Der Text greift auf das Model von Erikson zurück, um die Begleitung von Menschen zu beschreiben, die spirituelle Gewalt erlitten haben. Erzählungen sind wegen des Persönlichkeitsschutzes nicht wiedergegeben, können aber z.B. in: „Selbstverlust und Gottentfremdung“ (U. Leimgruber u.a.) gelesen werden.

Den Teufelskreis durchbrechen
Geistliche Begleitung nach spiritueller Gewalt

Text: Tobias Wiegelmann – Photo: YanceTay/pixabay.com

Während sexualisierte Gewalt durch staatliches Recht relativ klar definiert und umrissen ist, gibt es für spirituelle Gewalt (“geistlichen Missbrauch”) erst seit Erscheinen der Arbeitshilfe „Missbrauch geistlicher Autorität“ der Deutschen Bischofskonferenz im September 2023 eine verbindliche Definition. Für das Anliegen dieses Textes genügt jedoch folgende Kurzdefinition: “Beim geistlichen Missbrauch handelt es sich um eine Form emotionalen Machtmissbrauchs, der überall dort stattfinden kann, wo sich Menschen in einer gewissen Abhängigkeitsbeziehung zu geistlichen Autoritäten befinden.” (Stephanie Butenkemper: Toxische Gemeinschaften. Geistlichen und emotionalen Missbrauch erkennen, verhindern und heilen, Freiburg 2023, 23.) Dies ist in der Geistlichen Begleitung naturgemäß der Fall. Und zugleich kann Geistliche Begleitung ein Ort sein, an dem Betroffene spiritueller Gewalt ihre Erfahrungen kommunizieren und aufarbeiten können. Damit dies gelingen kann, ist es notwendig, sich mit der Wirkung spiritueller Gewalt auseinanderzusetzen. Als Verstehenshilfe kann hier das Stufenmodell psychosozialer Entwicklung nach Erikson wichtige Hinweise liefern.

Dieses Modell wurde begründet von Erik H. Erikson und seiner Frau Joan. Peter Köster SJ nutzt es als Orientierungs- und Verständnishilfe in seinem Praxisleitfaden für die Geistliche Begleitung (Peter Köster SJ: Geistliche Begleitung. Eine Orientierung für die Praxis. Sankt Ottilien 2018). Ohne ins Detail gehen zu wollen, möchte ich das Modell grob skizzieren, da sich meiner Ansicht nach mit Hilfe dieses Modells die Auswirkungen spirituellen Missbrauchs recht gut darstellen lassen. 

Die verschiedenen Stufen religiöser Entwicklung stellt Köster wie folgt dar:

  1. jede religiöse Entwicklung beginnt mit (Grund-) Vertrauen
  2. auf diesem Grundvertrauen entwickelt sich eine erste Autonomie
  3. diese ermöglicht eigene Initiative
  4. die nächsten Schritte sind Freude am Tun und Kreativität
  5. im fünften Stadium leben alle Grundhaltung von Neuem auf zu einer neuen Synthese
  6. durch entwickelte religiöse Identität wird eine Balance von Nähe und Distanz möglich
  7. Mitverantwortung mit Gott
  8. Integrität

Für unser Nachdenken bedeutsam ist besonders die Schwelle zwischen der ersten und der zweiten Stufe. Hat ein Mensch in der ersten Stufe eine positive religiöse Grundhaltung, erlebt er sich als geliebt und gewollt. “Ich darf sein!” ist ein Grundsatz dieses Erlebens. Auf der zweiten Ebene wird Gott als Bündnispartner verstanden. Gott nimmt den Menschen ernst, auch in seiner Freiheit. Ins Negative verschoben, erwachsen auf dieser Stufe ein legalistisches Gottesbild und mangelndes Selbstvertrauen. (zum Weiterlesen: Köster, Ebd. 61)

In der Begleitung von Menschen, die spirituelle Gewalt erfahren haben, begegnen mir häufig Sätze wie: “Die Gemeinschaft wollte mich nicht.” “Ich bin nicht gläubig genug”. oder “Ich bete nicht richtig.”  Solche Sätze haben im Erleben manipulativer Spiritualität noch eine tiefere Dimension. Der Wille der Gemeinschaft oder die Idee einer “richtigen” Gebetsform werden unhinterfragbar mit dem Willen Gottes gleichgesetzt..

“Gott will mich nicht.” ist dann die Botschaft, die unterbewusst in dieser Erfahrung steckt. 

“Ein gesundes geistliches Leben kann sich nicht unabhängig von unserer menschlichen Entwicklung und Reifung entfalten. Es braucht bestimmte anthropologische Voraussetzungen, damit ein gesundes Gottes-’bild’ sich herausbilden, eine tragende und lebendige Gottesbeziehung sich entfalten kann.” (Köster 53) Peter Köster beschreibt in seinem Buch die Entwicklung des Gottesbildes auf Grundlage des Entwicklungsmodells nach Erik Erikson. In einer gesunden Entwicklung wird aus einem Grundvertrauen ins Leben “eine erste Form von Autonomie. (…) Kann sich diese Überzeugung nicht entwickeln, beginnt ein gewisser Legalismus im Verhältnis zum Göttlichen. Die göttliche Macht wird alles bestimmend.” (Köster, 54) Das ist umso befremdlicher, wenn der Wille einer Gemeinschaft synonym für den Willen Gottes steht und von den Autoritäten der Gemeinschaft auch als solcher klar benannt ist.

Für die Begleitung missbrauchserfahrener Personen ist das Vertrauen in die begleitende Person existenziell. Ein durch Manipulation verzerrtes Gottesbild muss zunächst dekonstruiert werden, bevor eine befreiende Gottesbeziehung wachsen kann. Dazu ist es unerlässlich, dass die begleitete Person sich als willkommen und geliebt erfährt (erste Entwicklungsstufe nach Eriksson). Erst dann kann sich erschließen, dass Gott einen Bund eingeht, den Menschen in seiner Autonomie ernst nehmen will, dass Gott nicht gegen die Freiheit des Menschen handelt. (zweite Entwicklungsstufe) 

Das Gelingen dieser Erkenntnis wird zu großen Teilen abhängen vom Vertrauen in der Begleitbeziehung. “Das Entstehen religiöser Haltungen hat seine Wurzeln in menschlichen Begegnungen.” (Köster 54). Es kommt also sehr auf die Haltung an, mit der die begleitende Person der Begleiteten entgegentritt. 

Ich erlebe in Begleitgesprächen immer wieder neu das Ringen um Vertrauen. Dieser Prozess braucht Zeit, doch das Erleben von Verlässlichkeit und Verbindlichkeit, das Zuhören und Raum zum Erzählen geben, zahlt sich am Ende aus. Mir ist es wichtig, mich immer wieder der Vertrauensbasis zu versichern, um gemeinsam erste zaghafte Schritte in eine freiere Gottesbeziehung zu gestalten. Dazu gehört auch, dass eigene begleitende Handeln im Gespräch zu hinterfragen und dabei weniger hilfreiche Kommunikationsmuster aufzudecken.

Im weiteren Verlauf der Begleitbeziehung kommen dann erste Spuren weiterer Persönlichkeitsentwicklung in den Blick. Die Betroffenen machen sich auf die  Suche nach einer eigenen, selbstverantworteten religiösen Lebensform (Stufe drei nach Erikson). Allerdings lässt sich auch auf dieser Stufe die unheilvolle Prägung noch nicht abschütteln. Das Einüben in eine heilsame spirituelle Praxis geschieht nicht selten unter einem hohen Leistungsdruck. Die Idee, in der spirituellen Praxis “funktionieren” zu müssen, ist nach wie vor mächtig. Eine gute Hilfe scheint mir hier eine kontinuierliche Anleitung zu kontemplativer Praxis. Ich ermutige meine Gäste, in der Wahrnehmung dessen, was sich zeigt, zu verweilen, ohne gleich in eine Bewertung zu kommen. So wie sich Gott in der Offenbarung am Sinai als der “Ich bin” offenbart, so dürfen die Begleiteten zunächst mal einfach “sein”.

Die meisten Personen, die geistliche Begleitung wahrnehmen, tragen in sich eine hohe Energie, am Reich Gottes mitwirken zu wollen. Erikson würde diesen Impuls auf der Entwicklungsstufe vier verorten. Bei Betroffenen spiritueller Gewalt ist diese Energie jedoch sehr eng mit einer Anpassungsleistung an die missbräuchliche Erfahrung verbunden. Ein hoher persönlicher Einsatz war für die Begleiteten lange Zeit die Investition, die getätigt werden musste, um die Anerkennung der Gemeinschaft oder spirituellen Autoritäten zu erlangen. Im Stufenmodell landen wir hier wieder auf der ersten Stufe, beim Vertrauen und dem Aufbau einer tragfähigen Beziehung. 

Dieser Prozess ließe sich noch weiter durchdeklinieren mit dem Ergebnis, dass Betroffene spiritueller Gewalt aufgrund ihrer Erfahrung in ihrer religiösen Entwicklung immer wieder an den Anfang geworfen werden und kontinuierlich erleben, dass das Vertrauen in eine tragfähige (Gottes-) Beziehung in Frage gestellt ist. 

Erst, wenn es gelingt, die absichtslose Wahrnehmung der eigenen Wirklichkeit (“Ich bin”) mit der Bundeszusage Gottes (“Du darfst sein”) zu verknüpfen, ist eine freiheitliche Gestaltung der religiösen Entwicklung möglich. Der begleitenden Person kommt auf diesem Weg die Aufgabe zu, das Beziehungsangebot Gottes immer wieder neu durch das eigene Beziehungsangebot zu verkörpern und im begleitenden Durchleben der Entwicklung die kleinen Schritte hin zu mehr Freiheit im Glauben mitzutragen.

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