Das Leid, das Menschen durch spiritualisierten Machtmissbrauch zugefügt wird, wird zum Glück immer sichtbarer. Zuerst sind dabei vor allem die verbindlichen Gemeinschaften in der Kirche in den Blick geraten. Daraus ergibt sich die Frage, was eine gute geistliche Gemeinschaft ausmacht.
Gute Geistliche Gemeinschaft
Text: Peter Hundertmark – Photo: geralt/pixabay.com
Männer und Frauen schließen sich heute einer geistlichen Gemeinschaft an, um ein Mehr zu leben, das über das Genügende eines Lebens aus dem christlichen Glauben hinausgeht. In ihnen ist eine Sehnsucht, ihr ganzes Leben Gott und den Mitmenschen zur Verfügung stellen. Sie gehen diesen Schritt in einem Schwung von Großherzigkeit, aus einer tief empfundenen Berufung heraus, auf der Suche nach einem ganz gottgeführten Leben. Sie verstehen sich und ihre Lebensweise als Zeichen an die Gesellschaft, dass es ein absolutes Mehr als alles gibt. Dieses Mehr verheißt ihnen einen Sinn für Ihr Leben, für den sie bereit sind, auf die Verwirklichung einiger natürlicher Bedürfnisse – zum Beispiel nach exklusiver Partnerschaft und eigenen Kindern – zu verzichten. Oft lebt die Berufung in eine geistliche Gemeinschaft von einer brennenden Begeisterung, von einer ersten Liebe, und ist deshalb von der ganzen Radikalität und dem Überschwang der Liebe geprägt.
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Maß und Mitte
Gute geistliche Gemeinschaft gibt dem/der Gottsuchenden einen sicheren Ort, nimmt ihre Sehnsucht nach radikaler Ausrichtung auf Gott und die Menschen in großem Wohlwollen entgegen und fördert sie – verstärkt aber die notwendig mitlaufenden Über-Energie nicht weiter. Wie eine gute Ehe schafft auch eine gute geistliche Gemeinschaft den Raum, die Begegnungen und Abläufe, durch die sich die Gottverliebtheit der ersten Stunde in eine tiefe, sorgfältig geprüfte, belastbare und dauerhafte Liebe wandeln kann. Den schmalen Grat eines gesunden, alltagstauglichen geistlichen Lebens in Gemeinschaft – zwischen Überschwang und Enttäuschung – zu finden und zu halten, ist Herausforderung und Verantwortung der Formator*innen und aller Mitglieder, insbesondere aber derer, die derzeit in der Gemeinschaft Leitung wahrnehmen.
Während der/diejenige, die einer Gemeinschaft beitritt, aus sich und den eigenen Bedürfnissen heraustreten will, über sich selbst hinausgehen will, ganz ein Mensch für andere und den Anderen sein will, akzentuieren die Gemeinschaft und die in ihr Verantwortlichen deshalb die notwendige Konvergenz von menschlicher Reifung, von Selbstkenntnis und Selbstbewusstsein, und geistlichem Wachstum. Sie wissen darum, dass ein gesunder geistlicher Weg die Balance von Gottes-, Nächsten und Selbstliebe braucht und unterstützen deshalb alle Prozesse, durch die der hochfliegende Same der Gott-Begeisterung Wurzeln in der gefestigten Persönlichkeit und in verlässlichen Beziehungen schlagen kann. „Den Willen Gottes suchen in der Einrichtung des eigenen Lebens“ nennt Ignatius von Loyola in seinem Exerzitienbuch die Lebensaufgabe eines/r jeden, der/die sich auf diese Sehnsucht nach dem Mehr einlassen will. Die Gemeinschaft steht dabei für Erdung, Realismus, Dauer, für eine gelingende Prayer-Work-Life-Balance.
Gute geistliche Gemeinschaften sind nicht perfekt und geben das auch nicht vor. Schon beim Blick auf die Internetpräsenz und in den ersten Kontakten, werden auch Herausforderungen und Schwierigkeiten deutlich. Gute Gemeinschaften zeigen sich mit allen Ihren Mitgliedern, auch mit denen, die gerade nicht glücklich (in die Kamera) schauen können. Sie verheimlichen nicht, dass ihre Gemeinschaft ein vielstimmiger Chor ist, in dem auch einige immer mal falsch singen oder gar ein anderes Lied anstimmen als die anderen. Es ist ihnen anzuspüren, dass geistliches Leben und Leben in Gemeinschaft auch mühsam ist, Disziplin erfordert, Höhen und Tiefen kennt. Gute geistliche Gemeinschaften lassen ihr Mühen um ein gelingendes Leben mit Gott und den Menschen sehen und verstecken sich nicht in „Jubel-Wolken“ und scheinbar unhintergehbaren Sicherheiten der eigenen Berufung.
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Selbstbestimmung und Respekt vor den Grenzen
Gute geistliche Gemeinschaft steht aktiv für Religionsfreiheit und spirituelle Selbstbestimmung jedes Menschen und natürlich auch aller Mitglieder ein. Sie unterstützt alle Mitglieder – und die Schwächeren besonders – im Bemühen um ein selbstbestimmtes, sinnvolles und gelingendes Leben. Sie fördert ihre Mündigkeit und ihre Fähigkeit als im Leben und im Glauben Erwachsene Verantwortung für sich selbst und für andere zu übernehmen. Der Gehorsam steht nie über dem Gewissen. Deshalb stellt sie die gottgegebene Würde und die Rechte eines jeden Mitglieds jederzeit in den Mittelpunkt der Verkündigung und der praktischen Abläufe und fördert sie nach Kräften – gemäß dem altkirchlichen Grundsatz (Irenäus von Lyon): Die Ehre Gottes ist der lebendige Mensch. Dazu gehört, dass die Gemeinschaft die persönlichen Grenzen ihrer Mitglieder selbst dann respektiert und ihre Beachtung einfordert, wenn die Einzelnen in ihrem Streben nach dem Absoluten und Radikalen darüber hinausgehen wollen.
Gute Gemeinschaft setzt auch selbst Grenzen: sie schützt einen angemessenen Privatbereich, achtet auf verantwortliche Nahrungsaufnahme, auf ausreichend Schlaf, genügend Erholungszeiten, Körperpflege und körperliche Fitness, vorausschauende medizinische und bei Bedarf auch psychologische Betreuung, auf eine (berufliche) Tätigkeit, die den eigenen Fähigkeiten und Charismen entspricht, die ausreichend anspruchsvoll ist, ohne dabei dauerhaft zu überfordern. Sie schützt ihre Mitglieder nach innen und nach außen – und manchmal auch gegen sich selbst.
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Kontakte untereinander und nach außen
In guten geistlichen Gemeinschaften ist es selbstverständlich, dass alle Mitglieder zu jeder Zeit Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie halten. Oft gelingt es sogar, die Herkunftsfamilien in einen erweiterten, freundschaftlich verbundenen Kreis um die Gemeinschaft zu integrieren. So wie man bei der Heirat nicht einen Menschen, sondern in gewisser Weise eine ganze Sippe mitheiratet, nehmen auch gute geistliche Gemeinschaften nicht monadische Individuen auf, sondern Menschen, die in einem lebendigen Netzwerk stehen. Dieses Netzwerk bereichert im Idealfall die Gemeinschaft und die Gemeinschaft kann umgekehrt wichtige Impulse in dieses Netzwerk geben.
Gute geistliche Gemeinschaften erwarten von allen ihren Mitgliedern – und schaffen auch eine entsprechende Atmosphäre – dass sie niemanden diskriminieren oder abwerten und sich respektvoll mit allen gesellschaftlich akzeptierten Lebensformen auseinandersetzen. Ein freier und grenzrespektierender Umgang auf Augenhöhe unter Frauen und Männern ist dort ebenfalls selbstverständlich.
Eine gute geistliche Gemeinschaft ermöglicht zudem, dass jede und jeder in das für ihn/sie zuträgliche Maß an Alleinsein und Eigenständigkeit, persönlichen Freundschaften und Gemeinschaftsleben finden kann – und wehrt deshalb allen Verabsolutierungen und Extremen. Auch wenn jede Gemeinschaft verbindliche Regeln für das Zusammenleben braucht, steht doch das Leben des/der Einzelnen, sein/ihr Lebensglück und seine/ihre persönliche Gottesbeziehung immer über den Gesetzen. „Der Sabbat ist für den Menschen dar, nicht der Mensch für den Sabbat.“ Die sich aus dem Zugleich von notwendigen Regeln und persönlicher Entfaltung zwangsläufig ergebenden Konflikte werden in guten geistlichen Gemeinschaften offen angesprochen und dialogisch gelöst.
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Toleranz
Attraktiv werden geistliche Gemeinschaften durch das in ihnen lebendige spezifische Charisma – oft geprägt durch die Gründungsgestalt. Die Gemeinschaften unterscheiden sich und müssen sich unterscheiden, um zusammen die ganze Fülle des geistlichen Lebens in der Kirche darzustellen und zu fördern. Gute geistliche Gemeinschaft schätzt dennoch auch die Charismen und die Spiritualität anderer Gemeinschaften und Traditionen. Sie weiß darum, dass ihr eigene Spiritualität und Ordnung nur eine von vielen möglichen, gewinnbringenden Gestalten des geistlichen Lebens und der Nachfolge Christi ist. Auch nach innen erträgt eine gute geistliche Gemeinschaft, bei allem Akzent auf das eigene Charisma und die spezifische Spiritualität, bei ihren Mitglieder dennoch die ganze Bandbreite des Katholischen. Sie lässt verschiedene Ausprägungen und Intensitäten geistlicher Übungen zu, lebt mit der Vielfalt legitimer theologischer Positionen und mit den unterschiedlichen Zugängen zu Kirche und apostolischer Tätigkeit.
Auch deshalb ist es in guten geistlichen Gemeinschaften selbstverständlich, dass alle Mitglieder frei entscheiden können, wie sie sich theologisch und spirituell weiterbilden und ob und in welcher Form sie freundschaftliche Kontakte, geistliche Anregung und Austausch, Beichte, geistliche Begleitung und Exerzitien auch über die eigenen Möglichkeiten der Gemeinschaft hinaus in Anspruch nehmen und pflegen. Um diese Vielfalt aushalten und dennoch die Gemeinschaft zusammen halten zu können, gehört ein respektvoller Dialog zu allen geistlichen und alltagspraktischen Themen, die die Gemeinschaft angehen, zu den zentralen Charakteristika gelingender geistlicher Gemeinschaft. Mehr noch, die Gemeinschaft wird versuchen, zugleich auf die Führung durch den Heiligen Geist im Gebet und auf die Stimme Gottes aus dem Mund aller ihrer Mitglieder zu hören, verbindet sich der Geist Gottes doch zuerst mit den Einzelnen zu einer großen, gottgewollten Diversität, um dann auf dieser Basis die Einheit in Verschiedenheit voran zu bringen.
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Regeln und Leitung
Gute geistliche Gemeinschaft unterscheidet sich von einer Gemeinschaft, die in Schieflage geraten ist, nicht primär durch die Formen und Abläufe, sondern dadurch ob sie das rechte Maß und die Balance zu wahren versteht. Da das rechte Maß jedoch stets neu gefunden werden muss und leicht verfehlt wird, geben sich gute Gemeinschaften transparente Regeln, die alle Mitglieder – auch den/die Gründer/in und die obersten Repräsentanten – zu jeder Zeit binden. Die Ausgestaltungsmöglichkeiten dieser Regeln werden dabei durch die für alle gültigen staatlichen Gesetze und die Vorschriften des kirchlichen Rechtes begrenzt. Eine gute geistliche Gemeinschaft legt deshalb ihre – geschriebenen und ungeschriebenen – Regeln transparent offen und unterwirft sich der Prüfung, Anerkennung und Zulassung durch einen externen und ihr übergeordneten Ordinarius (Bischof oder Papst). Sie akzeptiert regelmäßige externe Visitationen als Korrektiv und setzt die dort veranlassten Maßnahmen um. Alle Regeln, Auflagen, Abläufe, Anforderungen… sind in einer guten geistlichen Gemeinschaft allen Mitgliedern bekannt und werden auch allen Interessierten vor deren Eintritt zugänglich gemacht.
Insbesondere schafft sich jede gute geistliche Gemeinschaft transparente Regeln, wie Entscheidungen getroffen und Leitung ausgeübt wird. Mitglieder und (geistliche) Leitung stehen immer, trotz der unterschiedlichen Funktionen und Verantwortungen, miteinander auf Augenhöhe vor dem Geheimnis Gottes, ohne dass in irgendeiner Weise suggeriert wird, dass der Wille der Leitung unmittelbar und unhinterfragbar dem Willen Gottes entspricht. Kritik an der Leitung ist in guten Gemeinschaften immer möglich, wird als normal angesehen und positiv aufgegriffen, um so bessere Lösungen für alle zu finden.
Nie werden Entscheidungen, die alle binden, einsam von einer einzigen Leitungsperson oder nur im Gespräch mit einem ihr vertrauten, aber informellen „inneren Zirkel“ getroffen. Eine qualifizierte Mitwirkung aller Mitglieder zum Beispiel durch ein regelmäßig stattfindendes Gemeinschaftskapitel gehört zu den Mindeststandards geistlicher Gemeinschaft und ist auch vom Ordensrecht vorgeschrieben. Weiter gehört es zu den unerlässlichen Mindeststandards, dass die Leitung in geheimer Wahl bestimmt wird, sie regelmäßig öffentlich Rechenschaft ablegen muss und in ihrer Funktion zeitlich begrenzt ist. Zudem ist immer die Leitung und Verantwortung (forum externum) strikt von der seelsorgerlichen Begleitung und spirituellen Anleitung (forum internum) der Mitglieder getrennt. Niemals können beide Funktionen zeitgleich von einer Person wahrgenommen werden.
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Sicherungen gegen Machtmissbrauch
Auf diese Weise schaffen sich gute geistliche Gemeinschaften Verfahren, die jegliche Form des Machtmissbrauchs (geistlich, emotional, finanziell, sexuell…) möglichst verhindern oder wenigstens rasch sicht- und korrigierbar machen. Jedes Mitglied hat deshalb Kenntnis, wo er oder sie sich intern und extern beschweren kann, wenn etwas vorfällt, was als ungerecht, nicht mit den Statuten vereinbar oder übergriffig erlebt wird. Die entsprechenden Stellen nehmen jede Beschwerde ernst und gehen ihr nach. Als zusätzliche Sicherheit haben verantwortlich handelnde Gemeinschaften die Vorgaben der Rahmenordnung für die Prävention der Deutschen Bischofskonferenz umgesetzt, ein institutionelles Schutzkonzept entwickelt und unabhängige Ombudspersonen benannt. Keine gute geistliche Gemeinschaft lässt es zu, dass in ihr „Inseln der Macht“ entstehen, auf denen sich einzelne Mitglieder oder Leitungspersonen jeglicher Kritik und Korrektur entziehen können.
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Finanzen
Da es in vielen geistlichen Gemeinschaften gemeinsame Finanzen bis hin zur Gütergemeinschaft gibt, erfordert dieser Bereich besondere Aufmerksamkeit. In guten geistlichen Gemeinschaften werden schon vor dem Eintritt alle Interessierten detailliert über die finanziellen Konsequenzen eines Beitritts informiert. Wo Gütergemeinschaft vereinbart ist, sorgen gute Gemeinschaften dafür, dass alle Mitglieder ohne wirtschaftliche Not leben können, sozialversichert oder über das Solidarwerk der Orden auch für Alter und Pflegebedürftigkeit abgesichert sind. Sie überlassen diese Absicherung nicht der „Vorsehung“ oder einer unkalkulierbaren positiven Mitgliederentwicklung, sondern schaffen entsprechende Rücklagen bzw. gehen Versicherungsverträge ein. Auch sorgen sie dafür, dass Mitglieder, die die Gemeinschaft verlassen, für eine Übergangszeit ausreichend finanziell ausgestattet werden können und auch eine entsprechende Nachversicherung für die Altersvorsorge möglich ist.
Zu den finanziellen Gepflogenheiten guter geistlicher Gemeinschaften gehört auch, dass alle Mitglieder verlässlich über einen angemessenen Betrag verfügen, um frei und ohne Kontrolle durch eine Person der Leitung über einige private Bedürfnisse entscheiden zu können.
In guten geistlichen Gemeinschaften ist die finanzielle Situation nicht geheim, sondern allen Mitglieder zumindest in groben Zügen bekannt. Auch lassen die Gemeinschaften ihre Rechnungslegung extern prüfen.
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Freiheit
Geistliche Gemeinschaft basiert immer auf Freiwilligkeit. Schon ein Beitritt unter Zwang, Verführung, Nötigung oder in sonst einer Situation in der die freie Willensäußerung eingeschränkt ist, ist ungültig. Auch weiterhin ist die freie Zustimmung jedes Mitglieds zu jeder Maßnahme, die es persönlich betrifft, zu jedem Zeitpunkt entscheidend. Gleiches gilt auch, wenn ein Mitglied die Gemeinschaft verlassen will. Seiner/ihrer freien Willensäußerung dürfen keine Steine in den Weg gelegt werden.
Mehr noch, gute Gemeinschaften setzen Freiheit und Freiwilligkeit einerseits voraus und fördern andererseits alle Mitglieder beständig darin, mehr Freiheit und Mündigkeit für sich zu gewinnen. Nichts – keine Regel, keine Gewohnheit, kein Leitungshandeln, keine spirituelle Praxis oder theologische Deutung – schränkt in einer guten geistlichen Gemeinschaft die gottgegebene Freiheit jeder Christin und jedes Christen über den gegenseitigen Respekt und den Schutz der Freiheit der anderen hinaus ein.