Kirche hat eine gute Zukunft – aber mit, nicht gegen das Individuum und seinen Souveränitätsanspruch. Christlicher Glaube hat das Potential, eine existentielle Hilfe für postmoderne Menschen sein, die ihre Identität und Welt selbst entwerfen. Kirche ist dann Dialog der Glaubenden.

Glaube und Kirche im Zeitalter postmoderner Individualität

Text: Peter Hundertmark – Photo: cocoparisienne/pixabay.com

Der Mensch ist ein Indidivuum – diese Entdeckung am Ende des Mittelalters war eine kopernikanische Wende. Die Idee, dass Menschen Individuen und damit Subjekte ihrer eigenen Geschichte sind, wurzelt zwar zentral im christlichen Glauben an die Gottunmittelbarkeit jedes Menschen. Daraus folgende Konsequenzen für staatliche und kirchliche Macht wurden aber erst mit der beginnenden Neuzeit sichtbar. Seither ist der Einzelne als Person, als sich seiner selbst bewusstes Individuum, damit beschäftigt, den eigenen Platz als Subjekt seiner Welt einzunehmen. Zuvor war der Einzelne auf den Clan, die Obrigkeit, die Traditionen hin ausgerichtet und ihnen unterworfen. Das ändert sich nun radikal: Jetzt versteht der Einzelne sich selbst als Souverän – und  breitet die je eigene Welt um sich herum aus.

Durch diese neue Weise, sich als Mensch zu begreifen, sind alle Lebensbereiche europäischer Wirklichkeit in mehreren großen Wellen in Anpassungsstress versetzt worden. Zunächst waren die Institutionen – zum Beispiel seit 500 Jahren die konfessionellen Kirchen – und später auch die Nationen ein erster Versuch, diese neue Kraft einzubinden und ein korporatives, nicht-individuales Zentrum der Welt gegen diesen wilden, unkontrollierbaren Anspruch des Individuums zu verteidigen. Sie lösten die scheinbar naturwüchsige und einheitliche Welt durch ausgehandelte, gegeneinander abgegrenzte Ordnungen ab. Der Übergang ging wegen der Konkurrenz verschiedener Institutionen jedoch keineswegs friedlich und freiheitlich vonstatten. Mit obrigkeitlichem Druck wurden die Einzelnen in die jeweils „richtige“ Institution – zum Beispiel in die „richtige“ Konfessionskirche -gezwungen.

Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts war dann die Macht der Institutionen unter dem Selbstverwirklichungs- und Freiheitsdrang des Individuums so weit erodiert, dass sie ihre Position „in der Mitte der Welt“ räumen mussten. Als Beispiel mag der durch die Studierendenproteste erzwungene Stilwechsel in der Hochschullehre dienen. An ihre Stelle traten die Organisationen, allen voran die modernen Wirtschaftsunternehmen: Gebilde, die versprechen, den Gestaltungswillen der Individuen effizient zusammenzuführen. Organisationen sind komplexe Gebilde, die unter zentraler Steuerung rational zu handeln versuchen und dafür verbindliche Regeln und Zuständigkeiten festlegen. Sind sie erst einmal etabliert, sperren sich allerdings auch Organisationen gegen den Anspruch des Individuums, selbst und allein Zentrum seiner Welt zu sein. Das erscheint paradox, da sie doch dem Gestaltungswillen des Individuums entstammen. Sie üben jedoch durch ihre etablierten Abläufe und Regeln einen deutlichen Einpassungsdruck auf ihre Mitglieder/Mitarbeiter aus.

Durch diesen Einpassungsdruck werden die Organisationen spätestens seit dem Übergang zur Postmodernen nicht mehr als Ausdruck des Gestaltungswillens von Individuen, sondern als vorgegebene, erzwingende Strukturen erlebt. Und wieder setzt die Selbstwahrnehmung des Menschen als Individuum dekonstruierende Kräfte frei, die auch diese Bastion gegen seinen absoluten Weltanspruch zu schleifen suchen. Seit einigen Jahren werden Lebensentwürfe und Arbeitsformen erprobt, die organisationale Vorgehensweisen zu relativieren suchen. Organisationen – auch Kirche als Organisation – konkurrieren mit diesem individuellen Anspruch der Lebens- und Weltgestaltung. Sie antworten auf diesen Entzug von Beteiligung und Zustimmung entsprechend ihrem inhärenten Selbstoptimierungsdrang. Sie schaffen noch belastbarere, noch klarere, noch größere Strukturen und verschärfen so die Krise, in die sie geraten sind.

In der Postmoderne findet das Individuum endlich seinen ihm angemessenen Platz in der Welt, allerdings eher noch probehalber, „belästigt“ von Rest-Institutionen und noch allgegenwärtigen Organisationen. Es erlebt sich als Mitte und Konvergenzpunkt seiner eigenen Welt. Die eigene Identität und Biographie, die Lebenswelt, Beziehungen, Beruf und Lebensstil können – und müssen – entworfen werden. Jedes Individuum ist selbst seines Glückes, seiner Welt und seines Lebens Schmied. Kein Wunder, dass viele sich gestresst fühlen. Keine andere Größe kann das Individuum von dieser Aufgabe entlasten. Es gibt so viele Welten, Wahrheiten, Zentren, Entwürfe wie Individuen leben. Das bedeutet aber auch: Die Dekonstruktion der mit dem Individuum konkurrierenden Machtzentren ist am Ziel angekommen – und geht direkt ungebremst weiter. Jetzt wird das Individuum selbst dekonstruiert. Denn kaum angekommen, entdecken die Menschen, dass sie eben nicht Individuum, nicht ungeteilt sind. Selbst ihre kleine, persönliche Welt untergliedert sich weiter in eine Vielzahl von Lebenswelten, in denen ganz unterschiedliche Verhaltensmuster, Beziehungen und Werte zu leben sind. Durch Digitalisierung, Soziale Medien, Spielewelten usw. öffnen sich weitere Welten, in denen der Einzelne sogar verschiedene Individuen und Identitäten entwickeln kann. Der Sieg entpuppt sich als ambivalent. Denn das Individuum glaubt sich zwar einerseits selbst an der entscheidenden Schaltstelle zu sitzen, es muss andererseits aber auch alles selbst entwerfen, verantworten und gegen die dekonstruktiven und diversifizierenden Kräfte zusammenhalten, die es selbst freigesetzt hat. Identität und die persönlich erschlossene Welt sind zur existentiellen Gestaltungsaufgabe geworden.

Auf Glaube und Kirche hat diese „kopernikanische Wende“ im Selbstverständnis von Mensch und Welt massive Auswirkungen. Diese greifen möglicherweise noch wesentlich tiefer als  die Entdeckung des heliozentrischen Weltbildes durch Kopernikus und die Evolutionslehre von Charles Darwin. Die katholische Kirche hat sich geschichtlich meist auf der Seite der Kräfte wiedergefunden, die diese  Entwicklung verdächtigten und sich ihr widersetzten. Sie sah sich selbst in einer bedrängten, reaktiven Gegnerschaft zum Freiheitsdrang der Individuen. Diese Auseinandersetzung provozierte eine lebensbedrohliche, bis heute anhaltende Krise der Kirche in Westeuropa. Als Folge dieses Kampfes hat heute die große Mehrheit der Menschen ihre Bindung an den christlichen Glauben aufgegeben, oder ihren Glauben dem Zugriff der großen Konfessionen entzogen. Der Kampf der Kirche gegen den Anspruch des Individuums hat viel zu lange gedauert. Er war aussichtslos. Er ist längst verloren.

Und er war überflüssig. Das ist besonders bitter. Denn die Angst vor dem Machtverlust der Kirche beruhte auf einem wenig entwickelten Gespür für die radikale Transzendenz Gottes: Wie konnten Menschen glauben, Gott verlöre seine Göttlichkeit, wenn er nicht realiter die Mitte der Welt besetzt, machtvoll repräsentiert von einer triumphierenden Kirche? In schlichten Glaubensauffassungen wurde Gott als „Regent“ der Welt verstanden, der noch höher als Papst und Kaiser – und als Garant für deren Macht – im Zentrum der Welt schaltet und waltet. Schon die hochmittelalterliche negative Theologie hätte Kirche aufklären können. Gott ist eben nicht Teil der Welt. Er ist allem und jedem innerlich und alles und jeder ist auf ihn verwiesen.  Gott konkurriert nicht mit den Dingen der Welt, auch nicht mit dem Individuum und seinem Weltanspruch. Gott ist nicht an eine historisch gewordene Gestalt von Kirche gebunden. Gott geht nicht verloren, niemals – auch wenn die Kirche als Ordnungsmacht, als Institution oder Organisation an Macht verliert.

Die Selbstinszenierung von Kirche als Machtzentrum hatte viel mit den allzu menschlichen Bedürfnissen der entsprechenden Kirchenführer zu tun. Sie ist nicht die einzig mögliche Gestalt von Kirche. Denn die Verkündigung des christlichen Glaubens beginnt gerade nicht dadurch, dass Kirche das Zentrum der Gesellschaft besetzt, Sitte und Werte einer Gesellschaft dominiert. Sie beginnt mit Jesus Christus und seinen Jünger/innen, dann mit kleinen Gemeinschaften in den benachteiligten Randbereichen der Städte. Von dort aus fordert die christliche Botschaft das Imperium heraus: Nicht der Kaiser in Rom, sondern der am Kreuz getötete Rabbi aus Nazareth ist der Kyrios und Sohn Gottes. Der Auferstandene, der transzendente Christus, der nicht mehr Teil dieser dinglichen Welt und ihres Machtgeschachers ist, zieht alles an sich. Jeder menschliche Anspruch, Herr zu sein über Leben und Tod anderer Menschen, jeder Anspruch, das Zentrum zu besetzen und andere Menschen unterzuordnen, müsste seither mit der Verkündigung von Tod und Auferstehung Jesu kollidieren. Diese innere Kraft des Evangeliums stellt jedes autokratische Zentrum der Welt in Frage  – auch dann, wenn Kirche selbst versucht, sich als theokratische Ordnungsmacht zu etablieren.

Mit der gleichen inneren Notwendigkeit kritisiert das Evangelium jedoch auch das Individuum. Denn indem der Glaube sich mit dem Individuum und seinem Selbstverständnis als autonomes Subjekt verbündet, verliert er keineswegs seinen kritischen Charakter. Individuation kann leicht in Egoismus  kippen, in ein Kreisen um sich selbst und um eine möglichst umfassende Bedürfnisbefriedigung. Auf diesem Weg gerät der Einzelne, der sich so autonom und frei will, unter der Hand in Abhängigkeit von Konsum, Werbung und ökonomischen Interessen, während die gegenseitige soziale Stützung, Solidarität, Compassion und Verantwortung in den Hintergrund treten. Im Extrem handelt der Einzelne dann eben nicht individuell und personal, sondern ego-logisch und auf Kosten seiner Mitmenschen und der Umwelt.

Vielleicht ist es zu spät, jedenfalls aber von höchster Dringlichkeit, dass Kirche sich davon abwendet. Und sich stattdessen mit den Ansprüchen der Menschen zu einem individuellen Leben und der daraus entstehenden Kräfte verbündet.  Spirituell ist das nur ein kleiner Schritt. Denn Gott führt den Einzelnen von innen her, durch einen inneren Kompass des Gewissens und der Unterscheidung der Geister. Er ruft ihn auf einen individuellen Weg mit Christus  und hält für jeden Menschen eine ganz eigene, persönliche Berufung bereit. Diese Erfahrung  kann unmittelbar von jedem Christ und jeder Christin abgerufen werden, der/die sich auf geistliche Reifungswege einlässt. Das alles ist nicht neu. Schon  seit Beginn der Neuzeit sind solche Erfahrungen in geistlichen Schriften und Biographien breit dokumentiert. Bereits im 16. Jahrhundert sind die geistlichen Instrumente entwickelt worden,  wie das Gotterfahren des Einzelnen dazu verhilft, ein effizientes Zusammenwirken von Gefährten und Gefährtinnen Jesu zu formen.

Aber dieser kleine Schritt stellt alles vom Kopf auf die Füße. Der Glaube selbst verändert damit radikal seine Gestalt. Es geschieht eine Art Rückabwicklung seiner machtförmigen, normierenden Ausprägung. Glaube war (scheinbar) die Basis für Moral, gesellschaftliche Werte und Gesetz. Glaube wird in den dekonstruierten Welten der unendlich vielen Individuen kleiner, emotionaler, lebensprägender verstanden: Hilft er zur Lebensbewältigung oder nicht?  Er muss sich nach seinem Nutzen beurteilen lassen. Er ist eine Funktion des Individuums zur Lebensgestaltung. Es nutzt ihn selbstbestimmt zur Stabilisierung der eigenen Identität über die ständigen Rollenwechsel hinweg und in Differenz zu anderen Individuen.

Manche Menschen nutzen diese Ressource, andere nicht. Jeder ist selbst die einzige Instanz, die entscheidet, welche Elemente von Glaube er integriert und wie er die Elemente miteinander kombiniert. Nicht der Einzelne passt sich in seinem Verhalten und in seiner Selbstdeutung einem vorgegebenen Glauben ein, sondern der Glaube wird dem Individuum, seinen Bedürfnissen und seiner Welterfahrung angepasst. Glaube ist damit auch keine vorgegebene Verständigungsebene mehr. Wenn zwei Personen sich heute als Glaubende präsentieren, müssen Sie erst aushandeln, ob sie wechselseitig ihre individuellen Ausprägungen als Glauben akzeptieren können.

Kann Glaube dann überhaupt eine Hilfe für Individuation und Identität sein? Wird er doch individuell nach eigenem Bedarf zugerichtet und manchmal aus den verschiedensten Elementen zusammengebastelt. Für Menschen, die in der früheren Gestalt von Glaube als festem System von Sätzen und Regeln, an die man zu glauben hatte, aufgewachsen sind, ist das eine eine grauenhafte Vorstellung. Die Antwort ist uneindeutig, denn sie hängt von dem jeweiligen Verständnis von Glauben ab. Die einen Glaubensformen bestehen vor allem aus „etwas glauben“. Zentral besteht diese Form aus dem Festhalten und Wiederholen von erlernten und selbstreferentiellen Sätzen. Das gibt vielen Menschen so etwas wie Sicherheit. Diese Form des Glaubens hält allerdings oft Krisen und schwierigen Übergangsphasen in der Biographie nicht stand, weil die stabilisierenden Sätze oft nur im Kopf angekommen, jedoch nicht wirklich spürbar und erfahrbar geworden sind. Andere verstehen und erleben Glauben als Begegnung mit der unverfügbaren Präsenz Gottes. Dies ist ein Herzensgeschehen, aus dem heraus eine Bindung wachsen kann, in die beide „Partner“, Gott und Mensch, regelmäßig Beziehungsarbeit investieren. Natürlich: Beziehungen – auch Gottesbeziehungen – können scheitern, aber sie haben auch ein von reinen Überzeugungssystemen unerreichtes Potential, Krisen und Veränderungen zu überstehen. Dieses Potential wächst, wenn die Glaubensbeziehung mit der menschlichen Person reift. Denn mit der wachsenden Gottesbeziehung geht auch eine wachsende Beziehung zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur Welt einher. Diese inneren und äußeren Veränderungen verweben sich auch wieder mit der Gottesbeziehung. Es liegt in der Natur seiner Innigkeit, dass ein solcher Glaube samt seinen möglichen Nöten immer auch mit Gott selbst ausgehandelt wird.

Der göttliche Partner hat sich dabei eindeutig festgelegt. Er ist durch die Wortoffenbarung in der Heiligen Schrift beschrieben. Jesus ist das menschgewordene Wort Gottes in menschlich-historischer Gestalt . Er hat eindeutige Vorlieben für die Armen und Ausgegrenzten gezeigt und seine Erfahrungen mit Gott bildreich beschrieben. Er verpflichtet die Glaubenden auf Versöhnung und Vergebung, geht selbst einen „absteigenden“ Weg des Gehorsams. Oft spricht er von Erlösung – und versteht darunter den Durchgang durch den Tod. Immer wieder lädt er ein, ihm nachzufolgen und sein Jünger zu werden. Dies ist seine spezifische Form der Beziehung.

Eine so verstandene und gelebte geistliche Jesus-Beziehung entwickelt durch diese Meister-Schüler-Dynamik eine hohe formativ-verwandelnde Kraft. Der Glaubende, der dem Lehrer und Vorbild Jesus, nachfolgt, gewinnt so an Format. Seine Identität wird in seinem Individuum- und Subjekt-Sein durch die Gottesbeziehung gestärkt und geprägt. Die modernen Jünger werden, ähnlich wie es die Jünger zur Zeit Jesu erlebten, existentiell evangelisiert:  Das Leben wird immer mehr Ausdruck und Teil des Evangeliums von Jesus Christus. Jüngerinnen und Jünger werden Mitarbeitende von Jesus. So wird christliches Leben von innen heraus sicher, mündig und individuell – und ist doch nicht beliebig.  Paradoxerweise führt gerade die Annahme der Jüngerschaft – Schüler zu sein – zu einer hohen Mündigkeit erwachsener Selbstbewusstheit und Verantwortung.

Glaube als Bindung und Beziehung bietet damit dem personalisierten Individuum eine Möglichkeit, sein Grunddilemma – in jedem Moment neu selbst entscheiden zu müssen und dabei mit sich identisch zu bleiben – zu lösen. Glaube ist Erlösung für postmoderne Individuen. Glaube als Personalisierung durch Evangelisierung hat in Europa seine große Zeit erst noch vor sich.

Aus einem solchen intensiven, aber eben auch individuellen Verständnis von Glauben muss unweigerlich eine ebenso „kopernikanische Wende“ des pastoralen Handelns der Kirche folgen. Primäre Aufgabe der Pastoral ist nicht länger die katechetische und disziplinarische Einbindung des Einzelnen in vorgegebene Glaubensgebäude, sondern die initiatische Evangelisierung der Individuen. Der Fokus pastoraler Arbeit muss sich dabei weniger auf Kinder als mehr auf die Erwachsenen richten. Sie brauchen person- und prozessorientierte Begleitung in ihrer Gott- und Lebenssuche. Als selbst- und weltverantwortliche Einzelne sollten sie darin unterstützt werden, das Evangelium immer mehr als lebendiges Wort Gottes und wirkliche Lebenshilfe zu erfahren. Nur so können sie im Glauben wachsen und Jesus nachfolgen. Zielperspektive einer solchen Begleitung ist: Dass das im Ich gefangene Individuum sich wandeln kann in ein mündiges Individuum, das Christus immer ähnlicher wird.

 

 

Christlicher Glaube, als dialogisches Geschehen der Gottesbeziehung, das ins dialogische Geschehen zwischen den Glaubenden und zwischen Glaubenden und allen anderen Menschen und Dingen der Schöpfung verweist, arbeitet deshalb mit dem Individuum zusammen und zu seinen Bedingungen – für dessen Freiheit und Selbstbestimmung und gegen die ihm inhärenten Gefährdungen der Selbstdiffusion und der egozentrischen Selbstübersteigerung. Glaube personalisiert die Individuen und führt sie damit zu ihrer vollen Größe und zugleich auch über ihre Begrenzung hinaus.

„Pastorales Handeln der Kirche“ entpuppt sich dabei jedoch rasch als sprachlicher Ausdruck, der von der organisationalen Gestalt von Kirche geprägt ist.  Er hat seinen Sitz im Leben in der Moderne der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Abgeleitet von der Aufgabe der Hirten für ihre Tierherde, transportiert der Begriff „Pastoral“ immer Vorstellungen, einige Menschen handelten an anderen – weil sie über den Glauben verfügen, den sie den anderen vermitteln, oder weil sie Kirche sind und diese gegenüber denen vertreten, die Kirche werden sollen. Beides widerspricht dem postmodernen Lebensgefühl und einem reflektierten Selbstverständnis von Kirche.

Eine Neudefinition von Kirche aber wird unumgänglich, wenn das moderne Selbstverständnis des Menschen als Individuum zugrunde gelegt wird: Die Theologie der „Ekklesiogenesis“ (Congar, Guttierez, Boff) hat hier längst wichtige theoretische Grundlagen vorbereitet. In ihrer zeitlichen Gestalt entsteht Kirche aus den personalen Begegnungen zwischen Christinnen und Christen. Menschen erzählen sich gegenseitig von ihrem Glauben und erleben sich so als miteinander verbunden.  Diese Begegnungen verdichten sich im Vollzug zu komplexen, kommunikativ-geistlichen Prozessen, die bewusst und gezielt emotionales Erleben, spirituelle Biographiearbeit, Gruppendynamik, Intuition, ergebnisoffene Suche, Optionen, Werte usw. aktiv in die kirchlichen Abläufe integrieren. Kirche ist nicht länger symbolisch in den Bildern von Gebäuden definiert, sondern als ein lebendiger Organismus aus vielen individuellen Menschen. Sie entdeckt sich als Geschehen.  Kirche ist nicht, sie entsteht. Kirche hat sich nicht, sondern empfängt sich aus den Herzen und Händen der Glaubenden und dem lebenswandelnden Wirken des Heiligen Geistes. Lebensort der Kirche ist der Dialog der Christinnen und Christen mit und über Jesus Christus.

Eine Gemeinschaft, die nur aus dem Gespräch der eigenen Mitglieder untereinander entsteht, braucht als Gestaltprinzip notwendigerweise den „herrschaftsfrei-offenen Dialog“. Jede und jeder ist in gleicher Weise zu hören. Jede und jeder hat gleiches Recht, sich zu äußern. Jedes Gemeinsame muss in Gesprächen ausgehandelt werden. Dies ist ein hoher Anspruch an alle Beteiligten. Gleichzeitig ist es eigentlich selbstverständlich. Denn alle Getaufte sind Trägerinnen und Träger des Heiligen Geistes und haben das Potential, Wesentliches zum Geschehen von Glaube und Kirche beizutragen. Kirche sieht ihren ersten Ursprung im Dialog der göttlichen Dreifaltigkeit. So wurzelt sie in Dialog und ist Dialog.

Ein solches revolutioniertes Selbstverständnis der Kirche als Dialoggeschehen zwischen geistbegabten Individuen erfordert aber neue kirchliche Handlungsformen. Eine Kirche als Dialog  besteht aus Netzwerken, Projektgemeinschaften und spontanen Arbeitsgruppen, die aber nie „für die Ewigkeit“ zusammenwirken, und braucht Möglichkeiten für wesentlich-existentielle Gespräche und Erlebnisräume. Das verlangt eine hohe punktuelle Verbindlichkeit und Solidarität.

Gottes aktive Stimme in diesem Dialog aber ist die existenzielle Bedingung dafür, dass ein solcher Dialog aber wirklich Kirche ist und Kirche schafft. Sie ist hörbar im  Wort der Heiligen Schrift, im inneren Erleben und in der Unterscheidung der Geister, aber auch auffindbar „in allen Dingen“, in den Zeichen der Zeit. Die Kirche der Postmoderne ist im Kern ein geistlich dynamisierter Glaubensdialog, der auf die Zukunft ausgerichtet ist und dem Einzelnen ein erfülltes Leben ermöglicht. Dieser ständige Dialog erfordert ein hohes Maß an Flexibilität und wird, weil der Mensch gleichzeitig aber auch „Dauer“ und Sicherheit sucht, immer wieder gefährdet sein. Deshalb ist allen Schließungen des Dialogs – durch unkontrolliert wuchernde gruppendynamische Prozesse, durch Parteibildung und Ausschlussmechanismen, durch Pseudo-Sakralisierung bestimmter Ausdrucksformen des Glaubens oder der Kirche – entschieden entgegen zu treten. Solche Schließungen – und wenn sie noch so religiös oder spirituell legitimiert scheinen – behindern das Wirken des Geistes Gottes und schaffen scheinbare Sachzwänge, die Kirche wieder in Konkurrenz mit dem Selbst- und Weltanspruch des Individuums setzen. Die Fähigkeit offene Gesprächssituationen zu schaffen und offen zu halten, systemisch zu denken und zu agieren und dialogisch zu belastbaren Vereinbarungen zu kommen, wird künftig eine der ganz zentralen Kompetenzen von Seelsorger/innen und allen kirchlich Engagierten sein.

Versucht man Dialog als „Rückgrat“ und zentrales Geschehen von Kirche zu denken, kommt jedoch rasch ein erhebliches Problem in Blick. An einem personalen Dialog können nicht beliebig viele Personen teilnehmen. Voraussetzung für einen echten Dialog ist, dass die Teilnehmer/innen sich sehen, kennen, hören, spüren können. Dialog findet also nur in Gruppen, nicht unter Massen statt. Sollen mehr als zehn bis fünfzehn Personen an einem Dialog teilnehmen können, sind vermittelnde Verfahren notwendig. Dabei sinkt die Erlebnisdichte, die gefühlte Zugehörigkeit und innere Verpflichtung auf die Ergebnisse unvermeidlich gegenüber dem direkten Dialog ab. Für eine Zusammengehörigkeit und ein Zusammenwirken von Millionen Menschen ist das eine äußerst herausfordernde Begrenzung.

Eine Dialog-Kirche, die den postmodernen, sich als Individuum verstehenden Menschen gerecht wird, hat deshalb einerseits ihre Keimzelle im direkten, unmittelbar überschaubaren, mitmenschlichen Glaubens-Gespräch von kleinen Gruppen, Hauskreisen, Basisgemeinden, christlichen Gemeinschaften… Solche Gruppen, Vernetzungen, spontanen Koppelungen, Projektgemeinschaften und spontanen Zusammenschlüsse gilt es zu fördern. Gleichzeitig ist immer darauf zu achten, dass sie nicht in  einen Dauermodus überführt werden. So entsteht potentiell eine sehr fluide Gestalt postmoderner Kirche.

Die Zusammenführung der Dialogprozesse einer sehr großen Anzahl von Glaubenden zu einem effizienten Zusammenwirken ist allerdings eine neuartige und extrem herausfordernde Aufgabe. Potenziert wird diese Herausforderung durch den Status der katholischen Kirche als Körperschaft öffentlichen Rechtes, vielfältig eingebunden in staatliche Abläufe und in umfassender Verantwortung für hunderttausende Arbeitsplätze, Lebensentwürfe, Familien. Als Großkirche kann sie sich einerseits nicht in die Unmittelbarkeit der Hauskreise zurückziehen. Als zukunftsfähige Kirche in der Postmoderne kann sie sich aber auch nicht anti-individual aufstellen und sich gegen die individuellen Bestrebungen der Glaubenden stemmen. Es bleibt eine Grundspannung, die nur um den Preis des Niedergangs von Kirche in eine beliebige gesellschaftliche Randständigkeit aufgelöst werden könnte.

Die Dialog-Kirche gestaltet aus dem punktuellen, personalen Dialoggeschehen ein verlässliches Zusammenwirken , das in die Gesellschaft hinein präsent ist, öffentlich wahrnehmbar Zeugnis von Jesus Christus ablegt und sich effizient für die Belange der Armen einsetzt. Auch die ganz materiellen Belange von Geld, Gebäuden und Personal, sowie die Zusammenarbeit von Kirche und Staat sind dabei dialogisch, als personale Prozesse zu gestalten. Innerhalb dieser dialogischen, relational geschehenden Struktur von Kirche sind dann natürlich – am angemessenen Ort – organisationales und institutionelles Handeln unabdingbar. Eine Dialog-Kirche kann und wird nicht auf planerisch-effizientes Wirken verzichten, ihm aber seinen Platz innerhalb des personalen Geschehens zuweisen. Die Dialog-Kirche wird die Vorteile der Organisation genauso zu bewahren suchen, wie die Organisations-Kirche wichtige Aspekte der Institution zeitgemäß weitergeführt hat. Jegliche Gegenüberstellung oder gegenseitiger Abwertung ist strikt zu vermeiden.

Noch einmal zeigt sich Kirche gut vorbereitet, die Herausforderungen der Postmoderne zu bewältigen. Verfügt sie doch über Theorie, Tradition und lebendige Erfahrung mit geistlich dynamisierten, freilassenden, dialogischen Prozessen der Entscheidungsfindung, die dennoch umstandslos sachrationale Vorbereitung, systemische Interventionen und planerische Umsetzung in das Geschehen integrieren.

Als Dialog-Kirche, die durch ihren Glauben den Individuen zur Personwerdung verhilft, hat Kirche eine große Zukunft!

 

 

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