Eine tieftraurige und zugleich hoffnungssuchende Allegorie über meine Kirche. Eine radikale Zeitenwende, das Ende einer katholischen Welt, aber nicht das Ende der Welt, nicht das Ende des Glaubens, nicht das Ende der Kirche. Gott lebt und er ist immer jung.
Unsere Mutter stirbt
Text: Peter Hundertmark – Photo:Tama66/pixabay.com
Kaum eine Selbstbeschreibung war der katholischen Kirche so kostbar wie das archetypisch-idealisierte Bild der Mutter. „Mutter und Lehrmeisterin“ überschreibt Papst Johannes XXIII seine Sozialenzyklika. Mutter und Lehrmeisterin nicht nur der Glaubenden, sondern aller Völker. Kirche verstand sich als die mütterliche Institution, die die Glaubenden schützt und erzieht, die sich um sie sorgt und für sie sorgt. Dass das Bild voraussetzte, dass die Glaubenden und die Kirche zwei verschiedene Größen sind, die Kirche nur aus Klerikern besteht, die obwohl ausschließlich Männer, dieses mütterliche Amt ausfüllen, fiel nicht auf beziehungsweise wurde als gegeben akzeptiert.
Ende der sechziger Jahre verschwindet das Bild von Mutter Kirche aus den meisten offiziellen Texten. Ein Grund ist sicher, dass die Spaltung in Kleriker und Laien nicht zu den theologischen Überzeugungen des 2. Vatikanischen Konzils – insbesondere Lumen Gentium 8 – passte. Es war auch die Zeit, als elterlichen Autoritäten in allen Bereichen in Frage gestellt wurden. Eine mütterliche Kirche schien da nicht mehr in die emanzipatorischen Bedürfnisse zu passen. Aber das Bild der Mutter, wie alle Archetypen verschwand natürlich nicht. Vielmehr verband es sich in Deutschland mit der sich machtvoll vervielfältigenden, neuen Weise Kirche zu sein. Erst jetzt wurde die katholischen Kirche im modernen Sinn zu einer Organisation. Diese Organisation mit zentraler (Verwaltungs-)Steuerung, amtlichen Abläufen, Organigramm, Arbeitsverträgen, Subunternehmen… sollte und wollte zugleich auch Mutter sein: Fürsorglich, immer erreichbar und verlässlich, mit der Verheißung jeden Konflikt sanft auflösen zu können, eine Heimat und Mutterhaus für die Glaubenden, in das sie aus den Nöten der gesellschaftlichen Selbstbehauptung jederzeit zurückkehren können: Eine professionelle Organisation nach dem Bild des 20. Jahrhunderts und eine idealisierte Mutter in einem. Ehrlich gesagt: Das konnte nicht gut gehen. Aber es war doch so erfolgreich und warm…
Für den weit überwiegenden Teil derer, die heute die katholische Kirche in Deutschland hauptamtlich und ehrenamtlich engagiert prägen und gestalten, ist dieser mütterliche Anspruch dennoch gelungen. Im Haus von Mutter Kirche sind wir aufgewachsen, sozialisiert worden, haben wir uns mit unseren Freunden getroffen, gelernt, Anregungen bekommen, Freizeit gestaltet, Sicherheit erlebt. Die Dienstgemeinschaft wurde zumindest von denen, die so waren, wie Mutter Kirche sie sich wünschte, als wärmerer, freundlicherer Ort erlebt, denn die phantasierte „raue“ Welt der Wirtschaft. Mutter Kirche ermöglichte ihren Kindern wichtige Erfahrungen, war ein großes Reisebüro, um Kinder von Mutter Kirche auf anderen Kontinenten kennen zu lernen, ermöglichte Studien und Karrieren. Sie trat erfolgreich für die Solidarität unter ihren Kindern – zum Beispiel zwischen dem globalen Norden und Süden – ein. Wer wollte, konnte sein ganzes Leben, von der katholischen Geburtsklinik, über eine kirchliche Arbeitsstelle oder eine Mitgliedschaft in einem Institut des geweihten Lebens, bis zur Beerdigung auf dem katholischen Friedhof im Haus der Mutter „beschützt“ bleiben.
Wie in jeder Familie kam es natürlich auch im Haus von Mutter Kirche zu heftigen Auseinandersetzungen und Vorwürfen als die Kinder größer wurden und in ihre Kirchen-Pubertät kamen. An der Mutter gingen diese Kämpfe nicht spurlos vorbei. Oftmals überfordert, reagierte sie autoritär, strafte, beschnitt Freiheiträume, stieß ganze Kindergruppen wie zum Beispiel die Befreiungstheolog*innen von sich und aus dem Haus, versuchte, bestimmte Themen – die Frauenordination ist nur das bekannteste – in ihrer Gegenwart zu unterbinden. Die Sexualität ihrer Kinder wurde seit der Enzyklika „Humanae vitae“ immer mehr zum Schlachtfeld. Die Mutter beanspruchte und beansprucht am besten zu wissen, welche Form der Sexualität ihren Kindern am besten bekommt.
Es ist schwer, diese Zeit der Kämpfe einigermaßen neutral zu beschreiben, denn wir alle waren mal auf der einen, mal auf der anderen Seite betroffen und beteiligt. Letztlich ging es darum, wer die Kontrolle und die Macht behält oder gewinnt. Dieser Kampf ist unentschieden ausgegangen. Er ist auch sinnlos geworden. Das, worum so viele Jahre mit so viel Einsatz gestritten wurde, verschwindet. Die Jahre, die Kämpfe, der Auszug so vieler Kinder, sie sind nicht spurlos an Mutter Kirche vorüber gegangen. Sie ist alt geworden. Und jetzt geht sie aufs Sterben zu. Das Ende einer Welt…
An dieser Stelle ist eine Klarstellung nötig. Es stirbt nicht die Gemeinschaft der Glaubenden, nicht das pilgernde Gottesvolk. Der Tempel des Heiligen Geistes und der Leib Christi zerfallen nicht. Die Sakramente haben ihre Kraft nicht eingebüßt. Gott lässt sich weiter finden. Es stirbt die moderne Organisation Kirche – eine Form von Kirche, wie es sie dank Kirchensteuer und Weimarer Reichsverfassung/Grundgesetz und so nur in Deutschland gibt. Es stirbt eine Kirche mit großer, vorbildlich-professionalisierter Caritas. Es stirbt eine Kirche mit geeigneten, leicht nutzbaren Gebäuden an jedem Ort, mit flächendeckender Präsenz. Es stirbt vielleicht sogar die Körperschaft öffentlichen Rechts. Es stirbt die Kirche der unzähligen hochengagierten und -qualifizierten Mitarbeiter*innen. Es stirbt die Heimat Kirche.
Diese Klarstellung hilft dem Verstand, aber dem Herz nur sehr begrenzt. Denn unsere Mutter stirbt. Die, die immer für uns da war, die uns Heimat war, auch die Gegnerin unserer Befreiungskämpfe, die gehasste und geliebte, sie wird bald nicht mehr da sein. Unsere Mutter stirbt.
Sie hat inzwischen zahlreiche Operationen mit tiefen Schnitten hinter sich, invasive Therapien mit schweren Nebenwirkungen, Kuren und erfolglose Reha-Maßnahmen. Jede*r Wohlwollende weiß noch etwas, was zwar exotisch klingt, aber noch nicht versucht wurde und vielleicht doch ihre Jugend und Spannkraft wieder herstellen könnte. Und nun nähern wir uns dem Moment, wo sich ihre Kinder und Mutter Kirche damit abfinden müssen, dass die Ärzte die Behandlung von kurativ auf palliativ umstellen müssen. Unsere Mutter hat es verdient, dass auf der letzten Lebensetappe ihre Schmerzen gelindert, ihre Atmung stabilisiert wird, sie ansonsten aber in Ruhe gelassen wird, um sich auf ihren eigenen Tod vorzubereiten. Sie hat Beistand und Sterbebegleitung verdient und dass sie in der schwersten Stunde nicht alleine gelassen wird. Wir müssen einsehen, dass sie nicht zu retten ist. Und Abschied nehmen.
Und so stehen wir dabei, sind ohnmächtig, mal wütend, mal voller Trauer. Wir würden vielleicht gerne helfen, und wissen doch, dass es nichts nützen wird. Unser Hirn sucht fieberhaft nach einem Ausweg und einer Kehrtwende, aber der verbrauchte, abgekämpfte Körper kennt keine Gnade. Es ist schwer zu ertragen, dass Mutter Kirche sich nicht mehr wie früher für die Veränderungen in der Welt interessiert, dass sie nicht mehr mit den Jungen tanzt, dass es ihr nicht mehr gelingt, neue Ideen aufzugreifen, dass sie sich immer mehr zurückzieht. Sie zieht sich zurück und klagt zugleich lauthals, dass sie so einsam ist. Sie nimmt kaum noch etwas zu sich und verträgt auch vieles nicht mehr. Sie läuft beschwerlich, besteht aber darauf, dass niemand sonst das Haus so pflegen und in Ordnung halten kann wie sie. Sie lebt nur noch in einem Raum, glaubt sich aber noch immer als unersetzliche Eigentümerin des ganzen Hauses. Sie erträgt die Komplexität vieler verschiedener Stimmen immer schlechter, macht es aber anderen zum Vorwurf. Wie viele Sterbende schwankt sie noch eine Weile zwischen der Bitte um Mitgefühl und Beistand und aggressiver Beschuldigung der Welt und aller, die irgendwie in der Nähe sind. Irgendjemand muss doch schuld sein – vielleicht ja doch die unbotmäßigen Kinder, die missratenen Söhne und Töchter, so queer und voller spinniger Ideen.
So ist es schwer, mit ihr unter einem Dach zu leben. Es macht keinen Sinn, mehr noch es ist gemein und unmoralisch Mutter Kirche die Schmerzen, die Angst, die Aggressionen und Niederlagen des Sterbens zum Vorwurf zu machen. Aber es ist schwer zu ertragen – wie immer wenn eine Mutter langsam und unter Qualen stirbt. Die sie pflegen übernehmen sich, gehen über ihre Kräfte hinaus, leiden mit ihr – und manchmal werden sie dann auch noch zur Zielscheibe der Wut über das unweigerliche, blinde Schicksal, über diese verdammte endliche Welt. Gut, dass die Cousins und Cousinen aus den evangelischen Kirchen da sind, uns ab und an unter die Arme greifen, uns Gehör schenken – auch wenn sie dann mit Schaudern daran erinnert werden, dass auch die Organisation ihrer Kirchen alt geworden ist.
Wenn dann der Familienrat zusammentritt, alle Kinder beieinander sitzen und in die Runde schauen – dann entdecken wir etwas, was in all den Kämpfen und Sorgen aus dem Blick geraten ist: Wir sind erwachsen geworden. Wir leben längst unser eigenes Leben, haben eigene Häuser gebaut, haben eigene Kinder. Auch wir werden sterben – aber nicht jetzt. Der Tod der Kirche in ihrer organisationalen Gestalt ist nicht unser Tod. Wir verlieren ein gutes Stück Heimat, aber unsere Welt ist nicht zu Ende. Es ist nicht der Tod unseres Glaubens. Es ist nicht der Tod Gottes. Der Tod von Mutter Kirche macht uns traurig, aber es ist nicht unser Tod. Wir leben, dürfen leben, müssen leben. Müssen uns um die sterbende Mutter kümmern und um unsere Kinder und darum, selbst nicht zu sehr Schaden zu nehmen. Wenn man es genau nimmt, sind ja auch die Kinder von Mutter Kirche nicht mehr die Jüngsten. Wir stehen mitten in der Verantwortung und müssen sie wahrnehmen – auch die Verantwortung, die sich Mutter Kirche aufgeladen hat – zum Beispiel für hunderttausende Mitarbeiter*innen, die sie aber nicht mehr tragen kann.
Aber wer sind wir? Wir sind Glaubende: Männer und Frauen und solche, die sich dieser Bipolarität nicht eindeutig zuordnen können. Wir sind Mitarbeiter*innen, die für Geld oder für Ehre aus dem Glauben heraus für Menschen und Erde arbeiten. Wir sind sogenannte Laien, wir sind Mitglieder der Institute des geweihten Lebens, wir sind Kleriker. Wir sind Personen, wir sind Gruppen, Verbände, Initiativen, Netzwerke, Bewegungen, Institutionen und Organisationen. Wir sind Caritas und Hochschulen, Kindertageseinrichtungen und Akademien, wir sind Hilfswerke und Gemeinden. Wir sind viele. Wir stehen auf eigenen Füßen und werden auf eigenen Füßen stehen. Und wir sind erwachsen. Wir sind erwachsen im Glauben, im Leben und im Kirche-sein.
An uns ist es, die Zeit nach dem Tod der Organisation „Mutter Kirche“ zu gestalten. An uns ist es, den Glauben, den wir von ihr und in ihrem Haus gelernt haben, zu leben. An uns ist es, bewegt vom Heiligen Geist, der unserer Mutter und der uns gegeben ist, für Menschen und Erde tätig zu sein. An uns ist es, neue Gemeinschaften von Glaubenden zu bilden. An uns ist es für die Solidarität mit unseren Glaubensgeschwistern in anderen Ortskirchen einzustehen. An uns ist es, uns in die Gesellschaft einzumischen und für das Reich Gottes und seine Freunde einzutreten. An uns ist es, die Freundschaft mit unseren Verwandten in den anderen Kirchen weiter zu pflegen. An uns wird es auch sein, das Mutterhaus auszuräumen, das was noch brauchbar ist einer neuen Verwendung zuzuführen und anderes unter Schmerzen zu entsorgen.
Wie das gehen wird? Wir wissen es und wissen es nicht. Wir treten jetzt hinaus ins Freie, müssen das Mutterhaus verlassen, treten den scharfen Winden entgegen, betreten neues Land. Wir werden weiter Kirche sein: von griechisch „kyriake“ – die, die dem Herrn, die zu Gott gehören. Wir werden weiter „Ekklesia“ sein: griechisch für die Herausgerufenen, die mit Jesus auf den Weg gehen und sich von ihm prägen und in Dienst nehmen lassen. Wir werden gemeinsam sein, der Kreis unser Symbol, kein Unten und Oben mehr, geschwisterliche Kirche. Wir werden uns gegenseitig trösten und stärken, werden neue Weisen finden, zusammen zu wirken und Gott zu feiern. Wir werden Niederlagen wegstecken müssen, Streit haben, Kämpfe ausfechten. Wir werden für unsere Kinder – Menschen, die sich zum Glauben inspirieren lassen, Gruppen, die ganz anders als wir es machen würden, Gott suchen und aus seiner Gegenwart handeln, Institutionen, die neu auf die Not der Menschen antworten… – da sein. Wir werden Fehler machen, zu sehr am Gewohnten hängen, Räume enger machen, als es nötig wäre, anders und doch auch nicht besser als Mutter Kirche sein. Und irgendwann wird auch unsere Weise, den Glauben zu leben, alt geworden sein und sterben. Dann werden unsere Kinder trauern und Last mit uns haben, unsere Rückwärtsgewandtheit und Nostalgie ertragen müssen, unsere Aggressionen aushalten. An uns ist es, jetzt mitzuhelfen, dass sie dann erwachsen sein werden.
Es wird nicht leicht. Es ist das Ende einer Welt und die neue Welt formt sich erst langsam unter unseren Füßen und Händen. Wir haben sie nicht. Wir haben Gott nicht. Wir müssen ihn neu suchen. Neu auf seinen Geist horchen. Neu uns in den Spuren Jesu auf den Weg machen und dann seinen Weg dort weitergehen, wo er nie gegangen ist und wo auch wir noch nie waren. Wir müssen durch das schwarze Tor des Todes gehen. Wir sind Menschen der Auferstehung. Wir sind erwachsen. Und der Geist Gottes ist auch in unseren Tagen lebendig und aktiv.