Die Exerzitien des Ignatius von Loyola verheißen eine tiefgreifende Wandlung hin zu einem erfüllteren, weil gottvolleren Leben. Diese Wandlung erfasst die Übenden bis hinein in ihre Selbst-Gewissheiten und Verhaltensmuster. Anfangs wird es oft turbulent, aber so entsteht eine neue Freiheit.
Umkehren lassen. Zur Dynamik der „ersten Woche“ der Exerzitien.
Text: Peter Hundertmark – Photo: RobertCheaib/pixabay.com
Im Exerzitiengeschehen setzt der Übergang von den frohmachenden Fundamenterfahrungen zu den Prozessen der ersten Woche ein, wenn der erste Trost, in Gottes Liebe und Zuwendung gegründet zu sein, verfliegt und der Anspruch sichtbar wird, der in der Ausrichtung auf Gott liegt. Alles auf Gott hin zuordnen und auf das Ziel zu dem man geschaffen ist, wird als unmögliche Aufgabe erlebt. Manche Lebensbereiche zeigen sich als abgeschlossen und widerständig, manche Gewohnheit und Überzeugung soll dem „Zugriff“ Gottes entzogen bleiben, der Körper beginnt seine eigene Dynamik spürbarer auszuleben. Statt Indifferenz stellt sich das gerade Gegenteil ein. Die Widerstände des „alten Adam“ werden fokussiert und gewinnen dadurch massiv an Bedeutung. Bewusstsein und Unbewusstes investieren eine Menge Energie, um Kindheitsbotschaften, Beliefs, Beziehungen, Lebensstil, Bequemlichkeiten… zu schützen. Ob diese Gewissheiten, diese Folgen früherer Entscheidungen, diese Gewohnheiten überhaupt durch die Ausrichtung auf Gott und das Lebensziel von ihm her in Frage gestellt werden, gerät dabei als Frage aus dem Blick. Gott nimmt, wenn diese Phase intensiv erlebt wird, die Züge eines Eifersüchtigen, in extremis eines Parasiten an, der alles vom Übenden weg und zu sich hin ziehen will. Das Fundament in der Erfahrung der bedingungslosen und ewig verlässlichen Zuwendung Gottes zerbröselt unter den Hammerschlägen der begrenzten Existenz. Die Aber-Geister mobilisieren die Theodizee-Frage in ihrer grundsätzlichsten und philosophischsten Form, stellen die Existenz und Relevanz Gottes in Frage und lassen die Eindeutigkeit der Güte Gottes in Zweifel treten.
So endet die Fundament-Phase in intensivem Misstrost. Die innere Freiheit schrumpft auf eine spröde und stahlkalte „Freiheit gegen“ zusammen. Der/die Übende gerät innerlich unter den scheinbaren Druck, die eigene Lebenswelt gegen Gott verteidigen zu müssen. Alles wird potentiell mit der „Er oder ich“-Dynamik überlagert. Das Ich, das kleine Ego, wird als einzige Sicherheit erlebt, als ultimativer Bezugspunkt der Existenz und Mitte der eigenen Lebenswelt. Es wird abgesichert, eingehegt, verklärt… und unvermittels ist der/die Übende in einer Dynamik gefangen, die die ganze Tradition mit dem Wort Sünde beschreibt: Die als überlebensnotwendig erlebte Trennung und Sicherung vor Gott. Diese existentielle „Sünde“ ist dabei strikt von einzelnen schuldhaften Handlungen zu unterscheiden. Ob solche real vorkommen, ist für das Selbsterleben in dieser Phase zweitrangig.
Selbstverständlich wird der Rückzug auf das illusorisch stabile und unteilbare (In-Dividuum) Ich erst einmal nicht als Sünde erlebt. Vielmehr scheint gerade in der heroischen Leistung des Ich das Heil zu liegen. Das eigene Vermögen ist die innere Burg, die gegen die vermeintlichen Feinde der autonomen Person zu schützen weiß. Die Biographie-Arbeit der Fundament-Phase wird nun weiter getrieben und bekommt ungünstigstenfalls eine schräge Dynamik. Je mehr über sich selbst entdeckt wird, je mehr das eigene Leben durchgearbeitet ist, je intensiver die eigene Begrenztheit therapeutisch geweitet wird… desto sicherer, verlässlicher, heiler, lebenswerter scheint das Leben zu sein. In der maximalen Differenz des Ich gegenüber allen, seine Existenz bedrohenden Kräften der Auflösung, Relativierung, Einbindung… liegt das vermeintliche Heil.
Das Exerzitienbuch setzt Gegenakzente. Die Interventionen des Ignatius und in der Folge des/der Exerzitienbegleiter/in nehmen nun die Form des „agere contra“ an. Es werden Impulse und Herausforderungen gesetzt, die der scheinbar selbsterlösenden Dynamik des imaginiären Ego entgegen wirken. So beginnt die erste Übung damit, dass der/sie Übende an die Verpflichtung auf das spirituelle Magnetfeld – sich als Geschaffen zu finden, ausgerichtet auf Gott und eine von ihm her gelingende Existenz – erinnert und aufgefordert wird, diese innere Spannung und Ausrichtung zu erbitten (EB 46). Alle Handlungen sollen „rein und auf die Verherrlichung seiner Göttlichen Majestät hin geordnet“ sein. Wird dieses Vorbereitungsgebet an dieser Stelle überhaupt schon aufgegriffen, dann oft abgespalten und der eigenen Selbstwahrnehmung desintegriert. Was der/die Übende in diesem Gebet erbitten soll, läuft seiner eigenen Selbstsicherungs- und Selbstoptimierungsdynamik zuwider. Der Misstrost verschärft sich. Ohne massive Interventionen des/der Begleiter/in durch die im Exerzitienbuch vorgegebenen Übungen bestünde die Gefahr, dass der/sie Übende sich in eine Spirale aus gleichzeitiger Selbstabwertung und Selbstrettungsphantasien hinein drehte.
Ignatius nimmt die innere Dynamik des/der Übenden auf und schafft erst einmal etwas Luft. Sünde wird als gemeinsames Existential aller Menschen benannt. Das Ich des/der Übenden darf sich in der großen Solidarität der Sünder von Adam an einfinden. Der/die Übende entdeckt, wie eng seine/ihre Freiheit historisch, gesellschaftlich, familiär, beruflich, körperlich… begrenzt ist. Strukturelle Sünde, Erbsünde, Sündenzusammenhang der Menschheitsgeschichte werden als Entlastung erlebt. Nicht der/die Übende alleine ist der/die Erste und Einzige, der/die der Illusion aufgesessen ist, sein/ihr Ich gegen Gott retten zu müssen. Er/sie kann ja gar nicht anders. Die Sünde ist übermächtig. Er/sie ist nur ein kleines Zahnrädchen in der großen Sündenmaschine dieser Welt, ein Staubkörnchen, das zwischen den Gewalten dieser Welt zerrieben wird. Eine eigene Verantwortung für sein Leben ist vielleicht nur sehr eingeschränkt gegeben. Eigentlich ist er/sie schuldunfähig – so der erste Impuls.
Diese erneute Illusion konfrontiert Ignatius gleich im ersten Kolloquium (EB 53) mit dem absoluten Extrempunkt menschlicher Sünde und Verantwortung. Der/die Übende wird unvermittelt vor den Gekreuzigten geführt. Er/sie schaut auf das Leid Gottes, das die Menschen verursacht haben. Er/sie findet sich, und hier steht Ignatius wohl ganz bruchlos in der Tradition Anselms von Canterbury, in der geteilten Verantwortung für dieses Leid. Die Verwirrung wird weiter gesteigert, indem zugleich das Erlösungshandeln Christi erinnert werden soll. Der/die Übende wird gleichzeitig mit seinen/ihren Selbsterlösungstendenzen, seiner/ihrer Verantwortung für die Passion Christi, der tatsächlichen Erlösung durch Christus und der Bitte um eine reine und geordnete Absicht konfrontiert.
Diese Strategie der Verwirrung führt Ignatius auch in der zweiten Übung weiter. Kaum hat der/die Übende sich etwas erleichtert in der großen Sündengeschichte eingereiht gefunden, wird er/sie massiv auf die eigene Sündhaftigkeit gestoßen und soll sich im Stil einer Generalbeichte an alle Verfehlungen des ganzen Lebens erinnern. In drastischen Bildern werden ihm/ihr die Folgen der eigenen Sünde vor Augen geführt. Um dann im Kolloquium mit der Barmherzigkeit und Langmut des Herrn konfrontiert zu werden, von dem, und nicht von der eigenen Anstrengung, nicht einmal vom eigenen Bemühen, nicht zu sündigen, sein/ihr Leben abhängt. Noch ist die Zeit der Gnade. Umkehr ist möglich. In der Höllenbetrachtung wird die gleiche Linie noch bildlich verschärft. Dem/der Übenden wird die Konsequenz seiner/ihrer Selbstsicherungsversuche in Trennung von Gott vor Augen geführt und dass diese Trennung nur deshalb nicht zur Katastrophe geführt hat, weil sich Gott in seiner Güte nicht von den Versuchen des Menschen beeindrucken lässt.
Ignatius geht davon aus, dass die Dynamik dieser drei Übungen über mehrere Tage hin aufrechterhalten wird. Der/die Übende gerät dadurch in immer größere Widersprüchlichkeiten. Die verschiedenen Kräfte, die durch die Übungen ausgelöst werden, werfen ihn/sie mal hierhin, mal dahin. Mal geht seine/ihre innere Ausrichtung auf den barmherzigen Erlöser, dann wieder findet er/sie sich in dem krampfhaften Versuch, sein/ihr Leben zu bessern, dann wieder im Aufstand gegen vermeintliche Entfremdung durch Gott… Trost und Misstrost wechseln sich in rascher Folge ab. Indem in dieser Weise die „glatte Oberfläche“ des Selbstbildes zerstört wird, der/die Übende sich selbst nicht mehr versteht, kommen die abgeschatteten Kräfte der Beharrung, die Bindungen und Widerstände stetig mehr an die Oberfläche. Vorbewusste und „vergessene“ Ängste, Aggressionen und Schmerzen, sowie die eingeübten Vermeidungsstrategien werden ans Licht gebracht. Der/die Übende findet sich mitten in einer Krise der Selbstwahrnehmung und der Selbstachtung. Er/sie erlebt sich, den Schattenanteilen seiner Seele, den ungelebten Gegenpolen und der ausgeschiedenen anderen geschlechtlichen Existenzform ausgeliefert. Das Chaotische der eigenen Abgründe und die ganze Unordnung des Lebensentwurfs werden sichtbar.
Nach und nach werden nun die Kräfte entdeckt, die Ignatius die „ungeordneten Anhänglichkeiten“ nennt und die er, da sie von Gott trennen und den Übenden in Misstrost stürzen, als Frucht des „Feindes der menschlichen Natur“ identifiziert. Indem er/sie sich ihnen überlässt, stellt sich der/die Übende bewusst oder unbewusst gegen seine/ihre eigenen tieferen Interessen. Er/sie schadet dem eigenen Leben, versteht diesen Zusammenhang nach und nach – und kann es doch nicht lassen. Mit dieser Einsicht und mit diesem Scheitern wird er/sie in den Kolloquien weiter abwechselnd vor den Gekreuzigten geführt und mit der Barmherzigkeit Gottes vertraut gemacht.
Die ungeordneten Anhänglichkeiten aber produzieren ständig neue Scheinbilder des Lebens. Sie blasen sich selbst zu Existenzialen auf und vernebeln ihren Charakter als gekippte, unnütz gewordene Mittel zum Lebensziel hin. Grundüberzeugungen, erzieherische Botschaften der Kindheit, Schuldgefühle, wie sie in der frühkindlichen Entwicklung angelegt sind, Prinzipien und Lebensphilosophie, Erfahrungen des Gelingens, mehr aber noch des Scheiterns, Erinnerung an peinliche, schädliche, schuldvolle, schmerzhafte und traurige Erfahrungen überrollen den/die Übende/n.
Nun gilt es, diesen inneren Impulsen zu widerstehen und nicht ihrem Ziel einer vermeintlich autonomen, heroischen, sich selbst genügsamen Existenz nachzulaufen. Dazu braucht es die Bereitschaft, die Kette von Reiz-Impuls-Reaktion zu unterbrechen, ihre scheinbare Notwendigkeit aufzulösen, ihre automatische Reproduktion auslaufen zu lassen. Anhalten, sich nicht einfach von den Impulsen, Phantasien und Schreckbildern treiben lassen – das fordert allein schon die Gestalt der Übungen ein. Eine Stunde bei einem Inhalt zu verweilen, der vielleicht intellektuell in wenigen Minuten zu durchdringen wäre, zwingt den/die Übende/n still zu halten, die Reaktionen zu suspendieren, erst sorgfältig und lange wahrzunehmen, dem bunten Treiben der inneren Regungen nach zu schauen und eben nicht ins Handeln zu gehen. Der/die Begleiter/in wird deshalb als erste Hilfe vor allem auf die Disziplin der Übungen bestehen.
In der Begegnung mit sich, wenn die ungeordneten, abgespaltenen, ungeliebten Persönlichkeitsanteile nicht länger übersehen werden können, stellt sich zwangsläufig die Frage nach einer Korrektur und Neuausrichtung. Die erste Woche ist Umkehrphase. Angezielt wird eine Freiheit, die es ermöglicht, andere Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten zu entwerfen und auszuprobieren. Die Zeit der ersten Woche ist auch eine Zeit der Experimente mit sich selbst. Nicht wenige Menschen setzen in Exerzitien wichtige Impulse, ihr Leben neu zu gestalten, fassen Vorsätze von existentieller Bedeutung. Die Umkehr geschieht tatsächlich und wird auch schon praktisch auf den Weg gebracht. Die wachsende Ausrichtung auf den Erlöser ermöglicht diese Freiheit des Geistes und den Mut, konkrete Veränderungen anzugehen. Manches aber ist auch „Labor“, Experiment und die Veränderung bleibt sinnvoll auf die Exerzitienzeit begrenzt.
Der/die Begleiter/in ist dabei auf vielen Ebenen gefordert. Er/sie garantiert den Rahmen der Übungen, fordert den „Vertrag“ der Exerzitien ein – Stillschweigen, Gebetszeiten, Gespräch… – und schafft so die Voraussetzungen in denen eine je größere Hinwendung zu Gott. Er/sie nutzt die Regeln für die Unterscheidung der Geister und hilft so, die verschiedenen Lebens- und Verhaltensmöglichkeiten abzuwägen. Vor allem aber tritt er, allen Versuchen entgegen, das Leben selbst, alleine zu regeln. Er/sie versucht die Transzendenz offen zu halten, lenkt die Aufmerksamkeit immer wieder auf das Beziehungsgeschehen zwischen Gott und dem/der Übenden zurück, widerspricht vorschnellen Lösung, stemmt sich gegen Selbstoptimierung und Selbsterlösung. Er/sie achtet darauf, dass die automatisierten Abläufe von Reiz und Reaktion immer wieder unterbrochen werden
Doch letztlich scheitert der Versuch in diesem Sturm der Geister, Leidenschaften, Verwirrungen, starken Emotionen und Widerstände, einigermaßen den Kopf über Wasser zu halten. Der/die Übende kommt an einen Stillpunkt am Ende der Sackgassen. Es geht nicht weiter. Die inneren Kämpfe kommen zum Erliegen und es tritt eine geistliche Lähmung ein, in der oft auch die Übungen fast keine Früchte mehr zu bringen scheinen. Es geht nicht weiter. Das Leben ist nicht zu retten. Für einen Moment gibt der/die Übende sich auf. Diese Aufgabe wird als Niederlage erlebt. Das Lebenskonzept ist gescheitert.
Dieser scheinbare Nullpunkt der Existenz, in seiner Lähmung und seinem Misstrost, kann einige Stunden, manchmal auch einen Tag anhalten. Der/die Begleiter/in achtet darauf, dass der/die Übende nicht aus den Übungen aussteigt und spricht ihm/ihr Mut zu. Ansonsten können beide nur abwarten, bis die Wende, die der Geist Gottes im Untergrund – jenseits dessen, was die psychischen Kräfte aktiv erreichen können – erwirkt, zum Durchbruch kommt. Plötzlich und wie aus dem Nichts heraus erlebt sich der/die Übende dann „verrückt“. Die Schwierigkeiten sind nicht weg, aber es gibt einen Weg damit umzugehen. Ein anderes Licht erhellt die Szene. Ein Paradigmenwechsel der Existenz hat sich vollzogen. Der/die Übende akzeptiert seine/ihre Erlösungsbedürftigkeit, seine/ihre Unfähigkeit das eigene Leben selbst zu gewährleisten, entdeckt die Sinnlosigkeit aller Versuche, sich vor Gott zu retten und die Versuchung des illusorischen Ego. Und in dieser neuen Selbstbewertung wird er/sie von der trostreichen Erfahrung überflutet, dass die Erlösung erwirkt ist, dass die Liebe Gottes all diese Hindernisse überstiegen hat, dass er/sie gerettet ist und das wirkliche Leben vor ihm/ihr liegt.
Jetzt bekommt die Frage, die er/sie die ganze Zeit im Kolloquium mit dem Gekreuzigten stellen soll: „Was ich für ihn tun soll?“ ihren Sinn. Sie wird zur Leitfrage und bereitet den/sie Übende/n für den Ruf Christi vor. In dieser Ausrichtung auf den Willen Gottes schwingt der/die Übende wieder in das spirituelle „Magnetfeld“ von Prinzip und Fundament ein. Aus der Erfahrung, mit den eigenen Lebenserhaltungsversuchen gescheitert zu sein, ist er/sie mehr bereit, sich den lebensspendenden Impulsen Gottes anzuvertrauen. Er/sie beginnt Gott in neuer Tiefe zuzutrauen, dass dieser ein Mehr Leben, Freiheit und Mündigkeit, mehr Glaube, Hoffnung und Liebe ermöglichen kann, als aus den eigenen Kräften und Entscheidungen zu gewinnen ist. Tiefe Trosterfahrung stellt sich ein. Jetzt wird die Bitte des Vorbereitungsgebetes in der Tiefe erfasst: dass die Handlungen rein auf die Verherrlichung Gottes hingeordnet sein sollen, weil so – und nur so – das Heil der Seele gefunden, eine gelingende Identität und Gestalt des Lebens erreicht werden kann. Ausrichtung auf Gott und Geschöpflichkeit werden nun als identisch und nicht mehr als Widerspruch erfahren.