Die ignatianische Exerzitienspiritualität bietet ein Modell geistlicher Reifung für Gruppen. Wer dieser spannenden Aussage folgt, erlebt Wachstum für Gruppen und Stärkung von Gremien. Der folgende Text ist zuerst in “Unsere Seelsorge” des Bistums Münster – Heft: April 2020 – erschienen.

Geistliche Mündigkeit. Ein Übungsweg zu einer geistlichen Prägung von Gruppen und Gremien

Text: Peter Hundertmark – Photo: /pixabay.com

Um unter den Bedingungen der postmodernen Multioptionsgesellschaft bestehen zu können, verändert sich Kirche zu einer Gemeinschaft, in der die individuell und existentiell im Glauben Entschiedenen einen immer größeren Anteil ausmachen. Da die stützenden Rahmenbedingungen und geschützten Milieus des Glaubens rasch erodieren, ist der Einzelne, ist aber auch jede Gruppe gefragt, sich selbst, ihr Verhalten, den Nutzen ihres Glaubens, ihre Zugehörigkeit zur Kirche argumentativ darlegen zu können. Diese argumentative Herausforderung kann weniger als in früheren Zeiten an einige „Spezialisten“ delegiert werden. Aus der Volkskirche mit ihrer unbefragten Mitgliedschaft wird eine Kirche in der säkularen Gesellschaft, in der potentiell alle Mitglieder aktiv für ihren Glauben einstehen müssen.

Diese Herausforderung zu meistern, erfordert eine persönliche Auseinandersetzung mit den Inhalten des Glaubens, eine positive Aneignung seiner Verheißungen und eine gereifte Entschiedenheit. Glaube trägt unter den Bedingungen der säkularen Umwelt nur, wenn er wirklich mein Glaube geworden ist und sich mit mir und parallel mit meiner Persönlichkeit entwickelt hat. Idealtypisch entsprechen sich die individuellen Reifungsprozesse des Glaubens und der Person. Dabei ist jede Vorstellung eines „besser“ zu vermeiden. Mein Glaube, der parallel oder nachlaufend zu meiner gesamtmenschlichen Entwicklung einen Reifungsschritt durchlaufen hat, ist nicht besser als die bisherige Ausprägung. Vielmehr entspricht nun der Glauben (wieder) meinem Alter, den Anforderungen, der Verantwortung und meiner menschlichen Reife. Er ist stimmig – nicht „weiter“, „besser“ oder „vollkommener“. Er passt zu mir und befähigt mich, mir selbst und anderen Rechenschaft zu geben.

Reifung geschieht, aber Reifung kann auch vor-angetrieben werden. Da die Glaubensreifung nicht selten der Personreifung zeitlich nachläuft, genügt es nicht immer, auf die sich von selbst vollziehende Reifung zu vertrauen. Deshalb sind in der Spiritualitätsgeschichte geistliche Reifungsmodelle und Übungssequenzen entwickelt worden.

Ein solches Modell hat Ignatius von Loyola am Beginn des 16. Jahrhunderts in seinem Exerzitienbuch zusammengefasst. Dabei handelt es sich natürlich nicht um einen Standardablauf, dem sich die individuelle Entwicklung anzupassen habe. Die beschriebenen Etappen ereignen sich also ganz individuell, folgen aber doch einer formalen geistlichen Dynamik, die zumindest im ersten Durch-gang auch weder abgekürzt, noch übersprungen werden kann, ohne dass es zu wenig stabilen Scheinreifungen oder Reifungsverzögerungen kommt.

Der geistliche Reifungsweg für Gruppen

Dieses Übungsprogramm und Reifungsmodell der ignatianischen Exerzitien hat sich über die Jahrhunderte für die individuelle Glaubensreifung bewährt. Seit etwa fünfzig Jahren wird mit dem Übertrag des Modells auf geistliche Reifungspro-zesse von Gruppen experimentiert. Die Erfahrungen sind sehr ermutigend. Es zeigte sich, dass die Etappen, wie sie Ignatius beschrieben hat – je angepasst – in gleicher Weise für gemeinschaftliche Prozesse stimmig sind. Eine Glaubensgruppe reift geistlich analog wie eine Person. Sie kann sogar als „korporative geistliche Person“ verstanden werden – ein kompliziertes Wort für das neutestamentliche Bild vom Leib Christi, der die Kirche ist.

Dabei lässt sich der Reifungsweg der Gruppe von den vielen individuellen Reifungswegen ihrer Mitglieder zwar nicht trennen, aber klar unterscheiden. Manchmal geht die Entwicklung der Einzelnen voran und zieht die Gruppe hinter sich her, manchmal geht die Entwicklung der Gruppe voran, was dann Auswirkungen auf die Mitglieder hat. Immer jedoch beginnt jede neue Gruppe den Reifungsweg am Anfang des von Ignatius beschriebenen Prozesses, egal wie geistlich erfahren die Menschen sind, die sich in ihr versammeln. Auch eine Gruppe kann zumindest im ersten Durchgang nicht Etappen überspringen, ohne in ihrer geistlichen Mündigkeit Schaden zu nehmen.

Der Startpunkt: Glaube

Startpunkt jeder geistlichen Entwicklung hin auf je angemessene Reife und Mündigkeit ist der Glaube: Nicht das Für-Wahr-Halten von Glaubenssätzen, sondern die Erfahrung, dass Gott sich jedem Menschen individuell zuwendet, sich offenbart und sich selbst in der Begegnung geben will. Gottes Zuwendung ist erfahrbar und sein Wirken hin zum Guten und zum Heil, konkretisiert in Reife und Mündigkeit, für diesen Menschen oder diese Gruppe ist von anderen Bewegungen und Kräften unterscheidbar. Der Mensch kann die Wirkungen

Gottes in seiner Seele entschlüsseln und dessen Willen verstehen. Auch eine Gruppe kann, indem ihre Mitglieder ihre Erfahrungen miteinander teilen, gemeinsam geistlich unterscheiden und die Spur Gottes in ihrem Leben und seine Verheißung für den nächsten Entwicklungsschritt entdecken.

Erste Phase: positive Geschöpflichkeit

Die erste Etappe und existentielle Dimension des geistlichen Reifungsweges des Einzelnen, wie der Gruppe, ist die Erfahrung einer positiven Geschöpflichkeit. Der Mensch erfährt sich als geschaffen. Er ist nicht aus sich selbst und kann sich auch nicht selbst garantieren. Es gibt ihn nur als endliches und begrenztes Wesen. Er kann nur einige wenige Möglichkeiten realisieren. Kein Leben gelingt in allen seinen Aspekten. In dieser begrenzten Existenz darf sich der Mensch jedoch zugleich von Gott gewollt und angenommen erfahren. Diese Annahme ist dabei von keiner Leistung abhängig und überschreitet alle Grenzen, einschließlich der Grenze des Todes. Als begrenztes Wesen ist der Mensch unbegrenzt geliebt und gewollt.

In dieser Etappe des geistlichen Reifungsweges erlebt eine Gruppe die schöpferische Energie Gottes in ihren Vollzügen und Aufgaben, wie in den Beziehungen der Gruppenmitglieder unter-einander. Auch die Gruppe als solche entdeckt sich als bejaht. Sie hat Grund und Halt in Gott – und das vor aller Leistung, aus Glauben allein. Die Mitglieder begegnen sich in dieser Etappe der Gruppenreifung mit großem Wohlwollen und einem Vertrauensvorschuss. Das Miteinander ist sehr erfüllend. Die menschlichen Beziehungen stehen im Vordergrund, können aber zu jeder Zeit auf die Tiefendimension des anwesenden Geistes Gottes hin durchsichtig gemacht werden.

Diese geschöpfliche Existenz des Menschen transportiert aber noch ein weiteres: Er ist zu einer Vollendung berufen, die seine eigenen Fähigkeiten überschreitet. In ihn ist eine Verheißung gelegt. Gott „sieht“ schon seine vollendete Gestalt und das letzte Gelingen seines Lebens. Er gewinnt dieses Gelingen allerdings nicht auf direktem Weg – Ignatius teilt diese Überzeugung mit nahezu allen spirituellen Lehrerinnen und Lehrern – sondern indem er sich aus seiner Hinwendung zu Gott heraus versteht. Die Dinge der Welt lassen sich dann von diesem letzten Ziel her einordnen. In gleicher Weise erfährt sich auch eine Gruppe von Glaubenden gerufen, herausgerufen und herausgefordert von einer Verheißung und einer Aufgabe, die von Gott her über sie gelegt ist.

Phase der Ordnung

An dieser Stelle lässt sich eigentlich nie die Einsicht vermeiden, dass weder der oder die Glaubende sich von Gott her und auf ihn hin versteht, noch eine Gruppe umfassend ihrer Berufung und Verheißung folgen kann. Diese Einsicht motiviert zu verstärktem Einsatz und so beginnt die Phase der Ordnung. Ordnung ist dabei als „terminus technicus“ zu verstehen. Geordnet wäre ein Leben, dessen Optionen, dessen Weltzugang und Hoffnung von der verheißenen Vollendung und deshalb ganz aus der Ausrichtung auf Gott lebt. Dem entgegen stehen ungeordnete, eben nicht auf Gott ausgerichtete und an ihm Maß nehmende „Anhänglichkeiten“ – innerpsychisch oder in der Dynamik der Gruppe.

In der Phase der Ordnung wird durch individuelle oder Gruppen-Biographiearbeit, durch integrierende Übungen, durch Veränderungsanstrengungen ein mehr an Ordnung als Ausrichtung auf Gott angestrebt. Die Glaubenden oder die Gruppe bemühen sich um ein Mehr an Freiheit gegenüber den Dingen, Gewohnheiten, Prägungen… und fragen in zunehmend mehr Situationen nach dem Willen Gottes, der sie auf diese große individualisierte Verheißung ausrichten wird. Dabei kann es zu inneren und äußeren Auseinandersetzungen, auch zu Trennungen kommen. Die Einzelnen kommen in eine Anpassungskrise und Gruppen in Rivalitäten, Meinungsverschiedenheiten, Konkurrenzen.

In dieser Reifungsphase wächst durch die Achterbahnfahrt von „Trosterfahrungen“ und „Trostlosigkeiten“ und durch das Wirken des lebensspendenden Geistes Gottes ein Mehr an innerer Freiheit, an Lebendigkeit und Mündigkeit. Dieses Mehr an Freiheit macht es erst möglich, unvoreingenommener, verfügbarer und offener, als Einzelne, Einzelner oder als Gruppe den Ruf Christi in die Nachfolge zu hören.

Der Weg des Evangeliums

Mit dem aktuell erlebten Ruf Christi in die Nachfolge betreten die Einzelnen wie die Gruppen den Weg des Evangeliums. Die nun entdeckte individuelle Berufung der Einzelnen, des Einzelnen oder der Gruppe ist die erste „enge Pforte“ des geistlichen Weges. Die nun folgende Phase steht im Zeichen der Begegnung und der Beziehung zu Jesus aus Nazareth. Es geht darum, ihn noch einmal mehr innerlich kennen zu lernen, sich von seiner Lebensdynamik erfassen zu lassen und so mit ihm vertraut zu werden: Schülerinnen, Schüler, Jünger und Jüngerinnen zu werden. Es wird erlebt, dass Christus eine „Partnerschaft“ anbietet. Freundschaft und Vertrautheit mit Jesus sind nun die leitenden Verheißungen. Indem die Glaubenden – oder die Gruppe – Jesus zu verstehen suchen, ihm in Zuneigung und Bindung folgen, entdecken sie nach und nach ihre eigene, persönliche Berufung, werden ihre Charismen sichtbarer, wächst ein Gespür für den Ort und die Weise der Zeugenschaft für Christus in der Welt heute. Die Biographiearbeit tritt nun zurück und wird durch geistliche Beziehungsarbeit abgelöst.

In der Mitte des Reifungsweges steht die Entscheidung, dieser neu gewonnenen Lebensform, die sich bemüht, jeden Schritt mit Jesu zu gehen, mit ihm zu gestalten, mit ihm auszuhandeln … aus vollem Herzen zuzustimmen und sie in gewisser Weise zu bekennen. Manchmal ist diese Entscheidung mit großen alltagspraktischen Lebensentscheidungen verbunden, immer aber ist es eine tiefe Entschiedenheit, aus der Bindung an Jesus und in der Linie der eigenen Berufung an der Sendung Gottes für die Rettung der Welt und das Reich Gottes teilzunehmen.

Phase der Solidarität und Compassion

Wie der Lebensweg Jesu kennt jedoch auch der geistliche Reifungsweg seiner Schülerinnen und Schüler oder Jüngerinnen und Jünger heute – einzeln und als Gruppe – einen Umschwung und einen Richtungswechsel. Im Leben Jesu ist es der beginnende Weg nach Jerusalem, der ihn in die Passion und ans Kreuz führen wird. Die Glaubenden treten damit in die Phase der innerlich erfahrenen Solidarität und Compassion mit dem Leidenden ein. Zuerst und explizit in die Solidarität mit dem leidenden Lebensfreund und Meister Jesus, dann aber auch in die Solidarität mit seinem leidenden sakramentalen Leib der Kirche und der Glaubenden, bis in die Solidarität mit den Leidenden der ganzen Menschheitsfamilie und mit dem Leiden der ganzen christusdurchprägten Schöpfung.

In dieser Phase erleben die Glaubenden oder die Gruppe die Übermacht der tödlichen Kräfte, das Scheitern und die Brüche, Ohnmacht und Ausgeliefertsein. Aber sie erleben dieses Untergehen nicht getrennt von Jesus, sondern in seiner helfenden Nähe. In der Bindung an den Freund Jesus, der durch solche Leiden gehen muss, aus Liebe zu ihm, können die Glaubenden sich auch auf das einlassen, was sie nach gesundem Menschenverstand nicht wollen können. Die Erzählung vom Sturm auf dem See, als Jesus Petrus auf das Wasser hinaus ruft, ihn ermutigt, die Füße ins Unplanbare zu stellen, die Sicherungen aufzugeben und sich dem tobenden „Leviathan“ auszusetzen, ihn aber sofort herauszieht, als er untergeht, bebildert dieses Erleben.

Die letzten Bilder dieser Phase der Solidarität mit dem Leidenden sind die Pietà und Josef von Arimathäa, der den Leichnam Jesu ins Grab legt. Dann verschließt der Stein vor dem Grab die Perspektive und der menschliche Weg der Bindung und Nachfolge ist zu Ende. Der folgende Karsamstag ist die zweite „enge Pforte“ des geistlichen Reifungsweges. Es gilt Abschied zu nehmen von Jesus als Freund und Vorbild. Ihn sogar als Leichnam noch frei zu lassen und ihn nicht im Grab halten zu wollen. Die Auferstehung ist nicht die Fortsetzung des Lebens und sie ereignet sich erst, wenn die Glaubende, der Glaubende oder die geistliche Gruppe zulassen kann, dass das Grab leer geräumt wird – von allem, woran sie sich bisher gehalten hat, von allen Gebote und Leitlinien, von der orientierungsgebenden Präsenz Jesu, sogar von der Nachfolge. Die Auferstehung geschieht dann jedoch „nachts“, wenn niemand es beobachten kann.

Aus der Auferstehung leben

Auferstehung ist eine neue Schöpfung, ein Neuanfang, der sich nicht einfach als Fortsetzung aus dem bisherigen Weg ergibt. Die Jünger/innen treten hinaus in das Licht des Ostermorgens, in die ganze Freiheit des Evangeliums … und fürchten sich und sind in ihrer Existenz erschüttert. Der erste Schluss des Markusevangeliums berichtet von dieser Erfahrung tiefen Misstrostes im eigentlich schon hereinbrechenden Trost.

Im Mittelpunkt der Auferstehungserfahrung steht die Begegnung mit dem erhöhten Herrn, der von Gott in alle Vollmacht eingesetzt ist. Und dieser Bevollmächtigte nimmt seine früheren Schüler/innen in diese Vollmacht mit hinein. Aus Jüngern werden Apostel, Gesandte des Gesandten Gottes. „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich Euch“ lässt Johannes den Auferstandenen sprechen, bevor er den Aposteln seinen Geist gibt und ihnen göttliche Vollmacht übergibt. Ab diesem Zeitpunkt können sich die Apostel/innen nur noch auf die in ihnen wirksame Kraft des Geistes Gottes stützen: Nur noch, weil niemand den Geist Gottes fassen und zu seinem Eigentum machen kann. Damit ist jeder Schritt gefährdet und muss mit den anderen, die den gleichen Geist Gottes haben, aber dennoch oft andere Optionen und Meinungen vertreten, ausgehandelt werden. Die Gruppen erleben diese Notwendigkeit des Aushandelns nach innen und nach außen.

Jetzt gilt es einzeln und in Gemeinschaft den Weg Jesu dort zu finden und zu gehen, wo er selbst nie gegangen ist, Lösungen Jesu zu finden, wo ihm nicht einmal die Frage begegnet ist – in der Freiheit des geistlich mündigen Christenmenschen und der mündigen Glaubensgemeinschaft. Die Glaubenden sind in ihre volle Verantwortung hineingereift – um sich dann wieder zurückgeworfen zu erleben, denn weder die Entwicklungsprozesse der Einzelnen noch die Gruppendynamik kommt jemals zum Stillstand. Dennoch lässt sich der Unterschied klar benennen. Es hat eine Prägung und Formation stattgefunden, die nun zum Ausgangspunkt für die nächsten Herausforderungen und den nächsten Reifungsschritt wird.

Kirchlich, wie für ihr gesellschaftliches Umfeld, haben sie durch diese Prägung und erreichte Mündigkeit erheblich an Profil gewonnen. Sie erleben sich selbst im Fließen der Energie Gottes und dadurch in der Lage, Früchte des Geistes hervorzubringen. Dadurch, dass sie ihrer individuellen Berufung gewahr geworden sind, sich zu ihr bekannt haben und diese Berufung durch alle Prüfung durchgehalten haben, sind sie in einem früher ungewohnten Maß unabhängig und eigenständig geworden. Sie sind kantig, für ihre (kirchliche) Umwelt herausfordernd und nicht selten provozierend: eben weil sie mündig sind, ohne die Brüche und Niederlagen überspielen zu müssen, nun und in aller Konsequenz und Verantwortung für ihren Glauben einzustehen.

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