Geistliche Begleitung versucht die ganzmenschliche und spirituelle Reifung ihrer Gesprächspartner/innen zu unterstützen. Reifung von Erwachsenen geht einher mit der Akzeptanz der bleibenden Ambivalenz jeder Beziehung. Diese reife Ambivalenz gilt es stetig gegen die Vereindeutigungsbedürfnisse von Begleiter/in und Begleiteter/m zu verteidigen.
Ambivalenzen begleiten
Text: Peter Hundertmark – Photo: ivanovgood/pixabay.com
Uneindeutigkeit nervt. Die Dinge sollten am besten einfach gut sein, oder wenn das schon nicht möglich ist, einfach schlecht. Wie soll man sonst Erfahrungen bewerten? Wie Begegnungen Bedeutung zumessen, wenn sie ständig „sowohl, als auch sind“? Die Suche nach dem Optimum für mich wird durch diese ständigen Ambivalenzen auch behindert. Welches ist der beste Job, der/die beste Partner/in, der beste Wohnort, die beste Schule für die Kinder – wenn sie alle etwas für und etwas gegen sich haben?
Fulbert Steffensky hält dagegen: „So ist das Leben nicht. Die meisten Ehen gelingen halb, und das ist viel. Meistens ist man nur ein halb guter Vater, eine halb gute Lehrerin, ein halb guter Therapeut. Und das ist viel. Gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben.“ Tatsächlich sind Beziehungen immer gemischt. Alle Beziehungen. Alle haben vielleicht ein Übergewicht zum Angenehmen oder zum Unangenehmen, aber alle werden sie das Gegengewicht nicht los. Schlimmer, die meisten Beziehungen sind nicht nur ambivalent, sie sind polyvalent: sie sind inspirierend, kleinlich, lustvoll, nervend, alltäglich, ungewöhnlich, enttäuschend und hilfreich zugleich. Und das alles in schnellem Wechsel, manchmal sogar gleichzeitig.Geistliche Begleitung geht davon aus, dass Menschen in drei Dimensionen von Beziehungen leben: zu sich selbst, zu den anderen Menschen und zu Gott. Alle drei Dimensionen sind von Ambivalenz, oft von Polyvalenz durchzogen. Alle drei Dimensionen werden in der Begleitung angesprochen und alle drei tragen ihre Polyvalenzen ins Gespräch hinein. Der/die Gesprächspartner/in in der Geistlichen Begleitung bleibt uneindeutig, zeigt diese und ganz andere Seiten, geht auch mit sich selbst und den eigenen Erfahrungen immer mal anders um. Die Beziehungen, in denen er/die lebt, sind von widersprüchlichen Erfahrungen geprägt. Und selbst Gott macht es ihm/ihr nicht leicht, denn er zeigt sich nicht konstant so eindeutig, wie die Theologie ihn manchmal gerne hätte. Manchmal zeigt sogar sie sich.
Weil das aber kompliziert ist, Aufmerksamkeit bindet, sich einfachen Bewertungen entzieht, suchen Menschen das Eindeutige. Komplexitätsreduktion ist unsere einzige Überlebenschance im unendlichen Strom der Sinnesreize. Die überwältigende Vielfalt der Eindrücke muss schon aussortiert werden, bevor sie die verarbeitenden Bereiche des Gehirns erreicht. Was für den Strom der sensorischen Eindrücke gilt, wird dann auf komplexere Gegebenheiten und eben auch in den Bereich der Beziehungen übertragen, was logisch wirkt, aber nicht hilfreich ist. Denn soziale Erfahrungen sind eben nicht reduzierbar, ohne dass sie zerstört werden. Sie leben von der schillernden Vielfalt. Damit sind sie aber nicht nur vielfältig, sondern auch mehrdeutig, mehr-be-deutig, und in ihrer Bewertung uneindeutig.
Enthaltsamkeit gegenüber Bewertungen ist die Basisdisziplin aller helfenden Gespräche. Erfahrungen nicht zu katalogisieren, sondern in ihrer Breite zu erschließen, ihre Vielgestaltigkeit und ihren offenen Verweischarakter wert zu schätzen, ihre unabschließbare symbolische Offenheit zu bewahren, gehört zu den zentralen Werten jeder Begleitung. Begleitung steht für das „auch“ jeder Erfahrung und hilft damit Menschen, die Mehrdimensionalität ihres Erlebens zu akzeptieren. Sie bildet damit einen Gegenpol gegen das Eindeutigkeitsbedürfnis.
Allerdings sind Begleiter/innen genauso auf Eindeutigkeit gepolt wie alle Menschen. Eindeutigkeit schmeckt nach Lösung, nach Klarheit und gaukelt damit vor, etwas bewältigt und abgeschlossen zu haben. In der Begleitung fühlt sich das leicht nach Fortschritt, nach Entwicklung und Gelingen an. Wenn eine Entscheidung errungen ist, scheint eine wichtige Wegetappe gemeistert.
Entscheidung und Entschiedenheit sind durchaus sinnvolle Ziele. Aber da zeigt sich der Haken. Entschiedenheit und Eindeutigkeit sind nur scheinbar Zwillinge. Entscheidung heißt aus der Vielfalt der Möglichkeiten eine zu wählen und die anderen damit in die Unmöglichkeit zu überführen. Das ist irgendwann dran. Jedes endlose Offenhalten läuft auf eine Lebensverweigerung hinaus. Der Weg für den ich mich entscheide, die Beziehung, die ich eingehe, der Beruf, den ich erlerne… ist dann aber wieder und bleibend ambivalent, bietet mir Hilfreiches und Hinderliches, Angenehmes und Unangenehmes, Herausforderung und Langeweile. Entschieden ambivalent.
Ein weiteres Paar falscher Freunde sind Fortschritt und Reifung. Sieht ähnlich aus, ist aber oft etwas sehr anderes. Fortschritt transportiert die Idee des Besseren. Reif ist aber nicht besser, sondern altersangemessen. Eine Person kann in jedem Alter eine reife Persönlichkeit sein – aber eben ihrem Alter entsprechend. Jedes Voranschreiten im Alter ruft nach weiteren Reifungsschritten, um nicht unreif zu werden. Aber älter werden ist nicht besser werden. Eine reife Sechzigjährige ist erfahrener, aber nicht besser als eine reife Dreißigjährige. Reifung lässt sich jedoch auch nicht vorziehen: Frühreife ist der andere Straßengraben zur Unreife. Reifung ist jedoch nie Höherentwicklung, keine Optimierung, sondern ein Einholen der neuen Lebensaufgaben, die das jeweilige Älterwerden mit sich bringt.
Begleitung ist der Reifung und der Entschiedenheit, nicht dem Fortschritt und der Eindeutigkeit verpflichtet. Weil diese scheinbaren Zwillinge aber so leicht verwechselt werden können, gibt es spezifische Gefahren. Begleitung kann „aus Versehen“ genau die falschen Prozesse fördern.
In der Beziehung zu sich selbst liegt für die Begleitung die Gefahr der Selbstoptimierung versteckt. Viele Gesprächspartner/innen wollen sich selbst besser verstehen, wollen ihr Leben mehr nach ihren bewussten Werten führen, wollen mit sich selbst wohlwollender umgehen lernen – und bis zu einem gewissen Grad ist das auch gut und hilfreich. Aber dann gibt es ein „genug“, das leicht übersehen werden kann. Das Maß des Guten wird überdehnt und der Mensch gerät in die Tretmühle des Besseren, der Selbstoptimierung, der Perfektion. Wenn ich noch diese Verletzung meiner Kindheit aufgearbeitet habe, dann… Wenn ich mich endlich zu regelmäßigem Sport, Gebet, Üben diszipliniere, dann… Wenn ich die Selbstbeurteilungen aufgebe, dann… Dann aber taucht hinter der bewältigten Optimierung die nächste Begrenzung auf. Die es dann scheinbar wieder zu überwinden gilt, um endlich… ein guter Mensch zu sein.
„Gott allein ist gut!“ sagt Jesus dem Schriftgelehrten, der ihm schmeicheln will. Die Menschen aber sind gemischt, sind gut und begrenzt, sind ambivalent. Ziel christlich-geistlicher Entwicklung ist nicht der perfekte Mensch, sondern die reife Person, die sich mit ihren Grenzen akzeptieren kann, weil sie sich von Gott akzeptiert entdeckt hat: Der Mensch, der zu sich steht, der sich gefunden hat – und so für andere und den Anderen da sein kann.
Signale, die Begleiter/innen warnen können, sind eine lange Dauer der Auseinandersetzung mit sich selbst, der eigenen Biographie und den persönlichen Unvollkommenheiten. Auch fühlen sich die Berichte – und in der Folge auch die Begleitung – nach Anstrengung und Leistung an. Das „Mehr“ hat sich unter der Hand von einer Qualität in etwas Quantitatives gewandelt. Geistliche Begleitung tut dann gut daran, dagegen zu halten. „Agere contra“ nennt es Ignatius und verpflichtet den/die Begleiter/in darauf, vor allem da, wo es um Entscheidungen geht. „Dagegen halten“ heißt in diesem Fall, dem eigenen Wunsch und dem Wunsch des/der Gesprächspartner/in nach Eindeutigkeit, nach Fortschritt und Optimierung zu widerstehen. Der/die Begleiter/ wird zum Anwalt der Vieldeutigkeit, der notwendigen Begrenzung und – mit Steffenskys Worten – der guten Halbheit. Ist das „Genug“ der Selbsterkenntnis erreicht, muss sich um des gelingenden Lebens willen der Blick nach draußen öffnen: auf die anderen Menschen hin und auf den Ruf in die Nachfolge. Der/die Begleiter/in wird diese Perspektive immer wieder einbringen. Alles andere führt zu einer Reifungsverzögerung.
Reif ist es auch nicht, in den menschlichen Beziehungen Eindeutigkeit herstellen zu wollen. Nicht nur ich bin bleibend und notwendig gemischt und lebe in ambivalenten Situationen, auch alle anderen sind so und unsere Beziehungen auch. Alle Beziehungen, und die nächsten am deutlichsten, haben damit wohltuende Anteile und belastende Anteile, Passendes und Störendes, Beglückendes und Enttäuschendes. Keine Partnerschaft ist eindeutig und einfach immer nur gut, keine Familie, keine Freundschaft, keine Kollegialität und keine Nachbarschaft. Alle Partner tragen ihre Ambivalenzen in das Geschehen hinein. Manches neutralisiert sich gegenseitig, manches verteilt sich gemäß den Rollenzuschreibungen, manches schaukelt sich gegenseitig auf, manches bleibt immer unversöhnt. Jede Beziehung kennt auch unlösbare Themen und Konflikte.
In der Begleitung wird ein persönliches Thema oft an einer Beziehung – zu den Eltern, zu dem/der Partner/in, zu einem/r Freund/in – bearbeitet. Dabei werden auch die inneren Ambivalenten auf die äußere Veziehung projiziert und am anderen die Auseinandersetzung mit sich selbst geübt. Das ist gut und notwendig so, denn nur konkret lassen sich Veränderungen einüben, solange klar bleibt, dass es sich um eine exemplarische Bearbeitung handelt. Nicht der/die andere ist schuld, dass es mir mit mir und mit ihm/ihr so geht. Und ich selbst bin auch nicht schuld. Zwischen uns geschieht etwas, das Auswirkungen auf mich hat. Dieses „Zwischen“ aber kann gestaltet werden.
Doch auch hier kann der Drang zur Eindeutigkeit durchschlagen. Wenn ich mit dieser Person ins Reine komme, dann… Wenn ich mich endlich von meinen Eltern emanzipiere, dann… Wenn ich diese Freundschaft beende, dann… Dann endlich kann ich frei und selbstbestimmt, gut und glücklich leben. Eric Berne hat dieses Muster schon vor vielen Jahren als „Spiel der Erwachsenen“ beschrieben, um Verantwortung und Reifung zu vermeiden. Der/die Begleiter/in kann diese Tendenz unglücklich verstärken, indem er/sie mit die Bearbeitung am Beispiel für die Lösung hält. Dann unterstützen Begleiter/innen die Trennung von Menschen, die Absage an übernommene Verantwortung, das Ende einer Partnerschaft. Nicht dass das nicht alles vorkommen und notwendig sein kann, aber es lohnt, sehr vorsichtig zu sein, ob es nicht nur dem Bedürfnis nach Vereindeutigung entspringt. Ist eine Veränderung Ausdruck von Reife, die mit den bleibenden Ambivalenzen umzugehen weiß, oder Reifungsverweigerung durch Schuldzuweisung, Dämonisierung der anderen Person und Beziehungsabbruch?
Warnsignale sind die Phantasien, dass „alles besser würde, wenn“ – in dem/der Gesprächspartner/in und in dem/der Begleiter/in. Alles, was die übernommene Verantwortung für andere Menschen verletzt oder negiert, ist skeptisch anzuschauen. Es gibt Situationen, die überfordern und nicht mehr auszuhalten sind, aber es gibt keine eindeutigen Situationen. Die Formulierung bei Ignatius, dass „ich nur wählen kann, wo es erlaubt ist“, ist heute nicht mehr so einfach, wie vielleicht noch in der Renaissance, aber dennoch oft eine gute Vorsichtsregel für den/die Begleiter/in. Er/sie ist auch Anwalt der übernommenen Verantwortung und der unauflösbaren Ambivalenz jeder Beziehung.
Wieder ist das „agere contra“, das Dagegenhalten, das Mittel der Wahl. Der/die Begleiter/in wird mehr die Aspekte stützen, die gegen das Vereindeutigungsbedürfnis stehen. Er/sie wird im Schwarzen die Farbtupfer in Erinnerung rufen. Er/sie wird vor eiligen Trennungen als Lösung warnen. Er/sie steht auch für den spezifischen Erlösungsweg des Lebens Jesu als Existenzentwurf: Nicht wer um jeden Preis sein Leben zu gewinnen sucht, wird es bewahren. Das Richtige kann durchaus über längere Strecken mit dem Glück im Streit liegen. Eine gute Entscheidung führt nicht zu eindeutigem Gelingen. Nicht immer ist das Mehr Leben, Freiheit, Mündigkeit das richtige Kriterium. Manchmal ist es eher die Frage nach der größeren Solidarität mit dem Leidenden und das Ausharren im zuvor Entschiedenen das dem wirklichen Leben dient. Dazwischen ist sorgsam zu unterscheiden: weder ist es immer gut, auszuhalten, noch ist es immer gut, zu trennen. Aber es gibt auch den Weg „hindurch“, das Finden im Verlieren, das wahre Leben im halb Gelingenden. “Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung Hoffnung. Die Hoffnung aber läßt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist. (Röm 5,3-5)
Gleiches gilt wenig überraschend auch für die Gottesbeziehung. Auch hier wird es nie eine Eindeutigkeit des Erlebens geben. Der nur „liebe Gott“ entspricht dem Reifungsstadium von Grundschulkindern. Gott ist unbegrenzt und unendlich vielfältig und wird keineswegs immer als „lieb“ erlebt. Manchmal ist er auch fordernd, eifersüchtig, zornig, oder still, scheinbar abwesend, verweigernd… Und Gott legt es nicht darauf an, die Ambivalenzen im Menschen, der mit ihm zu leben sucht, auszulöschen. Im Gegenteil, in der Menschwerdung hat Gott selbst sich in die Ambivalenzen der Geschichte hineingegeben. Er hat Menschen mit Körpern geschaffen und damit mit Grenzen, mit Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, mit allen Schattierungen des Glücks und Unglücks, des Guten und des Schlechten. Es ist davon auszugehen, dass er das so wollte. Gott selbst handelt nicht unreif. Er ist nicht auf Eindeutigkeit aus. Sein Werk ist Versöhnung.
Das Buch Hiob führt diese Auseinandersetzung mit Gott angesichts des Leids in über 35 Kapiteln durch. Wenn es dem Gerechten schlecht geht, dann muss Gott schuld sein. Oder der Gerechte ist eben nicht gerecht und Gott ist gerechtfertigt, dass er ihm mit Leiden vergilt. So schwingt die Diskussion zwischen Hiob und seinen Freunden ständig hin und her. Der Autor des Hiob-Buches setzt sich auf diese Weise von der Eindeutigkeit der deuteronomistischen Geschichtsschreibung ab, die jedes Leid des Volkes in seinen früheren Sünden begründet sah. Die Lösung des Buches ist, dass Hiob gerecht und Gott gut ist, und es dennoch das Leid gibt. Ambivalenz pur und eine reife Gottesbeziehung. Jesus nimmt diese Tradition an vielen Stellen auf, wo er sich mit den Gesetzeslehrern und ihrer deuteronomistischen Prägung auseinander setzt: Nicht aus Sünde ist jemand krank, sondern damit die Herrlichkeit Gottes an ihm offenbar wird.
Geistliche Begleitung wird auch in der Gottesbeziehung zur Ambivalenz ermutigen. Gott ist kein Rächer und Tyrann, auch wenn jemand schwer erkrankt ist. Gott ist aber zuständig, wenn es mir schlecht geht und erträgt meine Anklage. Gott ist gut, aber seine Wege sind so hoch über unseren Wegen, wie der Himmel hoch ist über der Erde, schrieb schon Hosea. Aber er weicht auch nicht in den Himmel aus, sondern macht sich in Jesus für uns greifbar und begreifbar. Bis in die Trinität hinein: Gott ist nicht eins und nicht drei, aber einig und vielfältig.
Wieder gilt „agere contra“ als Maßstab für den/die Begleiter/in. Er/sie wird die anderen, vergessenen, jetzt gerade unpassenden Seiten Gottes bewusst halten. Er/sie wird auf die Polyphonie der biblischen und spirituellen Zeugnisse hinweisen. Er/sie wird jeder einfachen, zugunsten einer reifen, erwachsenen Gottesbeziehung widerstehen. Und der/die Begleiter/in wird versuchen, die Gottesbeziehung immer wieder neu in den Kontext der veränderten Lebensumstände und Reifungserfordernisse zu stellen.
Uneindeutigkeit nervt, aber Erwachsensein heißt, mit Ambivalenzen leben können – mit mir, den anderen und Gott.