehmen, um sie dann sich und anderen reflexiv offen zu legen. Durch diese Veröffentlichung wird ihr Einfluss transparent und damit automatisch begrenzt.
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Transzendierungen
Was aber ist das Ziel, dem die Mittel durch Indifferenz möglichst sachgerecht zugeordnet werden sollen? Was ist konkret das Ziel einer kirchenentwicklerischen Beratung? Das Ziel wird vom zu beratenden System vorgegeben? Damit liegt wieder von neuem die Gefahr des Downloading auf der Hand, denn jedes System schützt sich selbst und versucht sich auch gegen gewandelte Rahmenbedingungen zu prolongieren. Das Ziel wird von der kirchlichen Autorität gesetzt, entspringt also ihren Interessen und ihrem Verständnis von Kirche? Übergeordnete Autorität muss jedoch zwangsläufig recht abstrakt bleiben. Abstraktion wird jedoch nur durch Komplexitätsreduktion erreicht. Das allgemeine Ziel kann in der konkreten Situation unangebracht, ja dysfunktional wirken und den dort involvierten Menschen und ihren Anliegen schaden.
Erfahrene Kirchenentwickler*innen wissen, dass das wirklich zukunftsträchtige Ziel nicht aus dem System extrapoliert werden kann – weder aus dem unmittelbar beratenen System, noch aus dem Übersystem, das das beratene System in ein Ganzes integriert. Um das Ziel zu bestimmen, braucht es eine doppelte Transzendierung: nach „außen“, zu den Menschen, denen das System einen Nutzen verspricht, und nach „oben“, ist das Ziel von Kirche doch unauflösbar an den Herrn der Kirche gebunden. Der einen Transzendierung dient die Soziologie, die Empirie und Sozialraumforschung, der anderen die Theologie. Erst wenn beide zusammen gebracht werden, nützen sie dem System in seinen konkreten Entwicklungsherausforderungen.
Was aber ist das Ziel, das Gott für, mit und durch die Kirche verfolgt? Theologische Arbeit ist angesagt. Sofort steht nämlich eine erste theologische Entscheidung im Raum: Wer ist berechtigt das Ziel der Kirche zu definieren? Eine Theologie, die auf die Taufe reflektiert, die Communio im gemeinsamen Priestertum in den Mittelpunkt stellt, einem dialogisch-emergenten Offenbarungsverständnis verpflichtet ist, setzt hier beim „sensus fidelium“ an: Alle Männer und Frauen sind in gleicher Weise Geistträger*innen. Gemeinsam formen sie den Leib Christi und sind als Gottes Volk durch die Zeit unterwegs. Gemeinsam sorgen sie sich deshalb um die Zukunft von Kirche. Gemeinsam unterscheiden sie die Geister und fragen nach dem Willen Gottes. Jede Abkürzung, bei der eine oder mehrere Personen, seien es die Kirchenentwickler*innen oder die übergeordneten Autoritäten, diesem gemeinsamen Suchprozess vorgreift, widerspricht der Würde des Gottesvolkes und bleibt hinter den Möglichkeiten der Geistführung zurück.
Dabei wissen die Glaubenden im Großen und Ganzen, was Gott will. Altes und Neues Testament legen dafür Zeugnis ab. Für Christen sind dabei die „Ich bin gekommen, um…“-Sätze Jesu zentral: Kranke heilen, Gefangene befreien, wirtschaftliche Ungleichheit durch ein Gnadenjahr des Herrn beenden, Sünder zu suchen und ihnen Barmherzigkeit zu erweisen, das Feuer des Geistes Gottes auf die Erde zu werfen, damit sie alle das Leben in Fülle haben, das Evangelium – gute Neuigkeiten – zu den armen Leuten zu bringen… Womit die Transzendierung in die Sozialraumanalyse direkt wieder um die Ecke kommt. Denn der Wille Gottes nutzt immer den konkreten Menschen in ihrer zeitbedingten Situation. Obwohl also der Wille Gottes durch Offenbarung bekannt ist, kann er für die aktuelle Herausforderung, die zur Beratung ansteht, niemals durch Einzelne stellvertretend für die anderen Betroffenen festgestellt werden. Wer sich dazu befähigt hält, der irrt und handelt missbräuchlich. Subjekt der Suche nach dem Willen Gottes heute und hier ist immer die ganze Gemeinschaft, das ganze Gottesvolk, das beratene System und alle darin aktiven Geistträger*innen.
Wegen der doppelten Transzendenz von Kirche – ausgerichtet auf den Willen Gottes in den Sozialraum hinein – kann die Sicherung des Bestehenden, die Rettung der Institution, die harmonische Weiterentwicklung des internen Clubs… niemals Ziel von Kirchenentwicklung sein. Kirchenentwicklung muss sozialraumanalytisch und theologisch aus sich selbst heraustreten, will sie ihrem Anspruch gerecht werden. Die Orientierung am Willen Gottes und das gemeinsame Horchen auf die Geistführung bewirken aber eine weitere doppelte Transzendierung: Kirchenentwicklung ist der Zukunft verpflichtet, die von Gott her auf seine Kirche zukommt. Kirche ist immer adventlich. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als auf das Herantreten Gottes zu harren. Sie kann sich nicht selbst durch noch so ausgeklügeltes Pastoralingenieurwesen Zukunft schaffen. Die vier klassischen „Sola“ Luthers bringen diese Wirklichkeit auf den Punkt. Kirche ist zudem immer im Sinn des Glaubensbekenntnisses – nicht in konfessioneller Weise – katholisch: allumfassend. Sie kann nie Partikularinteressen verfolgen, ohne mit sich selbst in Widerspruch zu kommen. Sie dient immer dem Gemeinwohl, dem universalen Guten, dem Reich Gottes, ist sie doch Werkzeug des erlösenden Rettungshandelns Gottes, des Friedens Christi und der geistgewirkten Einheit aller Menschen.
Wenig überraschend gelten jedoch auch für diese beiden Transzendierungen die gleichen Bedingungen: weder kann einer oder eine Gruppe, noch können die Kirchenentwickler*innen oder die Kirchenleitung für die anderen wissen, was der Advent Gottes für sie jetzt bedeutet und auch nicht festlegen, was das Gemeinwohl ist. Wieder müssen sich alle gemeinsam der mühsamen soziologischen und theologischen Auseinandersetzung unterziehen. Der Geist Gottes spricht zu allen, aber niemand kann sagen, wer aktuell sein Sprachrohr sein wird. Aus gutem Grund zwingt deshalb die Benedikts-Regel in jedem Beratungsprozess, gerade auch die Jüngsten und Unerfahrensten zu hören.
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Kenosis
Allerdings ist durch diese Transzendierungen die Gefahr der Selbstoptimierung kirchlicher Systeme, die, wenn nicht aktiv dagegen gehalten wird, wie alle lebenden Systeme immer den eigenen Erhalt priorisieren, noch nicht verlässlich gebannt. Es braucht zusätzlich eine theologische Intervention, die von außen an das beratene System mit seiner systemimmanenten Selbsterhaltsdynamik und auch an die Berater*innen, die ebenfalls unter einem Optimierungsethos antreten, herantritt und sie kritisch hinterfragt.
Inhalt dieser kritischen Intervention ist, dass der zentrale Vollzug des Glaubens für den Einzelnen, wie für jede Gruppe und für jede kirchliche Institution die Nachfolge Jesu ist. Nachfolge heißt aber, sich auf die Kenosis Gottes, auf den Kreuzweg einzulassen. „Wer nicht das Kreuz nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert.“ (Mt 10,38) Erlösung geschieht eben nicht durch Macht-Handeln, sondern durch Opfer werden, leiden, zerbrechen, bis in den Abstieg in die Welt der Todes. Wie die Sendung Jesu die Sendung seiner Kirche ist, ist auch die Kenosis Jesu ist die Kenosis seiner Kirche. Geht ihr Weg nicht in die Solidarität mit den Gescheiterten, Gebrochenen und Ausgegrenzten… entwickelt sie sich eben nicht zur Kirche. Solidarität kann dabei durchaus heißen, das Schicksal Jesu und seiner Freunde zu teilen. Kirchenentwicklung kann nicht bei Optimierung stehen bleiben. Sie ist auf den gekreuzigten Herrn der Kirche verpflichtet.
[1] Claus Otto Scharmer: Theorie U. Von der Zukunft her führen. Heidelberg 2014
[2] Frederic Vester: Die Kunst vernetzt zu denken: Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. München 2/2019
[3] Ignatius von Loyola: Die Exerzitien. Einsiedeln 14/2010