Wenn alle ähnlich geprägt sind, ist die Verständigung leicht. Geht es jedoch um wesentliche Entscheidungen, zeigt sich Einheitlichkeit (von Kirche) als erheblicher Nachteil. Je größer die Unterschiede, desto tragfähiger wird die geistliche “Unterscheidung in Gemeinschaft” und umso stärker der Konsens.

Diversity, spirituell

Text: Peter Hundertmark – Photo: konferenzadhs/pixabay.com

Auf den ersten Blick wirkt es kontraintuitiv, aber es ist logisch: Je größer die Unterschiede der Menschen sind, die gemeinsam eine Entscheidung suchen, desto wahrscheinlicher ist das Ergebnis tragfähig und zukunftsrelevant. Allerdings liegen die Klippen wie immer im Detail. Große Unterschiede, das kennt jeder, können auch zu Unverständnis, kompletter Blockade, zu Parteienbildung, Intrigen und Gewalt führen.

Die erste Hürde ist der Zielraum für das Ergebnis. Suchen alle gemeinsam nach dem besten Ergebnis, oder versuchen einige – offen oder verdeckt – ihre Interessen durchzusetzen und so für sich persönlich Vorteile zu gewinnen. Die spirituelle Tradition spricht hier von Indifferenz: die Haltung, den Willen Gottes über die eigenen Belange, Empfindungen und Wünsche zu stellen. Indifferenz macht jedoch nur Sinn, wenn es eine Verständigung darüber gibt, dass Gottes Wille immer für alle Betroffenen zum Guten ist, immer auf der Linie der Verkündigung Jesu liegt, immer zum großen Shalom des Reiches Gottes hinstrebt, und dass dieser Wille Gottes verstehbar ist und von anderen Impulsen und Kräften unterschieden werden kann.

Wie wir die Unterschiede verstehen, die zwischen Menschen existieren, macht ebenfalls einen Unterschied. Wenn wir davon ausgehen, dass alle Menschen von Gott geschaffen und in ihrer Individualität gewollt sind, alle zu einer einzigen Menschheitsfamilie gehören, alle in sich eine Stimme kennen, die sie zum Guten ruft, ist ein Vertrauen möglich, das offenen Dialog ermöglicht. Wenn wir erlebt haben, dass die Milieugewohnheiten aller Menschen, ihre Kulturen, ihre Religionen und Anschauungen immer den Keim des Guten ins sich tragen – das 2. Vatikanische Konzil spricht davon, dass in allen Kulturen der Geist Gottes präsent und wirksam ist – dann ist eine positive Neugier im Raum, die vermuten lässt, dass der/die Andere wichtig ist für unser gemeinsames Anliegen, auch wenn seine/ihre Art mir so fremd ist.

Wenn wir uns nun so zusammenfinden, uns auf das Gute und auf den Geist Gottes ausrichten, wächst die Unterschiedlichkeit erst einmal noch. Zum einen ermöglichen Vertrauen und Neugier, sich mehr mit den eigenen Prägungen zu zeigen. Aber geisttheologisch gesehen, geschieht noch etwas Tieferes. Der Geist Gottes verbindet sich mit allen Individuen, mit ihrer Geschichte, ihren Werten und Hoffnungen. Er wirkt durch sie. Ihre Individualität wird dadurch größer, greift bis in den Raum Gottes hinein, ist als Wirken des Heiligen Geistes zu verstehen – auch und gerade wenn sich die Optionen unterscheiden oder gar widersprechen. Indifferenz, Vertrauen und positive Neugier ermöglichen uns, dieses Anwachsen von Unterschieden und Widersprüchen zu ertragen. Je mehr jede/r Einzelne in seiner Prägung und mit seinen Optionen im Dialog sichtbar wird, desto reicher ist die Erfahrungsbasis, desto breiter ist das Wissen, desto gründlicher ist die Suche.

Da nun nichts mehr selbstverständlich ist, bleibt nur, die anderen intensiv zu befragen: Wie sie die Welt verstehen, welche Erfahrungen sie prägen, welche Zusammenhänge für sie in der anstehenden Frage wichtig sind. Erst wenn der/die andere wirklich verstanden ist, liegt das sein/ihr Potential, das Potential auch seiner/ihrer Kultur, offen zu Tage und kann für die Unterscheidung und Lösung fruchtbar werden.

Die Christinnen und Christen verstehen sich selbst als diejenigen, die den Geist Gottes haben. Der Geist Gottes ist aber jedem Zugriff entzogen. Niemand kann festlegen, wo und wie er wirkt. Es gibt deshalb keine Gewissheit, wer gerade ganz auf der Linie des Wirkens des Geistes unterwegs ist und wessen Verhalten wie von anderen Kräften mitbestimmt wird. Um zu dem besten Ergebnis zu kommen, gibt es deshalb nur einen Weg: alle hören; alle gleich hören. Hierarchien und Status können dabei keine Rolle spielen, ohne den Prozess der Suche nach der besten, am ehesten geistgeführten Entscheidung zu verfälschen. Gemeinsam zu unter- und zu entscheiden, geht eben nur gemeinsam.

Während also zuerst die Unterschiede und Widersprüche anwachsen, ein gemeinsames Ergebnis in immer weitere Ferne zu rücken scheint, beginnt nach einiger Zeit in jeder Gruppe eine Gegenbewegung, die das Gemeinsame sucht. Dabei sind zwei verschiedene Bewegungen möglich: Gruppendynamik und Suche nach einem geistgeführten Konsens. In aller Regel wirken beide zusammen, lassen sich aber unterscheiden. Die normale Dynamik einer Gruppe führt dazu, dass die Einzelnen, weil sie sich zunehmend unwohl fühlen, kein gemeinsames Ergebnis erzielen zu können, ihre Differenzen zurückstellen und Gemeinsamkeiten herausstellen. Die Bewegung tendiert dann zu einem Ergebnis, auf das sich alle einlassen können, weil es eine Art kleinster gemeinsamer Nenner ist und niemandem weh tut. Bald nach der Entscheidung zeigt sich dann jedoch, dass alle das Ergebnis unterschiedlich, nämlich nach ihren eigenen Prägungen interpretieren, die Widersprüche nicht aufgelöst, sondern nur verschoben wurden. Wer solche vereinfachenden und Konflikte verschiebenden Ergebnisse vermeiden will, muss den schließenden Kräften der Gruppendynamik entgegen arbeiten.

Es ist jedoch in einer Gruppe, die um eine gemeinsame Entscheidung ringt, auch eine Bewegung hin auf einen starken Konsens möglich, der etwas Neues ist, etwas, das in keinem der individuellen Zugänge schon präfiguriert ist. Ein solcher Konsens integriert die Unterschiedlichkeiten, verlässt aber die Ebene, in der sie gegeneinander stehen, findet eine gemeinsame Ausrichtung und tiefe Verständigung. Ist es doch der gleiche Geist Gottes, der in allen wirkt und über die Einzelnen hinaus, die Dimension Gottes in die Beratungen hineinträgt. Das Ergebnis scheint sich deshalb oft auch plötzlich einzustellen, nach einem ausgehaltenen Stillstand, einer scheinbaren Sackgasse. Es scheint wie aus dem Nichts zu kommen und ist so überraschend wie unser Gott. Nicht selten geht es von einer Person oder Gruppe aus, die nach menschlichen Maßstäben über weniger Einfluss, Wissen, Status… verfügt. Des bestätigt sich das Wort Jesu: “Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast.” (Mt 11,25)

Die Wahrscheinlichkeit eines solchen starken Konsenses steigt also mit der eingebrachten und ausgehaltenen Unterschiedlichkeit derer, die sich in gemeinsamer Unterscheidung um ein Ergebnis bemühen. Entscheidend ist dabei nicht die Zahl der Beteiligten. Es geht vielmehr darum, möglichst die ganze Komplexität der Situation und die komplexe Bedürfnislandschaft aller Betroffenen in der Entscheidungsgruppe abzubilden. Gerade wenn es um eine grundsätzliche Neuausrichtung geht, kann es sogar gut sein, Menschen guten Willens, die selbst (zum jetzigen Zeitpunkt) nicht von der Fragestellung betroffen sind, in die Entscheidungsgruppe zu integrieren. Sie bringen dann verstörende Fremdwahrnehmungen – manchmal Fremdprophetien – ein, die intern nicht zu gewinnen wären. Es lohnt, den zusätzlichen Verstehensaufwand auf sich zu nehmen und nicht nur die Machtverhältnisse, sondern auch die Innen-Außen-Unterscheidung für die Entscheidungsfindung zu suspendieren.

Erstaunlicherweise zeigt die Erfahrung, dass nicht mehr Zeit benötigt wird, um zu tragfähigen Ergebnissen zu kommen, auch wenn der Anweg deutlich länger ist. Spätestens bei der Umsetzung der Entscheidung wird die zuvor zusätzlich investierte Zeit wieder zurückgewonnen. Ein starker, jenseits der widerstrebenden Interessen gewonnene Konsens hat zudem einen weitaus höheren, weil innengeleiteten Verpflichtungsgrad, als alle Mehrheitsabstimmungen oder gruppendynamischen Kompromisse. Ist es darüber hinaus gelungen, wirklich auf den Geist Gottes und seine Führung zu hören, die Entscheidung folglich ganz in der Bewegung und Sendung Gottes zu verankern, kommt darüber hinaus oft auch ein Plus an Energie zu Tragen, das das Zusammenwirken der Beteiligten übersteigt. Das Neue Testament nennt diese Erfahrung die Kraft des Evangeliums oder die Kraft des Geistes Gottes.

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