Theologie spreche nicht mehr die Sprache der Menschen ist eine weitverbreitete Klage. Auch biblische Texte seien für moderne Menschen kaum mehr zu entschlüsseln. Wie kann dennoch christliche Spiritualität heute zugänglich gemacht werden? Was bei der Erschließung religiöser Texte zu beachten?

Religiöse Texte erschließen

Text: Peter Hundertmark – Photo: geralt/pixabay.com

Dass christliche Texte heute von vielen Menschen nur schwer entschlüsselt werden können, lässt sich leicht empirisch belegen. Die Aufgabe des/der Auslegenden ist deshalb wesentlich komplexer als in Zeiten, als viele Menschen den Verstehenshintergrund der religiösen Texte scheinbar ungefragt teilten.

Versuche – auf einer ersten Ebene – das Vokabular zu übersetzen, haben nicht zu den gewünschten Erfolgen geführt. Diese Aufgabe ist auch künftig sicher nicht zu vernachlässigen, aber es legt sich nahe, dass grundsätzlicher angesetzt werden muss. Da ist zum einen das in weiten Teilen antike Weltbild, das viele religiöse Texte voraussetzen, das aber für naturwissenschaftlich denkende Menschen nach der europäischen Aufklärung nur schwer nachzuvollziehen ist. Die Versuche, die Inhalte des Glaubens in die Denkstrukturen der Moderne zu inkulturieren, stehen immer noch am Anfang.

Ein weiteres Hemmnis, um religiöse Texte zu verstehen, könnte durch den Habitus entstehen, in dem diese manchmal vorgetragen werden. Um sich schon vorab gegen vielleicht unfaire Kritik zu schützen, werden religiöse Texte dann als geschlossene, nur binnenreferentiell verbundene Impulse präsentiert. In einem bildlichen Vergleich gesprochen, kommen sie wie Pillen daher, die nur im Ganzen geschluckt werden dürfen.  Dem Versprechen, dass sie innerlich eine segensreiche Wirkung entfalten, muss man vertrauen. Überprüfen kann man es nicht. Es gibt auch keine Beipackzettel, wo Wirkungen, Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten beschrieben sind. Ob alle Bestandteile wirklich zuträglich sind, ist der Kontrolle entzogen.

Gelingt es den Adressaten der religiösen Texte nicht, diese nachträglich – und gegen den mittransportierten selbstimmunisierten Unbedingtheits- und Wahrheitsanspruch –  aufzuspalten und sie auf Wirkung und Bedeutung zu untersuchen, bleiben diese als „Kügelchen“ in der Seele liegen. Vielleicht verbinden sich mit weiteren ähnlichen Texten zu einer Art inneren religiösen Orbit, in den man bei Bedarf eintauchen kann. Dann aber befindet man sich in einer Gedankenwelt, die mit dem alltäglichen Leben und meinen sonstigen Überzeugungen und Erfahrungen nicht wirklich kommuniziert. In sich kann dieser religiöse Orbit völlig stimmig und logisch sein. Er bleibt dennoch ohne Bedeutung. Schlimmer noch, er nützt auch nicht, und gerade dann nicht, wenn er von seinem Selbstanspruch am nötigsten gebraucht würde: in Zeiten der Trauer, der Krankheit, der Orientierungslosigkeit, der Bedrohung… Im schlimmsten Fall zerstört die inszenierte Wahrheit des religiösen Textes seine lebensstärkende spirituelle Funktion. Statt Trost findet sich dann nur Vertröstung.

Dass Menschen solchen „Wahrheitspillen“ gegenüber skeptisch bleiben, kann ihnen niemand verdenken.

Bedeutung von Texten

Um die religiöse Texte besser aufschlüsseln zu können, hilft ein kurzer Exkurs in die Sprachwissenschaft: Auch wenn wir alltagssprachlich oft von „sinnvollen Texten“ sprechen, ist Sinn keine Eigenschaft von Texten. Für sich genommen, ohne Leser*in oder Hörer*in, sind Texte sinnlos. Sinn ist immer das Ergebnis einer Interaktion zwischen Hörer*in und dem Text. Es gibt deshalb auch nicht den einen Sinn eines Textes. Gute Texte stimulieren immer wieder neue Sinnproduktionen in ihren Leser*innen. Ähnlich verhält es sich mit Wahrheit und Bedeutung. Auch sie entstehen in einem dialogischen Geschehen, in das beide, Text – und darin der/die Autor*in, seine/ihre Aussageabsicht, sein/ihr Kontext und die ursprünglichen Adressaten – und der/die Leser*in heute mit ihrem Verstehenshorizont konstitutiv eingehen. Dies gelingt umso leichter, je deutungsoffener ein Text daher kommt. Den Unterschied kann jede*r ganz banal selbst erleben, wenn er/sie nacheinander eine Gebrauchsanleitung und ein Märchen liest.

In diesem dialogischen Geschehen erschafft der/die Leser*in in sich einen neuen „Text“ – auch wenn dieser nur selten ausformuliert wird. Etwas vom Gelesenen oder Gehörten verbindet sich mit anderen Kenntnissen, mit früheren Erfahrungen, manchmal mit recht chaotischen Assoziationsketten, mit inneren Bildern, mit erlernten Verstehensmustern… zu einem singulären neuen „Text“. Gelingt das Lesen oder Hören, geschieht eine Zeit- und Kulturverschiebung, eine Inkulturation in einen neuen Kontext.

Das dialogische Geschehen zwischen dem gelesenen oder gehörten Text und dem/der Hörer*in ist zusätzlich ganz wesentlich von der aktuellen Stimmung, von den Rahmenbedingungen, von den jetzt durch das Hören ausgelösten Emotionen und nicht selten auch von den Übertragungen bestimmt, die der/die Sprecher*n oder der literarische Kontext in dem/der Hörer*in auslöst. Ein Text, von einem sympathischen Menschen in einer emotional entspannten Situation vorgetragen, stimuliert ein völlig anderes Sinngeschehen, als der gleiche Text, in einer emotional hochbelasteten Situation, wenn der Sprecher zudem an einen damals unfairen Lehrer erinnert. Jedes Textverstehen ist ein Unikat. Sinn, Wahrheit und Bedeutung sind personale Kategorien.

Bedeutung, Relevanz hat nur der neue, in der Leser*in entstandene „Text“. Erst dieser „neue“, innere Text, nicht der aufgeschriebene oder überlieferte Text, bedeutet etwas, denn nur er ist mit dem/der Lesenden so existentiell verbunden, wie der geschriebene Text mit der Existenz des/der Autor*in verwoben war. Nicht angeeignete, anverwandelte Texte oder Textteile, Textintentionen, die in der Hörer*in keine Resonanz auslösen, sinken als tote Sedimente auf den Grund des Verstehensspeichers oder werden direkt wieder vergessen und ausgeschieden. Umgekehrt geht eine einmal erarbeitete Bedeutung in einen Sinnvorrat ein, der in anderen Situationen wieder abgerufen werden kann und der auch dann wieder seine stabilisierende und orientierende Wirkung entfalten kann.  Dazu durchläuft der früher gefundene Sinn jedoch ein weiteres Mal das gleiche dialogische Anverwandlungsgeschehen. Er verbindet sich mit der neuen Situation und stimuliert – oder stimuliert auch nicht – neue, jetzt und hier relevante Bedeutung. Sinn, Wahrheit und Bedeutung haben präsentische Struktur. Es gibt sie immer nur jetzt.

So wie Öle in der Nahrung umso besser verdaut werden können, je mehr freie Radikale sie haben, können Texte umso mehr Bedeutung, Sinn und Wahrheit – personal und präsentisch – stimulieren, wenn ihre Komponenten und ihr „Quellcode“ offen liegen und damit ihre Komplexität erschlossen werden kann. Je mehr offene, freie, vielleicht auch von andere Komponenten isolierbare Bestandteile anverwandelt werden können, desto wahrscheinlicher hat der Text auf den/die Leser*in eine Wirkung. Wer zum Beispiel den/die Autor*in kennt, um seine/ihre Lebenswelt weiß, einschätzen kann, in welche Situation hinein er/sie den Text verfasst, wer seine/ihre Adressat*innen waren, wer sich seine/ihre Aussageintention erschließen kann… bekommt unzählige Komponenten in die Hand, die den Text erschließen, so dass jetzt Sinn für den/die Leser*in entsteht. Manchmal sind es auch die Komponenten, die archäologischen Schichten und die vielen externen Bezüge, die für mich Sinn und Bedeutung entstehen lassen, obwohl der Text in sich selbst fremd bleibt und für den/die Hörer*in keine Wahrheit gewinnt.

Religiöse Texte erschließen

Wie die Anverwandlung religiöser Texte unterstützt werden kann, soll am Beispiel biblischer Texte ausgeführt werden: Biblische Texte sind hochkomplexe literarische Produkte mit langer, ebenfalls hochkomplexer Auslegungstradition. Sie transportieren manchmal hunderte von möglicherweise sinnstiftenden Komponenten und Bezüge. Die meisten biblischen Texte sind zudem schon von ihrer inneren Struktur her als deutungsoffene Texte angelegt. Sie haben folglich ein großes Potential auch über den historischen Abstand und die kulturellen Gräben hinweg, Bedeutung und Sinn in der Leser*in entstehen zu lassen. Dieses Potential entfaltet sich umso mehr, wenn biblische Texte nicht auf eine einzelne „Wahrheitsaussage“ reduziert werden, sondern so erschlossen werden, dass möglichst viel von ihrem Quellcode, wie auch von ihrer Wirkungsgeschichte sichtbar werden.

Ermöglicht wird ein solches aufgliederndes Erschließen durch das Faktum, dass biblische Texte keine verbalinspirierte Texte von Gott oder über Gott selbst sind. Solche Texte wären gar nicht möglich, da Gott kein Teil dieser materiellen Welt ist und folglich in sich nicht durch sinnvolle Sätze beschrieben werden kann. Wer Gott ist, wissen wir nicht und können wir nicht wissen. Die Bibel behauptet das auch gar nicht. Das Bilderverbot des Alten Testaments schiebt hier einen ersten Riegel vor. „Niemand hat Gott je gesehen.“  „So hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch sind Gottes Gedanken über den menschlichen Gedanken.“ Diese und viele ähnliche Sätze, aber auch das Verbot, den Gottesnamen auszusprechen, warnen vor dem Versuch, über Gott etwas wissen zu wollen. Berichtet werden in den biblischen Texten ausschließlich Erfahrungen von Menschen, die etwas erlebt haben, was sie mit dem Wirken – oder dem Nicht-Wirken – Gottes erklären. Beschrieben werden Wirkungen Gottes, Spuren Gottes – und auch dabei handelt es sich natürlich nur um mögliche, nicht zwingende Deutungen von Erlebnissen. Gott selbst bleibt ein „Hauch verschwebenden Schweigens“, durch eine Wolke unseren Blicken entzogen, im Himmel, der mit keinem, auch mit keinem philosophischen Turmbau zu Babel erstürmt werden kann.

Materiale Basis

Biblische Texte sind also nicht Texte über Gott, sondern Texte über reale Begebenheiten, die als „Spuren Gottes“ gedeutet werden. Sie sind literarische Spiegelungen menschlicher Erlebnisse. Sie gründen in einer historischen Situation, reflektieren Schicksale, sind geprägt von konkreten Interessen. Soweit möglich, können und sollen deshalb die biblischen Texte zuerst aus ihrer materialen Basis heraus erschlossen werden, um eine heutige Sinnfindung zu erleichtern. Für das Verstehen ist der historische Kontext aus wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, religiöser und politischer Situation wesentlich. Aber auch der gesellschaftliche Ort und die politische Position des/der Schreiber*in in seiner/ihrer Welt geht prägend in seine Gotteserfahrung und damit auch in sein literarisches Schaffen ein. Dabei ist zu beachten, dass viele biblische Texte mehrere Redaktionen zu unterschiedlichen Zeiten durchlaufen haben, also neben oder unter dem aktuellen historischen Kontext der letzten Verschriftlichung weitere gesellschaftlich-politische Gegebenheiten transportieren. Manches lässt sich davon noch auffinden und für die Sinnerschließung zur Verfügung stellen.

Bewährt hat es sich, beim Blick auf die materialen Gegebenheiten mehr von der Differenz und vom Konflikt auszugehen. Der/die Autor*beschreibt eher eine Erfahrung, die ihn/sie von anderen Menschen seiner/ihrer Zeit unterscheidet, denn von allen geteilte Erfahrungen. Er/sie bezieht damit Position in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und religiösen Debatten. Der Ansatz bei Konflikt und Differenz macht deshalb die spezifischen Komponenten der beschriebenen Gotteserfahrung besser sichtbar.  

Neben der materialen Situation gehen Persönlichkeit und Befindlichkeit des/der Autor*in in die Gotteserfahrung ein, die seinem/ihrem Text zugrunde liegt. Zu nennen sind persönliche Herausforderungen, wirtschaftliche, politische, religiöse… Interessen, Loyalitäten und Abhängigkeiten, die Deutungsgemeinschaft des/der Autor*in und seine/ihre kulturelle Prägung, die ihm/ihr zur Verfügung stehende Sprache und intellektuellen Werkzeuge, aber auch (religiöse) Überzeugungen, frühere Erfahrungen, ja seine/ihre ganze Biographie. Psychische und somatische Gegebenheiten gehen ebenfalls konstitutiv in die religiöse Erfahrung ein, aus der dann der biblische Text erwächst. So macht es beispielsweise einen erheblichen Unterschied, ob ein gesunder Mensch seine Erfahrungen aufschreibt oder ob zum Beispiel der Prophet Ezechiel, bei dem eine psychische Erkrankung mit Halluzinationen als wahrscheinlich anzunehmen ist, von Gott spricht. Die Rede von Gott bekommt eine andere Farbe und Ausrichtung, wenn sie mitten im Frieden am Jerusalemer Tempel oder aber in einer Verfolgungs- und Exilzeit verfasst ist. Wenn der/die Autor/in mit den bestehenden sozialen Bedingungen zustimmend verbunden ist, wird er/sie auch in seiner/ihrer Gottesrede andere Aspekte nach vorne rücken, als jemand, der sich in scharfem, kritischem Widerspruch zur Gesellschaftsordnung sieht.

Umso schmerzlicher ist es, dass wahrscheinlich alle oder nahezu alle biblischen Texte von Männern aus ihrer Perspektive und in ihrer Weltsicht geschrieben wurden. Die Hälfte der Gottesrede fehlt, da die religiösen Erfahrungen von Frauen wahrscheinlich kaum von ihnen selbst aufgeschrieben wurden. Diese Leerstelle und die darin gründende Skepsis gegenüber zu vermutenden patriarchalen Überformungen müssen bei jeder Auslegung biblischer Texte mitlaufen.

Des weiteren sind alle Texte und natürlich auch alle biblischen Texte interessegeleitet. Der/die Autor*in will etwas bei seinen Hörer*innen oder für die realen Verhältnisse erreichen. Er trifft damit auf Adressat*innen, die ebenfalls ihren spezifischen Interessen folgen. Berichtet wird sodann nicht selten von weiteren Personengruppen, die entsprechend ihren Interessen untereinander interagieren. Auch die Frage nach den spirituellen  Interessen des/der Autor*in – Stabilisierung, Veränderung, Trost oder Ermahnung… – kann weitere Dimensionen erschließen.

Textarchäologie

Biblische Texte sind nicht nur Texte über reale Begebenheiten, sondern immer auch Texte über Texte. Sie kommentieren frühere (biblische) Texte, beziehen Position, verschieben das zur Deutung herangezogene Gottesbild, vertiefen oder korrigieren. Die meisten biblischen Texte tragen also in sich eine weit zurückgreifende Deutungsgeschichte, die textarchäologisch zumindest teilweise aufbereitet werden kann. Wieder lohnt der Ansatz bei der Differenz und beim Konflikt. Wie setzt sich der/die Autor*in von anderen Erfahrungen ab, wo bezieht er/sie eine neue, damals vielleicht damals zeitgemäßere Position, wo entwickelt er/sie etwas weiter? Berühmte und sehr offensichtliche Beispiele sind die Reden Jesu, wo er sagt: bei den Alten hat ihr gehört, ich aber sage euch.

Die Deutungstradition zu der sich der/die Autor*in verhält, gibt ihm/ihr darüber hinaus theologische Instrumente an die Hand, mittels derer er/sie seine Erlebnisse deutet. Jede/r Schreiber*in wählt dabei in spezifischer Weise aus der Komplexität der Tradition aus, bekennt sich damit zu einer „Schule“ oder begründet eine neue. Jesus beispielsweise ist wahrscheinlich stark von prophetischen Traditionen und von den spirituellen Deutungen der „Anawim“ geprägt, während er sich mit den tempelpriesterlichen Traditionen eher kritisch auseinandersetzt. Jede*r Autor*in ist an dem für sie typischen Set an Deutungsinstrumenten und der daraus resultierenden Theologie erkennbar. Sein/ihr theologisches Profil kann sichtbar gemacht werden. Die Theologie des Markusevangeliums beispielsweise unterscheidet sich von der Theologie des Johannesevangeliums. Jede Textauslegung gewinnt also, wenn sie das spezifische Profil des/der Autor*in aufschlüsselt. Der/die Hörer*in kann dann auswählen, Wechselwirkungen mit eigenen theologischen Instrumenten und Überzeugungen abwägen und natürlich in seinem „inneren“, neu entstehenden Text theologiekreativ neue Kombinationen erproben.

Das religiöse Denken endet natürlich nicht mit der Abfassung des biblischen Textes. Er wird vielleicht von anderen biblischen Texten kommentiert, durchläuft manchmal schon innerhalb des biblischen Kanons verschiedene Interpretationsschleifen. Alttestamentliche Texte werden dann spätestens nach der Zerstörung des Tempels in zwei sich voneinander entfernenden Interpretationslinien – der rabbinischen und der christlichen – weitergeführt. Beide Interpretationslinien differenzieren sich im Lauf der Jahrhunderte weiter, kreuzen sich manchmal, kommentieren sich gegenseitig, inspirieren islamische Texte und humanistische Bearbeitungen, nehmen Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen und Zeitdiagnosen. Manche Texte werden kontinuierlich gelesen und kommentiert, andere haben ihre Hoch-Zeiten und verschwinden dann für längere Zeit von der „Bildfläche“. Manche Texte werden nur in bestimmten spirituellen Schulen gelesen. Immer wieder greifen nachbiblische Autor*innen über ihre unmittelbaren Vorgänger*innen hinaus weiter geschichtlich zurück und schließen an frühere Interpretationen an. Wiederum kann manchmal wenigstens etwas davon sichtbar gemacht werden und die vielfältigen auf diese Weise entstandenen, aber oft schlummernden Anschlüsse „aktiv geschaltet“ werden.

Auslegung

Wer immer versucht, anderen das Verstehen biblischer Texte zu erleichtern, geht selbstverständlich mit seiner Persönlichkeit und Biographie, mit seinen spirituellen Erfahrungen, seinen theologischen Kenntnissen, seinen Interessen, seinem gesellschaftlichen Ort… in die Auslegung ein. Jede/r kann nur einige wenige Linien erschließen, verfügt nur über einen kleinen Ausschnitt der historischen und textarchäologischen Informationen – und selbst darin muss er/sie in der Regel auswählen, um die Hör- bzw. Lesekonzentration seiner/ihrer Adressat*innen nicht zu überfordern. Auch hier gilt, dass der/die Hörer*in umso freier und selbstbestimmter seine/ihre Deutung und damit Sinn und Wahrheit für sich entstehen lassen kann, je transparenter der/die Auslegende ihre persönlichen Optionen und Interessen macht.

Und natürlich beeinflusst auch die Interaktion von Auslegenden und Hörer*innen das Deutungsgeschehen. Die Hörer*innen haben Vorkenntnisse, Prägungen, einen gesellschaftlichen Ort, der sie bestimmt, wirtschaftliche und politische Interessen…, wollen manches hören und anderes nicht, können einiges an ihre Spiritualität anschließen, müssen aber vieles als momentan unverdaulich liegen lassen. Die Vermutungen über seine/ihre Hörer*innen beeinflusst die Auswahl und Schwerpunktsetzung des/der Auslegenden. Auch darüber kann er/sie sich und den anderen Rechenschaft geben. Transparenz ermächtigt.

Soll das Auslegungsgeschehen im Strom christlicher Sinnfindung geschehen, gehen zudem einige „Rahmenrichtlinien“ in das Auslegungsgeschehen ein, die bereits neutestamentlich definiert und dann durch die Spiritualitätsgeschichte hin präzisiert wurden. Christliche Auslegung setzt immer am Christus-Geschehen in Jesus von Nazareth an und schaut damit „mit den Augen der Auferstehung“ auf den biblischen Textbestand. Sie ist zudem den Optionen Jesu für die Armen, das Evangelium und das Reich Gottes verpflichtet. Nur was sich als Evangelium – gute Neuigkeiten für arme Leute – anfühlt und verstanden werden kann ist authentische christliche Auslegung. Diese Auslegungsrichtlinien begrenzen das Textverstehen. Sie sind deshalb offen zu legen, denn es handelt sich gerade bei alttestamentlichen Texten nur um eine mögliche Interpretation, die zudem nachträglich in den Textbestand hineingetragen wird.

Sinngeschehen

Damit in der/dem Hörer*in Sinn, Bedeutung und Wahrheit eines biblischen Textes entstehen kann, benötigt er/sie einerseits einen möglichst breiten Zugang zum „Quellcode“ des Textes. Es ist Verantwortung des/der Auslegenden ihre/seine Informationen offen zu legen und die ganze ihm/ihr selbst zugängliche Komplexität – strukturiert und anschließbar – anzubieten. Damit ist aber nur die eine Seite des dialogischen Geschehens beleuchtet.

Die andere Seite geschieht in dem/der Hörer*in und ist bzw. muss dem Zugriff des/der Auslegenden entzogen sein. Dafür braucht es vor allem Zeit. Wird dem/der Hörer*in keine Verarbeitungszeit eingeräumt, kann er/sie nur Vorgefertigtes „schlucken“. Die Herausforderungen der Vielfalt moderner Informations- und Kommunikationsverarbeitung führen dazu, dass in der Regel eine zeitlich getrennte, nachgängige Erschließung des Gehörten nur in geringen Ansätzen gelingen kann. Der biblische Text, egal wir kunstvoll er erschlossen wurde, bleibt als totes Wissen im Sediment des Gedächtnisses liegen und entfaltet im Moment kein Sinngeschehen. Verarbeitungszeit in die Abläufe hinein zu organisieren, ist deshalb die zweite große Verantwortung des-/derjenigen, der/die biblische Texte anderen erschließen will.

Besonders fruchtbar wird die Sinnerschließung eines biblischen Textes, wenn mehrere Personen sich gleichzeitig auf die Suche machen und sich dann nach einer persönlichen Verarbeitungszeit über ihre Bedeutungsfundstücke austauschen. Dabei werden auch einige Elemente des eigenen theologischen Überzeugungen, der persönlichen spirituelle Biographie und der praktischen Interessen sichtbar, was allen – dem/der Sprechenden und den Hörenden – weitere Sinnfindungen möglich macht. Jede Form von Auslegungsgemeinschaft verstärkt das Wahrheitsgeschehen, das ein biblischer Text stimulieren will. So kann eine dritte Verantwortung des/der Auslegenden hinzutreten: für einen wertschätzenden, grenzrespektierenden, aber wesentlichen, spirituellen Austausch in einer Gruppe von Gottsuchenden zu sorgen.

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