Dass kirchliche Entscheidungs-prozesse stärker als bisher durch spezifisch spirituelle Vorgehensweisen unterstützt werden sollten, ist weitverbreitete Überzeugung in Kirchenleitungen. Nur wie geht das? Wie kommt es zu geistlichen Entwicklungsprozessen in Gremien? Und wie unterscheidet sich ein geistlicher Prozess von anderen Verfahren?

 

Geistliche Prozesse in kirchlichen Gremien

Text: Peter Hundertmark – Photo: janeb13/pixabay.com

Geistlich sind Prozesse und Systeme, wenn sie zum Geist Gottes hin offen sind (Karl Rahner SJ). Sie beziehen den Geist Gottes als aktiv und aktuell Handelnden mit eigenem Willen und eigener Vision in das Beratungsgeschehen ein, mehr noch: sie versuchen sich so zu organisieren, dass dem Geist Gottes eine konkret handlungsleitende Führungsrolle eingeräumt wird.

Der Geist Gottes ist der Geist Jesu, den wir aus den Evangelien kennen. Durch seinen Geist leitet Jesus Christus seine Kirche. Er ist der Herr der Kirche und aller ihrer Lebensäußerungen. Das hat massive Konsequenzen dafür, wie Kirche ihr Leben gestalten kann.

Geistliche Prozesse setzen diesen Glauben voraus.

 

Personen

Geistliche Prozesse sind immer begleitete Prozesse, das heißt es wird eine Rollentrennung und Rollenzuschreibung vorgenommen. Eine Person fungiert als geistliche/r Begleiter/in. Das muss nicht immer eine externe Begleitung sein. Entscheidend ist, dass einer Person die Positionsmacht eingeräumt wird, auf geistliche Zusammenhänge achten und die notwendigen Maßnahmen, vor allem Unterbrechungen und Anhörrunden, einzufordern. Das kann auch reihum geschehen. Der/die Begleiter/in ist aber für die Zeit ihrer/seiner Beauftragung bei inhaltlichen Beiträgen deutlich eingeschränkt.

Der/die Begleiter/in muss ein/e erfahrene/r Glaubende/r im obigen Sinne sein. Hilfreich ist es, wenn er/sie zudem seine/ihre Erfahrungen mit dem Wirken des lebendigen Gottes reflektiert und ein Gespür für die Wirkungen der verschiedenen „Geister“ eingeübt hat. Längere eigene geistliche Begleitung und geistliche Übungen in verschiedenen Exerzitienformen sind hier eine nicht zu unterschätzende Vorbereitung für den Dienst des/der Begleiter/in.

Geistliche Prozesse entwickelns sich leichter, wenn darüber hinaus im Gremium selbst einige Mitglieder sind, die sich auch unabhängig von ihrer Mitwirkung im Gremium um ein geistliches Leben mit Stille, persönlichem Beten und  eigener geistlicher Begleitung bemühen.

 

Konsens

Geistliche Prozesse von Gremien als geistgeführte Prozesse kennen wie alle Entscheidungswege fundamentale Meinungsverschiedenheiten, unterschiedliche Interessen, Einschätzungen, Optionen. Unterschiedliche Positionen und auch Streit – zumindest im Sinne von Wettstreit um die beste Lösung – sind ganz normal und ein gutes Zeichen. Denn in allen Menschen guten Willens arbeitet der gleiche Heilige Geist, der sich jedoch immer in einem ersten Schritt mit ihren persönlichen Erfahrungen und Reflexionen zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen und Gestalten verbindet.

Wirken die verschiedenen „Geister“, gehen die Emotionen hoch, schlägt die Gruppendynamik Kapriolen, wird heftig gerungen, ist das Gremium auf einem guten Weg. Auch Zeiten der Trostlosigkeit gehören zum geistlichen Leben – bei Einzelnen ebenso, wie bei Gremien. Dem/der Begleiter/in kommt dann die Aufgabe zu, zu trösten und das Gremium beisammen und im geistlichen Suchen zu halten. Er/sie kann jedoch ganz entspannt und zufrieden sein, denn in solchen dramatischen Situationen scheinbar unüberbrückbarer Gegensätze und verworrener Diskussionen ist sicher der Geist Gottes auch am Werk und wird sich durchsetzen.

Denn wird der Prozess durch den einen Geist Gottes geführt, so drängt er auf einen starken Konsens hin, der das Gegenteil des kleinsten gemeinsamen Nenners ist. Dieser Konsens liegt jenseits der Einzelpositionen, schafft weiten Raum und gibt (fast) allen Mitgliedern des Gremiums und den Betroffenen die Möglichkeit, sich darin wiederzufinden und die eigenen Bedürfnisse gewahrt zu sehen. Oft scheint ein solcher Konsens zwischenzeitlich völlig unrealistisch, aber alle Erfahrung sagt, dass es sich lohnt dran zu bleiben, zu harren und zu arbeiten, zu schweigen und zu beten, bis sich oft unverhofft und aus einer unerwarteten Richtung eine wirklich gemeinsame Perspektive einstellt.

Ergebnisse, die von Ambivalenz, knappen Mehrheiten, hinhaltenden Widerständen begleitet sind, sind wichtige Zwischenschritte, aber noch nicht das wirkliche Ergebnis des geistlichen Prozesses.

 

Reichweite und Methoden

Zu unterscheiden sind drei verschiedene Arbeitsdimensionen von Gremien: Visionsarbeit, strategische Planungen und operative Aufgaben. In allen drei Dimensionen sind geistliche Prozesse möglich und Kirche angemessen. Sie erfordern aber je andere Maßnahmen und eine andere Zeitstruktur. Deshalb ist es sinnvoll, die Dimensionen nicht in einer Sitzung oder einer Klausur zu mischen.

Visionsarbeit:

Hier geht es darum, die großen Linien zu finden, die das künftige Zusammenwirken prägen und leiten. Kirche kann eine solche Vision immer nur auffinden, nie selbst basteln. Es ist Gottes Vision für dieses Gremium, für diese Gemeinde, für diesen Verband oder diese Bewegung. Visionsarbeit erfordert relativ viel Zeit, um auf den Geist Gottes zu hören. In Gott ist die Vision schon da. Durch die Besinnung auf sein Wort, seine Gegenwart in Gebet und Gottesdienst, sein Wirken in der Welt und in allen Glaubensgeschwistern kann die Vision nach und nach sichtbar werden.

Idealtypisch entsteht dabei abschließend ein inneres Bild, ein griffiger Satz, eine eingängige Formulierung, die als Kriterium für alle Ziele und Maßnahmen allen Beteiligten immer präsent sind.

Visionsarbeit ist die Voraussetzung für alle weiteren Schritte. Ohne eine am Evangelium gemessene und geistlich fundierte Vision kann Kirche nicht geistgeführt strategisch planen.

Visionsarbeit führt dabei nicht zu einem ein für alle Mal abgeschlossenen Ergebnis. Die Vision muss immer wieder überprüft, angepasst, ergänzt, vertieft werden. Wenigstens einmal in der Wahlperiode eines Gremiums sollte für Visionsarbeit Zeit eingeräumt werden.

  • Biblisches Arbeiten legt die notwendige Grundlage jeglicher kirchlicher Visionsarbeit. Das Gremium wird sich mehrmals – scheinbar absichtslos und ohne Zeit- und Ergebnisdruck – von biblischen Texten, vor allem von den Texten der Evangelien leiten lassen.
  • Längere persönliche Zeiten des Betens kommen notwendig hinzu. Da viele Glaubende damit wenig Erfahrung haben, braucht es detaillierte Anleitungen und konkrete Hilfestellungen, um betend und in Stille an dem geistlichen Suchprozess dran zu bleiben.
  • Die persönlichen Zeiten, wie die Bibelarbeit und alle anderen geistlichen Übungen im Rahmen der Visionsarbeit, münden immer wieder in Anhörrunden. Nacheinander werden alle Mitglieder des Gremiums angehört. Diese Anhörrunden kennen keine Hierarchie und keine Funktionen. Jede und jeder trägt seine Erfahrung, seine Sicht, sein inneres Spüren bei. Der Geist Gottes wirkt in jeder/m und aus jeder/m kann er jetzt besonders klar und deutlich sprechen.
  • Visionsarbeit sollte immer von ausgebildeten geistlichen Begleiter/innen gestützt werden. Sie können ihre Erfahrung und ihr Wissen um die Wirkdynamik des Geistes Gottes einbringen, das Gremium durch Zeiten der Unsicherheit, des Zweifels und des Streits durchtragen, immer wieder die Mitglieder auf ihr inneres Erleben zurück verweisen, vorschnelle Einigungen aufdecken und die Geister unterscheiden.

 

Strategische Planung

Anders als Visionsarbeit ist Strategieentwicklung das normale Geschäft von Leitungs- und Beratungsgremien. Das geistliche Arbeiten ist jetzt deutlich stärker themenzentriert. Es flankiert und gestaltet die inhaltliche Debatte. Es nimmt zeitlich deutlich weniger Raum ein, als in der Visionsarbeit.

Einführungsphase

  • Eine Strategieentwicklung als geistlicher Prozess in einem Gremium beginnt damit, dass der Glaube an unseren wohlwollenden, aktiv handelnden und eigen-sinnigen Gott in Erinnerung gerufen wird. Im gleichen Schritt wird auch an die handlungsleitende Vision erinnert. Es schließen sich einige wenige Minuten betender Stille an.
  • Die Mitglieder des Gremiums machen sich füreinander in einer ersten „Ankommrunde“ mit ihrer aktuellen Lebenssituation und aktuellen Gestimmtheit ein wenig sicht- und spürbar.
  • Spätestens jetzt wird aus dem Gremium ein/e geistliche Begleiter/in benannt oder eine externe Person vorgestellt und eingeführt.
  • Die Mitglieder des Gremiums verständigen sich von neuem darauf, in ergebnisoffenen, geistgeführten Prozesse zu arbeiten und auf konsensuale Ergebnisse hinzuwirken.

 

Sacharbeit

Sie kann gut vorbereitet werden und braucht dann entsprechend weniger Zeit im Gremium selbst.

  • Über Sachklärungen, Folgenabschätzungen und mögliche gute Alternativen wird informiert und eine geteilte Wahrnehmung der Wirklichkeit und ihrer realen Bedingungen für die künftige Strategie wird erarbeitet. Gott umarmt durch die Wirklichkeit. Aus Befindlichkeiten und imaginierten Idealzuständen wird kein geistlicher Prozess. Erst wenn ein breiter Konsens erreicht ist, wie die Sachlage ist, kann ein geistliches Unterscheiden beginnen.
  • Der/die Begleiter/in fordert nun die Bereitschaft zur Selbstdistanzierung und -relativierung ein. Es geht um das beste Ergebnis unter der Führung des Heiligen Geistes und nicht um die Durchsetzung einer Position. Die Fähigkeit dazu ist vielleicht eines der wichtigsten Alleinstellungsmerkmale von Glaubenden.
  • Eventuell – insbesondere bei emotional aufwühlenden Themen – wird in einem Anhörkreis nun aktiv auf eine Haltung der Indifferenz, als engagierte Freiheit zur besten Lösung jenseits eigener Vorlieben, hingearbeitet. Dazu werden vorgängige eigene Überlegungen zum Thema mitgeteilt, inhaltliche Positionen und Interessen offengelegt, Optionen und themenrelevante persönliche Werte angesprochen, ohne in eine Diskussion einzusteigen.

 

Unterscheiden

Das Thema und die Fragerichtung wird „aus der Perspektive Gottes“ präzisiert: Was macht Gott (schon) und was will er damit erreichen? Wie können wir ihn unterstützen, in seine Sendung einschwingen, sein Wort heute sagen…? Dabei ist es wichtig, nicht zu versuchen, von „Was ist das Problem?“ direkt zu „Was ist die Lösung?“ zu voran zu gehen. In einem geistlichen Unterscheiden liegen zwischen Problem und Lösung immer Fragen wie: „Wozu sind wir von Gott gerufen und gesandt?“ und „Wer sind wir?“.

  • Im ersten Schritt dieser Phase wird biblisch gearbeitet: BibelTeilen, Bibliolog oder ignatianische Schriftbetrachtung – was immer der/die Begleiter/in oder ein Mitglied des Gremiums gut anleiten kann – können hilfreiche Methoden sein.
  • In einem zweiten Angang – zum Beispiel im „6. Schritt“ des BibelTeilens – wird inhaltlich an der strategischen Frage gearbeitet. Dabei wechseln sachliche Klärung, Unterbrechungen der Besinnung, des Spürens, Denkens und Betens in Stille und Anhörrunden („Was ist mir eben für unsere Aufgabe wichtig geworden?/Welche Alternative für ein künftiges Vorgehen legt sich mir im Moment nahe?“) ab. In der Regel braucht es nur zwei Durchgänge bis sich ein Konsens herausschält.
  • Geistliche Prozesse haben fast immer einen Nullpunkt, einen Stillstand, eine Situation, wo es nicht weiter geht. Jetzt hilft nur aushalten, abwarten, beten… Es ist die Zeit in der der Geist Gottes am aktivsten am Werk ist.

 

Entwickeln I

  • Aus dem Konsens heraus werden erste Ideen und Richtungen, die das Ergebnis der Unterscheidung in konkrete Planungsschritte übersetzen, probehalber formuliert. Dabei ist darauf zu achten, dass die Ideen mit der grundlegenden Vision abgeglichen werden.

 

Jetzt sollte das erste Treffen mit einer kurzen Stille und einem abschließenden Gebet enden. Bei solchen wichtigen strategischen Entscheidungen ist es sinnvoll, wenigstens eine Nacht, besser eine Woche zwischen den beiden Etappen der Entwicklung von Umsetzungsideen, frei zu lassen. In dieser Zwischenzeit werden die Mitglieder des Gremium aufgefordert, persönlich mit den Zwischenergebnissen und Perspektiven beten.

 

Entwickeln II

  • Es beginnt mit einem Anhörkreis, in dem die Mitglieder des Gremiums Eindrücke, Einsichten und innere Regungen zu den Ergebnissen des ersten Treffens aus der Zwischenzeit miteinander teilen.
  • Nun wird an den notwendigen Zielsetzungen und Maßnahmen weiter gearbeitet. Wie schon beim ersten Treffen, können dabei Unterbrechungen in Stille eingeschoben werden, die einem betenden Nachsinnen dienen.
  • Mögliche Entscheidungen werden immer wieder dahingehend überprüft, ob potentiell alle Betroffenen zustimmen können, die Konsensregel geistlicher Entwicklungsprozesse also eingehalten wird. Entsteht zwischendurch ein Dissens, so ist zu klären, wie die Minderheitenmeinung wieder integriert werden kann und wie besondere Bedürfnisse von einzelnen Personen oder Gruppen einbezogen werden können.
  • Die Entscheidungen werden verschriftlicht. Zu jeder beschlossenen Maßnahme werden Zuständigkeit und zeitliche Abläufe festgelegt. Dann wird das Gesamtpaket noch einmal in einer betenden Stille überprüft.
  • Abschließend wird vereinbart, wann und wie eine Revision der Entscheidungen durch Reflexion und mögliche Korrektur angesetzt wird. Die Entscheidungen sind werden dann „ad experimentum“ bis zum festgesetzten Revisionstermin verabschiedet.
  • Das Treffen und der ganze geistlich dynamisierte Strategieprozess enden, indem die Mitglieder des Gremiums, nach Möglichkeit auch die Gemeinde, der Verband oder die Bewegung als Ganze, Gott feiern.

 

 

Operative Aufgaben

  • Zu Beginn der Sitzung werden knapp der grundlegende Glaube an das aktive Wirken Gottes, die Vision und die strategischen Entscheidungen/Perspektiven in Erinnerung gerufen.
  • Für eine eng begrenzte Zeit stellt sich das Gremium unter das Wort Gottes – zum Beispiel durch die ersten Schritte eines BibelTeilens zum Tagestext der Leseordnung. Leitmotto dieser Besinnung auf die Hl. Schrift ist das Psalmwort: „Dein Wort ist meinem Fuß eine Leuchte“ (Ps 119,105). In der Perspektive des Wortes Gottes, in der Ausrichtung auf die Sendung, die Gott sich selbst für die Welt gegeben hat, geht das Gremium dann an die konkreten Aufgaben der Tagesordnung. Es geht aber nicht darum, die Bibelstelle für die operationale Arbeit „abzumelken“ – das könnte leicht in einen Fundamentalismus münden.
  • Bei jedem Tagesordnungspunkt hält das Gremium vor der Entscheidung eine kurze Zeit in Stille inne, um mit der Aufgabe und der sich abzeichnenden Entscheidung zu beten: „Entspricht die Richtung, in die wir jetzt tendieren, Jesus Christus und seinem Weg? Stärkt die Entscheidung Leben, Freiheit und Mündigkeit der Christgläubigen? Spüren wir ein Mehr Glaube, Hoffnung und Liebe für alle Betroffenen? Passt es sich in die Vision und die grundlegenden strategischen Entscheidungen ein?“
  • Die Eindrücke aus der betenden Stille werden rasch miteinander geteilt und dann die Entscheidung getroffen. Dabei werden Zuständigkeiten, zeitliche Abläufe und Zeitpunkt einer Revision festgelegt.
  • Am Ende der Sitzung halten alle noch einmal für ein paar Minuten inne, blicken betend auf die ganze Sitzung, achten dabei auf ihre innere Regungen: Stimmungen, Gefühle, Bilder, Eindrücke… Die Sitzung schließt mit einem „Blitzlicht“. Erst wenn das „Blitzlicht“ keine grundsätzliche Infragestellung offenlegt, gelten die Entscheidungen für entschieden.

 

Ausblick

Dauerhaft bleibt die Atmosphäre geistlicher Entscheidungsfindung in einem Gremium nur erhalten, wenn immer wieder Zeiten eingeschaltet werden, die nicht der Arbeit, sondern nur dem Gremium selbst gewidmet sind: Zeiten geteilter geistlicher Suche, Zeiten der Vertiefung, Zeiten, sich wechselseitig als geistliche Menschen wahrzunehmen, Zeiten, sich wechselseitig geistlich zu stützen. Dafür eignet sich zum Beispiel einmal im Jahr ein Besinnungs- oder Oasentag, der nicht der inhaltlichen Arbeit gewidmet ist.

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