“Verweile doch…” Alles Glück – in der Liebe wie im geistlichen Leben – strebt nach Ewigkeit und Ganzhingabe. Aber das Glück kann sich selbst zerstören, wenn es nicht sein Maß findet.

Ein Plädoyer für das spirituelle Mittelmaß einer gesunden Work-Life-Prayer-Balance.

Maß halten

Text: Peter Hundertmark – Photo: ThomasWolter/pixabay.com

Es beginnt bei Paulus. „Betet ohne Unterlass!“ (1 Thess 5,17). Lukas legt in seinem Evangelium Jesus an zwei Stellen die Aufforderung in den Mund „allezeit wach zu sein und zu beten“ (Lk, 18,1 und Lk 21,36) – hier allerdings in einem Kontext der Naherwartung. Auch der Hebräerbrief nimmt das gleiche Thema auf und verbindet es mit der Solidarität mit dem leitenden Jesus in seiner Passion. (Hebr. 13,15)

Als Zielvorstellung – oder als schlechtes Gewissen – durchzieht diese Aufforderung die christliche Spiritualitätsgeschichte bis heute. Mönchtum und Stundengebet, das „ewige“ Gebet in den Pfarreien, das Herzensgebet der ostkirchlichen Tradition, das Ideal der Alltagsheiligung vieler spiritueller Traditionen… unendlich viele großartige geistliche Übungsweisen wurzeln in dieser Aufforderung. In ihrer scheinbaren Maßlosigkeit war und ist diese Aufforderung jedoch auch die Wurzel unzähliger asketischer Selbst- und Fremdschädigungen.

Denn die großen Traditionen können jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass jedes quantitative Verständnis der Aufforderung massive Schwierigkeiten mit sich bringt. Der Mensch lebt – in Umkehr des Zitats Jesu in der Wüste – eben nicht nur vom Wort, das aus Gottes Mund kommt, sondern auch von Brot, nicht nur von der eucharistischen Gemeinschaft, sondern auch in menschlichen Beziehungen, nicht nur geistlich, sondern auch körperlich. Im Sinn von mündlichem oder liturgischem Beten ist die Aufforderung schlicht sinnlos. Quantitativ verstanden führt sie über kurz oder lang in eine Überforderung und inneren Abkehr vom Leben auf der Erde  – und vom lebendigen und lebensfreundlichen Gott.

Das Leben besteht immer, auch bei den Frömmsten, aus ganz vielen Bezügen. Schlaf, Körperpflege, Bewegung, Beruf, Freundschaften, Familie, Freizeit, kulturelle Teilhabe, gesellschaftliche Verantwortung… dürfen nicht durch eine überbordende religiöse Praxis verdrängt werden. Sonst nimmt der Mensch Schaden. Die Geschichte der christlichen Spiritualität ist voll davon und jede Kongregation und jede Gemeinschaft kennt zuhauf schlechte Beispiele. Aber auch Gott ‚nimmt Schaden‘, denn Gott ist nicht totalitär. Er ist nicht darauf aus, Menschen mit allem, was sie ausmacht, zu vereinnahmen. Gott will in allem, was geschieht, Begegnung mit dem Menschen feiern, ihn zu „seiner Liebe umfangen“ (Exerzitienbuch des Ignatius, Nr. 15), aber nicht alles für sich in Beschlag nehmen. Gott ist ein Freund der Erde und des irdischen Lebens und kein Vampir, der alles Leben absaugt.

Ist Gott nicht totalitär, ist es auch weder notwendig, noch zuträglich, noch verantwortbar, dass geistlich suchende Menschen mit sich selbst, oder Gemeinschaften mit ihren Mitglieder, spirituelle Schulen mit ihren ‚Schüler*innen‘… totalitär umgehen. Geistliche Totalität ist nicht menschenfreundlich und auch nicht christlich. Sie lässt sich nicht an das Leben Jesu anschließen, der von seinen Gegnern sicher nicht ohne Anhalt in der Wirklichkeit als Fresser und Säufer, als Freund der Zöllner und Prostituierten beschimpft wurde.

Die Gefahr, in totalitäre Prozesse und Vorstellungen zu geraten, steigt, wenn die biblische Aufforderung, dort übrigens an der Mehrheit der Stellen in einem Kontext ethischer Lebensführung formuliert, auf passende psychische Dynamiken und emotionale Bedürfnisse trifft. Besondere Gefahren lauern dabei dort, wo junge Menschen, deren Selbststand noch nicht sehr gefestigt ist, zum ersten Mal in sich einer existenziellen Sehnsucht nach dem Ganzen, nach dem Guten und nach Gott in Kontakt kommen. Aber auch später in der menschlichen und geistlichen Entwicklung kann eine solche totalitäre Dynamik im geistlichen Leben einsetzen. Sie kann durch besondere Erfahrungen ebenso ausgelöst werden wie durch einschneidende biographische Erlebnisse oder durch (manipulative) Einflüsse geistlicher Autoritäten. Nicht selten verführt das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gruppierung, die sich gegenseitig immer tiefer in eine quantitative, suchthafte Steigerung spiritueller Praktiken und liturgischer Vollzüge treibt dazu, das eigene Maß, den eigenen Körper, andere Lebensbezüge und Beziehungen zugunsten einer übersteigerten, dann irgendwann totalitären „Frömmigkeit“ zu verlassen und zu vernachlässigen.

Entwicklungs- und Religionspsychologie haben in den letzten dreißig Jahren immer deutlicher die Parallelen zwischen Bekehrung und Berufung – sei es der ersten Bekehrung und Berufung, sei es von existenziellen geistlichen Erfahrungen zu einem späteren Zeitpunkt – einerseits und Erfahrungen des Verliebtseins andererseits herausgearbeitet (siehe z.B. Lee Kirkpatrick: Attachment, evolution and psychology of religion). Beiden gemeinsam ist ein Ausnahmezustand emotionalen Überschwangs. Wie das Eine die Grundlage für lebenslange Bindung in gelingender, liebender Partnerschaft legen kann, kann das Andere die Ausgangsbasis für ein lebenslanges geistliches Leben in inniger Verbundenheit mit Jesus Christus sein. Zu beiden, Verliebtsein und Bekehrung/Berufung, gehört der Überschwang der Begeisterung und  eine erhebliche, aber für eine begrenzte Zeit ganz normale und beglückende Maßlosigkeit. Beide zielen auf ‚alles, immer, ganz‘. Beide setzen etwas vom Besten frei, dessen Menschen fähig ist. Gleichzeitig können beide auch ‚blind‘ machen für Schwierigkeiten und Gefahren – in einer möglichen Partnerschaft wie im geistlichen Leben.

Wer schon einmal verliebt war – ebenso wie der*diejenige, der*die als Erwachsene durch eine existenzielle Bekehrung zum Glauben oder zu einer Neuausrichtung seiner Spiritualität und Neubewertung seines Lebens kam, weiß um den psychisch-emotionalen Ausnahmezustand, der sich einstellen kann und für einige Monate anhält. Sowohl die Weltliteratur als auch die spirituelle Literatur sind voll davon. In diesen Ausnahmezuständen ist die kritische Unterscheidungsfähigkeit oft deutlich eingeschränkt. Je plötzlicher dieser Ausnahmezustand eintritt, desto stärker kann die kognitive Eintrübung sein. Im geistlichen Leben streben viele Denominationen und Gruppierungen insbesondere aus dem charismatischen oder pfingstlichen Kontext diese plötzliche Bekehrung – parallel der ‚Liebe auf den ersten Blick‘ ausdrücklich an – mit allen Chancen und Gefahren, die damit einher gehen. Wiederum sind junge Menschen, die noch weniger mit den Kräften der eigenen Seele vertraut sind, besonders gefährdet, von einem Tag auf den anderen auf die Versprechungen eines „besonderen“, besonders gottgefälligen Lebens, einer Ganzhingabe einzusteigen. Alter schützt jedoch nur begrenzt. Auf die Passung kommt es an.

Idealisierungen und Projektionen gehören zum Kernbestand des Erlebens  – sowohl des Verliebtseins wie der Bekehrung und Berufung. Auch der/die Neubekehrte/-berufene will für den „Geliebten“ – für Gott – alles tun, will sich ganz geben, will alles richtig machen, das ganze Leben investieren. Für eine begrenzte Zeit geht jedes Maß verloren. Nicht selten ist das verbunden mit einem Drang nach Quantität: lange Gebetszeiten, noch eine weitere Anbetungszeit, noch ein Rosenkranz… So wie Verliebte am liebsten nur noch – 24/7 – beisammen wären. Menschen sind dann zu erstaunlichen Leistungen bereit und auch fähig. Schlaf scheint jetzt nicht so wichtig. Andere Aufgaben und Bindungen treten in der Wertigkeit zurück. Freunde und Herkunftsfamilie werden (vorübergehend) vernachlässigt. Das bisherige Leben wird auf den Prüfstand gestellt und auch sehr radikale Veränderungen scheinen naheliegend und plausibel. Verliebtsein wie Bekehrung und Berufungserleben sind die überschießende Energie, die die „Welt“ verändert.

Das kann ganz gut und hilfreich sein und die Basis für ein gelingendes Leben legen, die so rational nicht zu gewinnen wäre. Es macht aber auch sehr verletzlich und birgt Gefahren. Im geistlichen Leben kann man dann leicht, ohne es wirklich zu bemerken, in eine spirituelle Dynamik oder Gemeinschaft geraten, die versprechen, dem Überschwang Ewigkeit und der Maßlosigkeit der ersten Liebe einen dauerhaften Rahmen zu schaffen. Wirkt das Umfeld also nicht dämpfend, sondern befeuert es die Begeisterung noch durch übersteigerte Ideale, so führt es den*die Suchende immer weiter von sich selbst weg in eine Überforderung und Überspanntheit, die sich später als lebensfeindlich herausstellen. Wer auf den Zug der spirituellen Quantität aufsteigt, gerät leicht in eine suchtähnliches Verhalten – oder wird dahinein verführt, bei dem nur die sich stetig steigernde Dosis noch Befriedigung verschafft. Auch davon sind die geistliche Literatur voll.

Verliebtsein vergeht – oft schneller als es den Beteiligten recht ist, transformiert sich im besten Fall in verlässliche, lange tragende Liebe, findet damit sein Maß und eine dauerhaft lebbare Gestalt.  Aber auch die überschießende Energie einer Bekehrung oder eines Berufungserlebnisses wird und muss eine solche Transformation durchlaufen. Auch das ‚Verliebtsein in Gott‘ kann und muss langfristig tragende Liebe werden. Dazu muss auch die spirituelle Energie ihr Maß finden. Der Überschwang transformiert sich in Bindung und Treue. Es gibt für jeden Menschen, in jeder Lebensphase unterschiedlich, ein richtiges Maß – eine „work-life-prayer-Balance, ein Maß an geistlichen Übungen, Gottesdienst, Engagement für das Reich Gottes, Zugehörigkeit und Verpflichtung auf eine Gemeinschaft…, das ihm/ihr angemessen und dienlich ist. Die richtige Balance ist daran zu erkennen, dass sie sich ins alltägliche Leben einfügt und andere Verantwortungen stärkt und nicht etwa behindert. Dieses Maß ist individuell und muss erst gefunden werden.

Ziel ist es, Gott zu finden, in der (maßvollen) Einrichtung des eigenen Lebens (Exerzitienbuch 1) und nicht, das Leben für eine angeblich fromme, aber maßlose Gottsuche aufzugeben. Was immer maßlos ist und verstiegen, was dauerhaft überfordert, was überspannt ist und effekthascherisch, ist nicht vom guten Geist (P. Mühlenbrock SJ). Als der Teufel Jesus verführen will, sich vom Tempel in die Tiefe zu stürzen, denn die Engel würden ihn schon auffangen, antwortet er: „Du sollst den Herrn deinen Gott nicht auf die Probe stellen“ (Lk 4,12). Maßloses, unerwachsenes und damit unverantwortliches Vertrauen in die Vorsehung, spirituelles Suchtverhalten, eine religiöse Praxis, die dem Leben und dem Alltag in die Quere kommt, stellen Gott auf die Probe und können sich nicht auf ihn berufen. Es wird auch kein Engel kommen, der den-/diejenige, der/die sich so verleiten lässt, auffängt. Auch im Geistlichen kostet jede anhaltende oder sich steigernde Maßlosigkeit das Leben.

In der Liebe helfen Hormone, Alltag und manchmal auch beste Freund*innen mit, dass der rosarote Ausnahmezustand seine Energie als ‚Retard-Wirkstoff‘ an eine bewährte Verbundenheit und Zuneigung abgibt. Die gleiche Funktion tut auch bei religiösen Bekehrungen und spirituellen Berufungserlebnissen not. Der Alltag, wenn es denn zu einem Alltag kommen darf, ist auch hier eine wichtige Hilfe. Hormone hingegen kommen der Transformation leider nicht zu Hilfe. Eine wesentliche Hilfe hingegen, das eigene geistliche Maß, die individuell lebensfreundliche work-life-prayer-Balance zu finden, ist die Achtsamkeit auf die eigenen Stimmungen, Gefühle und Körperreaktionen. Sich selbst gut zu kennen und immer besser kennen zu lernen, im Kontakt mit dem eigenen Erleben zu sein, den ganzen Reichtum des affektiven Lebens zu spüren und benennen zu können, ist die wichtigste Hilfe, um das gottgewollte Maß für sich selbst zu finden. „Da Gott unser Herr unsere Natur unendlich besser kennt, gibt er häufig… einem jeden das Gespür, was ihm entspricht.“ (Exerzitienbuch 89)

Geistliche Begeisterung findet in der Unterscheidung der Geister ihre notwendige Gegenspielerin. Jede anhaltende Maßlosigkeit, jedes Suchtverhalten produziert nämlich neben den ekstatischen Momenten, lange Zeiten der Erschöpfung, einen stumpfen, bitter schmeckenden inneren Zustand der Trost- und Perspektivlosigkeit, bis hin zu manifestem Widerwillen und (Selbst-)Ekel. Oft ist es der Körper, der als erster revoltiert, denn er lässt sich nicht ideologisch aushebeln.

Ist ein*e Suchende*r in seiner*ihrer ersten Begeisterung an toxische Kontexte geraten oder trägt er*sie in sich einen biographisch begründeten, toxischen Totalitätsanspruch, wird von außen oder von Kräften in ihm*ihr selbst versucht, genau diese Selbstwahrnehmung auszuhebeln oder als irrelevant abzuwerten. Wenn sich die Wahrnehmung solcher innerer oder körperlicher Reaktionen jedoch nicht mehr vermeiden lässt, kann sie dennoch weiter in zwei Richtungen beantwortet werden: in eine Steigerung der Dosis, ein quantitatives Mehr geistlicher Übungen oder hin zu einer ausgewogeneren Balance, einem ‚vernünftigen‘, dauerhaft lebbaren und tragenden Maß. Der*die Suchende, der*die bereits vom süßen Gift des geistlichen ‚Immer-mehr‘ gekostet hat, ist jetzt meist auf Außenstehende angewiesen, die ihn*sie mehr zu Maß und Balance, denn zu Übermaß und Sucht hin unterstützen.

Sucht aber schützt sich selbst – ideologisch, indem sie das Übermaß und Idealisierte zur Normalität umdeutet, und sozial, indem sie warnende Stimmen eines besorgten Umfeldes auszuschalten versucht. Freund*innen, Familie bzw. Herkunftsfamilie, Kolleg*innen… werden im Zustand der Neubekehrung selbstverantwortet, oder auf Druck einer Gemeinschaft, die sich der geistlichen Suchtdynamik verschrieben hat, in der Regel ignoriert. Ein ähnliches Schicksal erleiden kirchliche Instanzen bis hin zu den Bischöfen und alle anderen Institutionen, die als lau, unentschieden, mittelmäßig, elterlich und verbietend wahrgenommen werden. Ihre in Erfahrung gegründeten, oft klugen Unterscheidungen und warnenden Botschaften werden „überhört“ oder auch ausdrücklich in den Wind geschlagen. Sie gelten dem/der Neubekehrten als kleinlich, der Nachfolge Jesu nicht angemessen. Das Verlangen der ‚Berufenen“ zielt auf Ganzhingabe. Welcher junge Mensch, welche*r von der Liebe zu Christus Entflammte, will schon mitten im Wunder der Berufung etwas über Sozialversicherung und Rente hören? Warnenden, mäßigenden Stimmen wird die Kompetenz abgesprochen, eben weil sie im Moment nicht die gleiche dramatische Umkehrung der Weltsicht erleben. 

Umso dringender ist in der Phase der Neubekehrung die vorsichtige, eher dämpfende Begleitung durch Seelsorger*innen. Die Aufgabe, die in der Liebe manchmal der*dem ‚besten Freund*in‘ zukommt, fordert im geistlichen Leben Seelsorger*innen, geistlichen Begleiter*innen, Beichthörende, Verantwortlichen für die Berufungspastoral, gegebenenfalls Noviziatsleiter*innen, Regenten oder Verantwortlichen von Bewegungen und Gemeinschaften heraus. Sie stehen in der unbedingten Pflicht mitzuwirken, die überschießende Energie der Bekehrung in Bahnen zu lenken. Ihnen kommt es zu, stellvertretend, bis der*die Suchende sich selbst und die Realität der Erde wieder klarer spürt, Realismus und Maß einzufordern, ein Maß das langfristig gelebt werden kann. Sie müssen helfen, eine stimmige Balance zwischen Arbeit, Freizeit, Bewegung und geistlichen Aktivitäten (wieder) zu finden.

Aber die Verantwortung der Seelsorger*innen geht noch weiter. Sie müssen die Verwundbarkeit schützen und die Neubekehrten vor Schritten zu bewahren, die sie in Abhängigkeiten bringen, die ihr Leben langfristig überschatten würden. Im Überschwang der Neubekehrung darf niemand eine unumkehrbare Entscheidung treffen – und noch weniger darf er*sie dazu animiert werden. Dieses Verbot, zu unumkehrbaren Entscheidungen anzustacheln, gilt selbstverständlich für alle Minderjährigen und besonders Vulnerablen, aber auch in jedem Alter für diejenigen, die durch ihre Lebenssituation und geistliche Suche gerade in einer vulnerablen Verfassung sind. Im Exerzitienbuch fordert Ignatius von Loyola aus gutem Grund, dass der/die Begleiter*in diejenigen, die „mit großem Eifer vorangehen, zuvorkommend warnen soll, irgendein unbedachtes oder verfrühtes Versprechen oder Gelübde abzulegen“ (Exerzitienbuch 14). Und: „Der Exerzitiengeber darf den Empfangenden nicht mehr zu Armut oder zu einem Versprechen hin bewegen als zu deren Gegenteil, noch auch mehr zu einem Stand oder Lebensweise als zu einer anderen.“ (EB 15)

Wer immer das Feuer der Bekehrung oder Berufung ausnutzt, um einen suchenden Menschen auf die eigene Spiritualität, Weltsicht, Gemeinschaft… festzulegen, handelt schwer sündhaft. Dies gilt unabhängig davon, ob sich die dadurch entstehende Zugehörigkeit später als fruchtbar und dem Menschen entsprechend heraus stellt. Die Aufgabe und Verantwortung des/der Begleiter*in ist immer und in jedem Fall das „Maß halten“ und nicht, weiter ‚Öl ins Feuer der Bekehrung‘ zu gießen. Das durchzuhalten ist natürlich umso schwieriger, wenn die eigene Gemeinschaft oder Zugehörigkeit dringend auf den Zustrom junger Menschen angewiesen ist. Alle Seelsorger*innen können vom hell lodernden Feuer der neuen Berufung mit angesteckt werden. Aber nochmals gesteigerte Achtsamkeit müssen Begleiter*innen investieren, die in einer geistlichen Tradition stehen, die selbst in einem überschießenden, enthusiastischen Anfang wurzelt. Gegebenenfalls kann jemand, der unter einem solchen Druck steht, Neubekehrte oder -berufene nicht sachgerecht begleiten.

Wer immer an der ‚Tür‘ in eine Gemeinschaft oder einen Stand arbeitet, kann das verantwortlich nur tun, wenn er/sie bedingungslos das Beste – und damit den Willen Gottes – für die suchenden Gesprächspartner*innen will, das was ihr Leben reich macht und ihnen wirklich in der Tiefe entspricht. Maß, Dauer, Erdung, Eignung und Alltagstauglichkeit sind dabei wesentliche Kriterien. Gute Dinge sind am Anfang, in der Mitte und am Ende gut. (Exerzitienbuch 333) Wenn auf ein scheinbar gutes geistliches Engagement, das aber im Überschwang der Neuberufung entschieden wurde, eine lange Durststrecke, eine Überforderung, eine Abkehr von Freunden und Familie, eine Vernachlässigung des Körpers… folgen, dann lag der Fehler bereits am Anfang und in der Entscheidung. Ein*e verantwortliche Seelsorger*in hätte sie nie entgegen nehmen und bestätigen dürfen.

Geistgeführte Veränderungen, gottgefälliges Engagement, spirituelle Neuausrichtung… liegen in aller Regel in der Linie des bisherigen Lebens. Sie lassen einen Menschen in den bestehenden Bindungen und übernommenen Verantwortungen weiter reifen und fügen sich maßvoll in die gegebenen Bedingungen des Lebens ein. Radikale Schritte, Brüche mit der Vergangenheit, der Familie und den Freunden, Abbruch einer Ausbildung oder Berufstätigkeit, Überflutung des Tagesablaufs mit geistlichen Übungen…  sind fast immer Versuchungen des „Feindes der menschlichen Natur“ (Exerzitienbuch 136). Die meisten Suchenden schrecken zum Glück instinktiv vor einer solchen Radikalität zurück. Dort wo Neubekehrung und Berufung jedoch zur Radikalität – zu lebensverändernden Gelübden, zu (Selbst-)Verpflichtungen auf alltagszerstörende Praktiken, zu Mitgliedschaften in radikalen Gruppen… – treiben, ist für den*die Seelsorger*in, neben dem Mut zum Gegenhalten und Bremsen (agere contra…), Indifferenz die wesentliche Tugend: Indifferenz im Zweifelsfall auch gegenüber den eigenen Überzeugungen, geistlichen Erfahrungen und der Zukunft der eigenen Gruppierung.

Gott kann und will einen Menschen in jedem Stand, Beruf und Lebensentwurf zur Vollkommenheit des Evangeliums führen (vgl. Exerzitienbuch 135). Immer aber – auch in den ungewöhnlichsten, aber dennoch stimmigen, lebensbejahenden und lebensfrohen Biographien – passt sich Gottes Wille  für einen Menschen in eine maßvoll austarierte Balance von Körper, Arbeit, Erholung und geistlicher Suche ein. Ob ein Maß gefunden und eingehalten wird, ist hier ein wesentliches Kriterium der Unterscheidung der Geister. Gute geistliche Entscheidungen und spirituelle Wege isolieren nicht von Freunden und Familie, drängen nicht in den Bruch übernommener Verantwortungen, lassen Raum für Alltag, Beruf, Körper und Erholung.

Wo das Maß jedoch liegt, ist individuell verschieden. Für eine*n mag eine Stunde Kontemplation am Tag zuträglich und lebensförderlich sein. Für den*die Nächste*n jedoch ist das bereits schädliches Übermaß und Gefahr für die Bewältigung des Alltags. Für manche sind ein paar Tage in durchgehendem Schweigen ein geistlich-menschlich förderlicher Rahmen, für andere eine komplette Überforderung, die Schaden anrichtet. Jede Absolutierung der einen oder anderen Form und Praxis ist unbedingt zu vermeiden. Nichts nützt jeder*m. Alles, auch das Frömmste und in anderem Kontext lange Bewährte, kann auch schaden.

Zu einer Kultur geistlichen Maßhaltens gehört des Weiteren eine wesentliche Unterscheidung: Die Energie einer Bekehrung zielt auf die Gottesbeziehung und damit auf das innere Leben eines Menschen. Die Gottesbeziehung darf aber nie an eine konkrete menschliche Gemeinschaft oder Zugehörigkeit geknüpft werden. Wer das tut, stellt sich selbst oder die eigene Gemeinschaft an die Stelle Gottes und handelt geistlich missbräuchlich. Das Erste ist die Gottesbeziehung, die es zu fördern und zu schützen gilt. Erst wenn die Gottesbeziehung eine gewisse Reife der Erfahrung und einen „erwachsenen“ Realismus, eine maßvolle Balance erreicht hat, das überschießende Feuer der ersten Bekehrungszeit sich in die anhaltende Wärme vertrauter Begegnung mit dem Heiligen zu transformieren beginnt, kann sich gegebenenfalls die Frage stellen, welche Lebensform oder Zugehörigkeit dem am besten dient. Viele Orden haben deshalb aus gutem Grund Latenzzeiten vor dem Eintritt eingeführt. Und auch da: was immer von den bisherigen Bindungen und natürlichen Zugehörigkeiten – wie zum Beispiel von der Herkunftsfamilie und gewachsenen Freundschaften – abschneidet, ist in der Regel Werk des Ungeistes und nicht Wirkung der heiligen Geistkraft Gottes.

Und die Aufforderungen zu immerwährendem Beten des Neuen Testamentes? Sie sprechen vielleicht eher von einer Qualität: von einem Leben, das in allen seinen Bezügen und von jedem Geschehen aus, Gott sucht und findet – „in allen Dingen“; von einer Verbundenheit mit Gott, die die Erde, den Körper, den Alltag respektiert; von einem inneren, geistlichen Leben in menschenfreundlicher Balance und lebensförderlichem Maß.

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