Der Aufsatz geht der Frage nach, welche Besonderheiten bei der geistlichen Begleitung von Menschen auftreten können, die durch ritualisierte Gewalt schwer traumatisiert sind, und was deshalb für die begleitende Person wichtig ist. Dabei werden Unterschiede zur üblichen geistlichen Begleitung herausgearbeitet.

Begleitung von Opfern ritualisierter Gewalt

Text: Klemens Gramlich – Photo: jplenio/pixabay.com

Der Einstieg in die Begleitung

Der Einstieg in die Geistliche Begleitung, den Weg eines Menschen in sein Innerstes und zu Gott hin, verläuft in der Regel nach einem bestimmten Schema. Der Mensch verspürt das Bedürfnis, die Beziehung zu Gott zu vertiefen und sein Leben unter dem Blickwinkel dieser Beziehung zu betrachten und zu gestalten, und er erfährt von der Möglichkeit zu Geistlicher Begleitung. (Vielleicht ist hier die Reihenfolge auch umgekehrt: Die Kenntnis der Möglichkeit zu Geistlicher Begleitung weckt das Interesse an der Vertiefung der Beziehung zu Gott und der Betrachtung des eigenen Lebens.) Im Idealfall verläuft die Suche nach einer Begleitung über eine vermittelnde Stelle, die dazu hilft, eine räumliche oder konfessionelle Grenze zwischen dem Suchenden und der Begleitperson zu überschreiten, damit die Wahrscheinlichkeit für Begegnungen in anderen Kontexten minimiert wird. Erst wenn ein Kennenlern- und Klärungsgespräch erfolgreich verlaufen sind, fällt die Entscheidung beider zum gemeinsamen Weg in der Gemeinschaft mit Gott.

Soweit das Schema. Ich kann nicht beurteilen, ob es wirklich in allen Fällen so läuft, aber ich bin mir sicher, dass es in der Begleitung von schwer traumatisierten Menschen Abweichungen gibt. In dieser Vermutung stärken mich zwei Beispiele. Das eine ist in den „Stimmen der Zeit“, Heft 8, August 2019[1] beschrieben. Eine harmlose, interessierte Frage steht am Anfang einer sich in immer größere (Un-)Tiefen vortastenden Reihe von Gesprächen, und irgendwann zeigt sich: Das ist Geistliche Begleitung, das ist genau die Form von Gespräch, nach der die traumatisierte Person gesucht hat, weil es sie ihr in ihrer Suche nach Leben und Sinn durch den Glauben unterstützt, gerade auch unter den erschwerten Bedingungen der indoktrinierten Kult- und Glaubenssätze. Das ist eine Stärke von Geistlicher Begleitung, die Hoffnung macht.

Das andere Beispiel habe ich selbst erlebt. Auch hier gab es eine lange Reihe von Gesprächen, die langsam ein immer tieferes Vertrauen wachsen ließen, so dass nach mehreren Jahren die Beobachtung möglich wurde: Hier findet Begleitung statt, in der auch spirituelle Themen ihren Platz haben. Präziser ausgedrückt: Während in Geistlicher Begleitung das ganze Leben vorkommt, wobei dieses Leben in der Beziehung zu Gott und seinem Bild vom Menschen gesehen wird, hat auch in dieser Begleitung das ganze Leben Platz – inklusive von immer wieder auftauchenden spirituellen Fragen. Es begann mit der scheinbar ganz harmlosen Frage in einem beruflichen Kontext: „Was kannst du gut?“ Die Frage löste ein Zittern aus, eine für mich gänzlich unerwartete Reaktion. Die Frage selbst war nicht beantwortbar. Es sollte nicht die einzige dieser Art bleiben.

Auswirkungen der Traumatisierung und Programmierung auf Alltagssituationen

Für alle Menschen beobachtet die Transaktionsanalyse, dass wir in unserer Entwicklung bestimmte Einschärfungen oder Glaubenssätze lernen und verinnerlichen. Aber diese Einschärfungen und Glaubenssätze sind ausgesprochen schwach, verglichen mit der absichtsvollen Programmierung, der die Opfer ritualisierter Gewalt in manchen Sekten  und extremen Weltanschauungsgruppen unterzogen wurden. Wenn zum Beispiel die harmlose Frage nach den eigenen Stärken auf das unbedingte Verbot trifft, sich selbst als gut zu bezeichnen, dann kann der Körper nur mit Angst und Zittern und die Persönlichkeit nur mit Dissoziation reagieren.

Leider gibt es eine Vielzahl solcher Trigger, die in Situationen auftreten, welche für andere Menschen keineswegs bedrohlich wirken. Schritte auf dem Flur, eine modern gemachte Sequenz zur Einführung eines Online-Lernvideos, der Ablauf von Jahresendgesprächen mit Selbsteinschätzung und Gespräch mit dem beurteilenden Manager können ebenso Auslöser sein wie chaotische Projektvorgaben, die die Hilfe zerbrechen lassen, welche von Strukturen zur Bewältigung des Alltags ausgehen. Mit anderen Worten: Selbst wohlmeinende Menschen haben keine Chance, allen möglichen Triggern auszuweichen, weil diese überall lauern können. Deshalb kann es im Miteinander nur darum gehen, mit den getriggerten Reaktionen sinnvoll umzugehen. Dazu sind meines Erachtens eine Reihe von Grundeinstellungen oder Haltungen hilfreich, die auch eine geistliche Begleitperson zeigen sollte.

Hilfreiche Haltungen der geistlichen Begleitperson

Da Trauma-Trigger sich überall befinden können, ist es unvermeidlich, dass Reaktionen wie die beschriebene auftreten. Damit ergibt sich die wichtigste Verhaltensregel quasi von selbst: nicht zu erschrecken, nicht in Panik zu geraten. Man könnte sagen, dies ist der Sonderfall des „nicht bewerten“, das zu den Grundregeln der Geistlichen Begleitung gehört.

Doch es gibt noch mehr hilfreiche Verhaltensmöglichkeiten. Da sie je nach begleiteter Person unterschiedlich ausgeprägt sein können, lohnt sich die Frage: „Was brauchst du jetzt bzw. in so einer Situation? Und was sollte ich auf keinen Fall tun?“ In meinem Fall habe ich gelernt, Blickkontakt zu halten oder (mit Ansage!) Kaffee oder ein Glas Wasser zu holen, aber auf keinen Fall in irgendeiner Weise den Körperkontakt zu suchen.

Fast noch wichtiger als die Verhaltensregeln scheint mir aber die innere Haltung zu sein. Für das Nicht-Erschrecken oder besser „Nicht-Dramatisieren“ ist es hilfreich, von der Würde und dem Wert des Gegenübers überzeugt zu sein und tiefen Respekt zu verspüren vor dem, was trotz der Traumatisierung schon erreicht wurde. Dabei verbietet sich selbstverständlich ein neugieriges Nachfragen, denn letzteres verletzt die Grundregel, dass die begleitete Person bestimmt, was und wie viel sie in welchen Einzelheiten erzählt.

Auch der Glaube daran, dass die begleitete Person ihren Weg finden und gehen wird, wirkt sich meiner Erfahrung nach positiv aus. Damit ist nicht das eher fordernde und unter Druck setzende „du schaffst das schon“ gemeint, sondern die im konkreten Gespräch erlebbare Überzeugung, die man mit folgenden Worten beschreiben könnte: „Wenn diese Idee nicht funktioniert hat, dann haben wir immerhin schon mal etwas gelernt. Und wir finden sicher einen neuen Ansatz, auch wenn jetzt noch nicht klar ist, welchen.“ Diese Einstellung hilft selbst dann, wenn Gedanken rund um Suizid besprochen werden, wobei in diesem Fall natürlich die Einschätzung oder Frage relevant bleibt: „Hältst du es aus bis zu diesem Datum oder jenem spezifischen Ereignis?“

Natürlich gilt auch die Grundforderung jeder Begleitung und jedes Coachings, sich nicht in Therapie einzumischen und schon gar nicht selbst therapieren zu wollen. Mir hilft dabei eine einfache Vorgehensweise. Ich bitte die begleitete Person, ihre(n) Therapeutin/en über unser Setting und unsere Gespräche in Kenntnis zu setzen. Diese kleine Maßnahme verankert für alle Beteiligten die Rollen: dort Therapie, hier Begleitung. Gerade weil Therapie ihr Recht und ihre Methoden an einem anderen Ort hat, ist auch eine weitere Anforderung an den Begleiter leichter zu erfüllen: Die intuitive Wahrnehmung, was im Begleitgespräch klärend gesagt und gefragt werden kann, und was zum gegenwärtigen Zeitpunkt besser unterbleiben sollte. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen:

Noch in der als Coaching angesetzten Phase der Gespräche hatten sich verschiedene Coaching-Tools zur Arbeit mit Glaubenssätzen angeboten, oder man hätte an Rituale zur Verabschiedung von indoktrinierten Glaubenssätzen denken können. Doch ich konnte spüren, dass solche Ansätze zu tief gehen und zu existentielle Fragen aufwerfen würden, dass sie also in unzulässiger Weise auf das therapeutische Gebiet ausgreifen würden, auch wenn Glaubenssatz-Arbeiten bei anderen Coaching-Klienten sehr positive Ergebnisse bringen können.

In einer anderen Situation dagegen habe ich mich, nachdem ein weiterer Wechsel des Arbeitsplatzes endlich auf eine gut passende, leidensgerecht ausgeprägte Stelle geführt hatte, für die konkrete Frage entschieden „Darfst du am neuen Arbeitsplatz erfolgreich und zufrieden sein?“ Das war in Ordnung, weil die Frage nicht aus Neugier entsprungen war, sondern der ehrlichen Sorge, ein gut begonnener Prozess könnte durch eine „Einschärfung“ zunichte gemacht werden. Zudem hatte ich die Hoffnung, dass das Aussprechen dieser Sorge der erste Schritt war, die befürchtete Entwicklung zu verhindern.

Ganz allgemein ist meines Erachtens auch alles sinnvoll, was erlaubt, Trauma-Trigger „nebenbei“ zu bearbeiten. Wenn die begleitete Person sich auf keinen Fall selbst loben darf, dann kann ich als Begleiter die Programmierung überlisten und bei Gelegenheit all das wertschätzend hervorheben, was ich aus einer Erzählung als lobenswert erkannt habe. Wenn ich dann noch auf der Metaebene anspreche, was ich gerade tue, dann trage ich zur Schwächung des Triggers bei. Und vor allem kann ich immer wieder auf die Fortschritte verweisen, auf all das, was vor einiger Zeit noch gar nicht möglich gewesen wäre und was ich jetzt selber sehe oder den Schilderungen der begleiteten Person entnehme.

Während also auf der einen Seite die Wertschätzung der Person und die Förderung all dessen was stärkt wichtig sind, gehört meines Erachtens in einem gewissen Umfang, und auch dies ist eine Besonderheit bei der Begleitung von durch rituelle Gewalt schwer traumatisierten Personen, auf der anderen Seite der konkrete Einsatz für die begleitete Person in ganz praktischen Bezugsfeldern – Wohnungssuche, Arbeitsplatzausgestaltung, Alltagsbewältigung… – dazu. Eine ganz einfach erscheinende und doch wichtige Unterstützung kann auch darin bestehen, sich nicht wie häufig bei geistlicher Begleitung in einem Monatsturnus zu treffen, sondern sich in einem Zwei-Wochen-Rhythmus zu verabreden. Das erscheint mir insbesondere dann sinnvoll, wenn sich die Gesprächsfrequenz damit gut einfügt in die sonstigen Unterstützungsmöglichkeiten der begleiteten Person, so dass im Falle einer akuten Krise die Zeit bis zum Treffen mit einer bekannten Person aus dem Unterstützungs-Umfeld nie länger als eine Woche dauert. Grundsätzlich gilt, dass jede/r Überlebende ritueller Gewalt ein ganzes Netzwerk der Unterstützung (Rechtsberater/innen, Therapeut/innen, Freund/innen…) braucht und auch der/die geistliche Begleiter/in aufgerufen ist, die Schaffung eines solchen Netzwerkes aktiv zu unterstützen.

Rituelle Gewalt zerstört die Persönlichkeit auf allen Ebenen. Zuerst müssen oft ganz lebenspraktische Neuanfänge unterstützt werden. Erst wenn eine gewisse Alltagsbewältigung und eine beginnende Korrektur des durch die Programmierung verbogenen Selbstbildes erreicht sind, können vielleicht auch spirituelle Fragen bearbeitet werden. Nun tragen beide, die konsequente Wertschätzung und die erlebte praktische Unterstützung, nach meiner Einschätzung dazu bei, das Vertrauen zu stärken, so dass in der Begleitung spirituelle Themen zur Sprache kommen können, obwohl die erfahrene Gewalt spirituell und rituell eingebunden war, spirituelle Themen also zu den stärksten Triggern zählen. Denn die spirituellen Manipulationen sind häufig die im Hintergrund wirksamsten Einschärfungen und zugleich die scheinbare Legitimation, die die rituelle Gewalt erst möglich werden ließ. Zur Gesundung nach ritueller Gewalt kann folglich die Auseinandersetzung mit den Glaubenssätzen der Gruppe unbedingt notwendig sein – jedoch in aller Vorsicht und zu ihrer Zeit. Selbstverständlich kann sich auf Wunsch der begleiteten Person jetzt auch Geistliche Begleitung entwickeln, insbesondere wenn sich wie bei dem in den Stimmen der Zeit geschilderten Fall zeigt, dass eine Sehnsucht nach einem guten Verhältnis zu Gott eine starke Triebfeder ist.

In jedem Fall ist für jede Art der Begleitung von schwer traumatisierten Personen, also auch für Psychotherapie oder Körpertherapie, die eigene spirituelle Verankerung der begleitenden Person wichtig und vielleicht sogar notwendig. Diese Verankerung gibt Stabilität, um nicht schockiert zu reagieren in Situationen, die sich in der Begleitung ergeben können. So bleibt der in der Begleitung aufgespannte Resonanzraum ein sicherer Ort für die begleitete Person. Hilfreich ist auch die innere Haltung der Geistlichen Begleitung, die sich in der Art des Miteinander-Sprechens und des Zuhörens niederschlägt, und nicht zuletzt schafft diese spirituelle Verankerung einen Raum, in dem die begleitete Person die Möglichkeit hat, eigene spirituelle Fragen oder die eigene spirituelle Suche überhaupt anzusprechen.

Wissenswertes bei der Begleitung traumatisierter Personen

Mit den beschriebenen Verhaltensweisen und Einstellungen kommt man meiner Erfahrung nach in der Begleitung von durch ritualisierte Gewalt traumatisierten Personen recht weit, insbesondere wenn diese Personen schon Strategien entwickelt haben, mit für sie schlimmen Situationen oder Triggern umzugehen, und wenn sie über ein ausreichendes Netz an Unterstützungsmöglichkeiten verfügen. Trotzdem ist es gut, ein Grundwissen über gewaltbedingte Traumata, Dissoziation und Multiple Persönlichkeiten zu erwerben, denn dieses hilft, mache beobachtete oder erzählte Begebenheit besser einzuordnen. Dabei kann es nicht darum gehen, in irgendeiner Weise Phänomene zu klassifizieren oder zu diagnostizieren. Vielmehr kann Wissen hilfreich sein, besser in Worte zu fassen, was ich bei einer Erzählung oder in einer Situation empfinde und wie ich sie verstehe. Und ich kann Gelassenheit ausstrahlen, wenn ich z.B. erzähle, dass für den Ausstieg aus Missbrauchsstrukturen ungefähr genauso viel Zeit nötig ist, wie man in diesen Strukturen gefangen war, ähnlich wie eine Eheberatung nicht von heute auf morgen funktionieren kann, wenn ungesunde Verhaltensweisen über Jahre praktiziert wurden.    

Zu den hilfreichen Fakten zählt die von Robert Lifton[2] erarbeitete Liste von Methoden, die totalitäre Systeme oder Sekten verwenden, um den Geist von Menschen ohne deren Einverständnis zu ändern:

  • Milieukontrolle (kontrollierte Beziehungen zur Außenwelt)
  • mystische Manipulation (die Gruppe hat höhere Ziele als die restliche Welt)
  • Geständnis gegenwärtiger oder vergangener Verstöße gegen gruppendefinierte Regeln gegenüber dem Supervisor oder der Gruppe
  • Selbst-Heiligung durch Reinheit (das Individuum dazu drängen, eine nicht erreichbare Perfektion anzustreben)
  • Aura einer heiligen Wissenschaft (die Überzeugungen der Gruppe sind sakrosankt und vollkommen)
  • überladene Sprache (neue Bedeutungen für Worte, um Schwarz-Weiß-Denken zu fördern)
  • Doktrin über die Person (die Gruppe ist wichtiger als das Individuum)
  • verschonte Existenz (Insider werden gerettet, Outsider sind zur Vernichtung verdammt)

Gut zu wissen ist für mich auch, dass es in der Folge von ritualisierter Gewalt zur Aufspaltung der Persönlichkeit in mehrere Anteile kommen kann, die sich gegenseitig nicht kennen, zwischen denen aber situationsbedingt ein schneller Wechsel erfolgen kann. Damit erledigt sich der Gedanke an das Modell des inneren Teams von Schulz von Thun, denn in diesem Modell können die verschiedenen Personen oder Stimmen an einen Tisch gesetzt werden und ihre Beiträge von einem Vorstand, dem Ich, gewürdigt und zusammengeführt werden. Mit anderen Worten: Ich kann alle Ideen sofort loslassen, die mir während der Begleitung aufgrund dieses Modell kommen, und mich ganz auf das Begleiten im Sinne von mit-gehen konzentrieren.

Auch wenn der Vergleich zwischen Sucht und Bindung an extreme Gemeinschaften nur begrenzt tragfähig ist[3], ist auf dem Weg der Heilung in beiden Fällen Spiritualität eine starke Antriebsfeder. So steht im 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker bereits an zweiter Stelle „Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.“ Auch im dritten, fünften, sechsten und siebten Schritt wird auf Gott Bezug genommen, im Entschluss, sich ihm anzuvertrauen, in der Ehrlichkeit ihm gegenüber und im Vertrauen darauf, dass mit seiner Gnade die eigenen Fehler und Mängel behoben werden können. Ähnlich beschreibt Felicitas Lukas, ein Opfer ritualisierter Gewalt, im oben zitierten Artikel das in ihrem Tiefsten zugrunde gelegte Sehnen nach Gott oder dem Göttlichen als einen Antrieb, der schließlich dort Möglichkeiten eröffnete, wo die Psychotherapie bei ihr nicht mehr helfen konnte, bei ihrem innersten Glaubens- und Wertesystem. Mit andern Worten: Gerade für Menschen, die zutiefst erniedrigt und deren Selbstwertgefühl massiv unterdrückt wurde, ist die Sehnsucht nach, das Vertrauen auf oder der Glaube an Gott oder das Göttliche eine entscheidende Kraft, die ihnen hilft, auf dem Weg des Ausstiegs, der Selbstbefreiung, der Heilung weiterzugehen – die Alternative wäre das Nichts, oft genug der Suizid.

Steven Hassan[4] beschreibt, wie man Menschen, die in Sekten gefangen sind, zum Ausstieg helfen kann, indem man ihr authentisches Selbst stärkt, das von der dominanten Sektenidentität unterdrückt wird. Doch danach bleibt die Aufgabe, ein dem authentischen Selbst zu einer Nach-Sekten-Identität zu verhelfen, denn der Ausstieg ist nur eine (wichtige) Etappe auf einem langen Weg.

Auf dem Gesundungsprozess nach spiritualisiertem Machtmissbrauch gibt es viele, auch ineinander verschränkte Schritte. Auftreten kann

  1. Leiden – bei gleichzeitig weiterlaufender Identifikation mit dem Tätersystem
  2. Erstes Ent-Identifizieren
  3. Benennen
  4. Entmystifizieren (Decodieren der von Lifton identifizierten Methoden)
  5. Distanzieren
  6. Entdramatisieren und abbauen der eingeschärften Ängste
  7. Aufklären
  8. Enttarnen
  9. Gerechtigkeit fordern
  10. Einstehen
  11. Als Teil der eigenen Geschichte akzeptieren

Bei den Anonymen Alkoholikern wird interessanterweise im vorletzten der zwölf Schritte eine Weiterentwicklung der eigenen Spiritualität benannt: „Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung zu Gott – wie wir Ihn verstanden – zu vertiefen.  Wir baten Ihn nur, uns Seinen Willen erkennbar werden zu lassen und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen.“ Dies ist vermutlich auch ein wesentlicher Schritt nach spiritualisiertem Machtmissbrauch, gerade wenn dieser sich auf ein korrumpiertes und verdrehtes Gottesbild stützte. Doch ich denke, dass dieser Schritt sich nicht auf den Ausstieg aus Sucht oder Missbrauch beschränkt und auch nicht wirklich ein einzelner Schritt ist, sondern dass die Vertiefung der eigenen Spiritualität für jeden Menschen ein andauernder und befreiender Prozess ist. Genau dafür gibt es ja unter anderem die Geistliche Begleitung.


[1] Beiträge von Martina Rudolph: „Die im Dunkeln sieht man nicht“, Felicitas Lukas: Hinaustreten ans Licht und Willi Lambert: Schatten und Licht

[2] Robert Lifton gehörte zu den für das amerikanische Militär arbeitenden Psychologen, die die chinesischen Methoden der Gehirnwäsche im Koreakrieg untersuchten und dafür den Begriff „Gedankenkontrolle“ oder „Gedankenkorrektur“ prägten

[3] Endbericht der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ des Deutschen Bundestags, S. 73

[4] Steven Hassan: Freiheit des Geistes, Ausstieg e.V., 2013

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