Seit einige Jahren fragen Menschen nach dem Fachdienst Geistliche Begleitung, die andere Fragen mitbringen als bisher: Menschen ohne kirchliche Sozialisation und junge Menschen, die nach ihrer Berufung suchen. Beide Personengruppen erfordern ein erweitertes Interventionsspektrum und neue Kompetenzen von den Begleiter*innen.

Jenseits von „Ich bin nur mit“ – Geistliche Begleitung vor neuen Herausforderungen

Text: Peter Hundertmark – Photo: m_n_r/pixabay.com

„Ich bin nur mit“ – dieser Satz und die dazugehörige Geschichte von P. Willi Lambert SJ stehen seit fast dreißig Jahren stilbildend über dem Fachdienst der Geistlichen Begleitung in Deutschland. Gemeint ist, dass der*die geistliche Begleiter*in nicht selbst Themen setzt, die Rollenverteilung respektiert und sich selbst nicht zum Thema macht, keine Ratschläge gibt, den*die Gesprächspartner*in nicht nach eigenen Maßstäben leitet und ihre Gottsuche nicht manipuliert. So weit, so selbstverständlich. Der Fachdienst der Geistliche Begleitung ist keine Seelenführung. Eine freilassende Arbeitsbeziehung, geleitet von ethischen Prinzipien wie sie die Rahmenordnung der Deutschen Bischofskonferenz festgelegt hat, ist und bleibt in jeder Phase der Geistlichen Begleitung die nicht verhandelbare Basis.

Allerdings haben sich die Rahmenbedingungen der Geistlichen Begleitung verändert, seit dieser Leitsatz geprägt wurde. Im Blick waren damals Menschen in der Lebensmitte oder älter, die auf eine kirchliche Sozialisation und Einbindung zurückgreifen konnten. Eine gewisse Kenntnis der Heiligen Schrift, Erfahrungen mit Gebet und eine Sehnsucht nach persönlicher Gottesbeziehung wurden vorausgesetzt und konnten vorausgesetzt werden. Die Begleiteten hatten damit zumindest einige geistliche „Werkzeuge“ zur Verfügung, um ihr Leben aus dem Glauben zu deuten. Begleitet wurden zudem – auch in Einzelexerzitien – vor allem Prozesse der geistlichen Biographiearbeit. Für die eigene Biographie ist natürlich nur die Person selbst kompetent. Geistliche Begleitung ist dann primär aktives Hören, geprägt von den Prinzipien der humanistischen Psychologie – ein geschützter „Echoraum“, der hilft, die Regungen und Bewegungen der Seele wahrzunehmen, zu ordnen und zu unterscheiden. Bei Bedarf unterstützen die Begleiter*innen die Selbstwerdung zusätzlich durch biblische Texte, die die großen Verheißungen des Glaubens anklingen lassen und mit den biographischen Themen korreliert werden können.

Diese Form der Begleitung ist bis heute und wohl auch in mittelfristiger Zukunft das Hauptgeschäft der Geistlichen Begleiter*innen. Aber in der Ausschließlichkeit ihres Zugangs eignet sie sich nicht in gleicher Weise für Menschen ohne Glaubenssozialisation oder für junge Menschen, die erst beginnen, sich eine eigene Biographie zu erschaffen, und die vor allem Fragen nach Nachfolge, Berufung und Sendung in sich tragen. Während also die Grundprinzipien und die Qualität der Geistlichen Begleitung gleich bleiben müssen, muss die Vorgehensweise der jeweiligen Situation und Gottsuche angepasst werden. Damit findet sich die Geistliche Begleitung ganz in der Tradition der ignatianischen Vorgehensweise. Im Exerzitienbuch fordert Ignatius immer wieder, dass die Übungen und ihre Abfolge der Situation der Übenden anzupassen ist. Der persönliche Prozess der gottsuchenden Menschen führt die Begleitung, nicht eine Theorie und schon gar nicht der*die Begleiter*in.

Glaubensinitiation begleiten

Menschen, die keine oder nur geringe Kenntnisse über Glaube, Bibel, Gebet, tradierte christliche Gottesvorstellungen… mitbringen, benötigen eine Einführung. Im Exerzitienbuch führt Ignatius deshalb neben den beiden Formen der „großen“ Exerzitien in den Anmerkungen 19 und 20, in der Anmerkung 18 die sogenannten „leichten“ Übungen ein. Dort findet sich zum einen eine sehr zeitbedingte Zusammenstellung katechetischer Inhalte – Gebote, Hauptsünden, Werke der Barmherzigkeit…, zum anderen eine erste Einführung in das geistliche Üben – Tagesrückblick, Beichte, Kommunion, halbstündige tägliche Meditation… In gleicher Weise sind auch heute für die Begleitung von Menschen, die keine oder wenig Einführung in den christlichen Glauben mitbringen, zwei wichtige Dimensionen zu unterscheiden: ein katechetischer Anteil und eine Hinführung Gebet und initiatischen Erfahrungen.

Da die ignatianische Vorgehensweise, die in weiten Teilen dem Fachdienst Geistliche Begleitung zugrunde liegt, eine Spiritualität ist, die sich zentral aus der Betrachtung der Heiligen Schrift speist, brauchen Menschen, die auf diese Weise in ein geistliches Leben hineinwachsen wollen, unerlässlich eine gewisse Kenntnis der Bibel. Wer also nicht durch den Gottesdienstbesuch viele Stellen des Alten und Neuen Testaments „im Ohr“ hat, muss sich aufmachen, die Schrift kennen zu lernen. Da aber die Bibel als historisches Dokument für heutige Menschen hinter „einem garstig breiten Graben“ anderer Kultur, Sprache und Lebenswelt liegt, müssen dem, der beginnt die Schrift zu lesen, grundlegende Prinzipien der Hermeneutik und Exegese erklärt werden: Welchen Unterschied machen die verschiedenen literarischen Formen? Welche Traditionslinien finden sich in der Schrift? Wie ist die „symphonische“ Wirklichkeit der verschiedenen, einander sogar teilweise widersprechenden Bücher aufzufassen? Welche historischen und kulturellen Kenntnisse müssen einbezogen werden? Dann aber auch: Wie kann ich mir selbst einen Text erschließen? Welche Betrachtungs- und Meditationsformen sind welcher Textgattung angemessen? Wie kann ich eine Passage der Heiligen Schrift mit meinem Leben in Beziehung setzen? Was geschieht bei biblischen Betrachtungen? Was bewirkt die Heilige Schrift in meinem Leben?

Die Herausforderung für die Begleiter*innen ist, dass diese Kenntnisse nicht im Sinne eines Bibel-Seminars oder eines theologischen Kurses eingeführt werden können. Vielmehr sind sie anlassbezogen, ausgehend von einer konkreten Fragestellung und geleitet vom persönlichen Such- und Klärungsprozess der Begleiteten einzuführen. Der*die Begleiter*in kann sich also nicht spezifisch vorbereiten. Er*sie ist vielmehr darauf angewiesen, wesentliche Kenntnisse immer latent zur Verfügung zu haben. Deren Elementarisierung und situationsbezogene Erschließung ist eigens zu üben – ein Ausbildungsschritt, der die bisherigen Kurse für Geistliche Begleitung unbedingt ergänzen muss.

Gleiches gilt für Inhalte des Glaubens und des geistlichen Lebens, die sich in der Reflexion der biblischen Texte, im gottesdienstlichen Vollzug und in den spirituellen Traditionen herausgebildet haben. Dabei kommt für Christ*innen der Person Jesu eine zentrale Bedeutung zu. Die Geheimnisse seines Lebens leiten die Gottsuche der Christ*innen und sollen sie in ihrer Existenz prägen. Christ*innen stehen vor der Herausforderung die eigene Taufe durch ein Leben in der Nachfolge Jesu zu aktualisieren. Durch die Betrachtung und existentielle Aneignung von Leben, Sterben und Auferstehen Jesu können sie in der gleichen Weise zu Jünger*innen Jesu werden, wie die Menschen, die damals mit ihm in Galiläa unterwegs waren. Mit ihnen werden die Glaubenden auch zu Zeug*innen der Auferstehung und zu „Gesandten an Christi statt“. Diese große Verheißung kann uns muss geistliche Begleitung mit den katechetischen Elementen verbinden. Noch einmal: Es geht nicht um Wissen, sondern um einen informierten Einübungs- und geistlichen Reifungsweg.

Auch die weiterführenden Glaubensthemen sind jeweils ausgehend von einer konkreten Situation, die zu bewältigen und zu deuten ist, mit Blick auf die unmittelbare Relevanz aufzubereiten. Ähnlich wie bei den biblischen Kenntnissen setzt dies eine gewisse Fähigkeit der Begleiter*innen voraus, Glaubensinhalte kreativ und situativ darzulegen.  Wenn sie solche inhaltlichen Informationen zur Verfügung stellen, handeln die Begleiter*innen dabei immer religions- und spiritualitätsproduktiv – und eben nicht theologiereproduktiv. Sie stellen einen geistlich-inhaltlichen Deutungsraum zur Verfügung, lassen aber dann, ganz in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Geistlichen Begleitung, den*die Gesprächspartner*in selbst darin Erfahrungen machen und ihre Deutungen erarbeiten. Es entsteht auf diese Weise eine unmittelbare, je neue Glaubenssituation mit existentiell-initiatischer Bedeutung für die Begleiteten.

Ziel aller Interventionen im Fachdienst Geistliche Begleitung ist nie die Information. Diese ist ausschließlich das Mittel, um die existentiellen Herausforderungen im Kontext des christlichen Glaubens zu reflektieren und in eine persönliche Gottesbeziehung hinein zu wachsen. Es geht nicht um Einführung in ein Theorie-Gebäude, sondern um eine Initiation in eine Begegnung.

Da diese katechetischen Anteile den klassischen „Vertrag“ der Geistlichen Begleitung überschreiten, ist jedoch jeweils im Gespräch zu markieren, wann der*die Begleiter*in die Rolle wechselt und für einige Minuten nicht begleitet, sondern Informationen zur Verfügung stellt. Auch das Ende dieser „Episode“ ist festzustellen. Im weiteren Verlauf der Begleitung zeigt sich dann, ob die Informationen eine vertiefte initiatische Erfahrung ermöglicht haben oder ob sie „totes“ Wissen geblieben sind.

Neben den katechetischen Inhalten gehört zu „leichten Übungen“ – zu jeder Einführung und basalen Unterstützung im geistlichen Leben – immer auch die Hinführung zu den Vollzügen des Glaubens. Grundgebete, vertiefende Gebetsformen und Weisen der Schriftbetrachtung, Gottesdienst, Sakramente, Meditation und Kontemplation sind zu erschließen und dem*der Gottsuchenden an die Hand zu geben. Geistliche Begleitung führt in diese Vollzüge ein, reflektiert dann in einem dialogischen Geschehen zwischen Begleiteter*m und Begleiter*in die Erfahrungen, ordnet sie in die Spiritualitätsgeschichte ein und gibt ihnen Wert, öffnet sie auf eine je größere geistliche Tiefe und Reifung hin. Dabei ist sorgfältig darauf zu achten, dass Begleitete nicht zu früh und ohne ausreichende Basis in Gebetsformen eingeführt werden, die der*die Begleiter*in für sich besonders hoch schätzt – und in der Regel erst nach Jahren des geistlichen Übens für sich erschlossen hat. Umgekehrt ist jede Bewertung einer noch so anfanghaften Glaubenspraxis unbedingt zu unterlassen.

Um im geistlichen Leben je größere Selbstständigkeit erreichen zu können, müssen die Gottsuchenden zudem lernen, auch selbst die „Geister“ zu unterscheiden. Der Fachdienst Geistliche Begleitung mit seinem niederfrequenten Rhythmus der Begleitgespräche kann bei der Unterscheidung nur unterstützen. Jede*r Betende muss deshalb in die Lage versetzt werden, im Alltag und noch spezifischer in jedem Glaubensvollzug die eigenen Regungen und Bewegungen der Seele wahrzunehmen und nach Trost und Misstrost zu unterscheiden. Andernfalls würde er*sie ständig auf innere Produktionen einsteigen, die aus ihm*ihr selbst stammen, Zeitgeist spiegeln und sich nur schwerlich an die biblische Botschaft und die Person Jesu Christi anschließen lassen. Auch wäre er*sie über längere Strecken hinweg immer wieder den Wirkungen des „Feindes der menschlichen Natur“ ausgeliefert. Folgerichtig verlangt Ignatius im Exerzitienbuch, dass den Übenden die Regeln für die Unterscheidung der Geister in die Hand zu geben und ihre Anwendung zu erläutern ist. Erst indem die Geister sorgsam unterschieden werden, werden spirituelle Vollzüge zu initiatischen Erfahrungen, die das geistliche Leben nähren und den Alltag mit seinen Herausforderungen zu gestalten helfen.

Der*diejenige, der*die Menschen geistlich begleitet, die keine oder wenige Vorerfahrungen im geistlichen Leben und geringe Kenntnisse des christlichen Glaubens mitbringen, muss also in der Lage sein, person- und prozessorientiert durch aktives Zuhören zu begleiten, katechetische Inhalte exemplarisch aufzubereiten und situativ einzuführen, und initiatische Prozesse der Glaubensaneignung, der Bekehrung, der persönlichen Berufung und Nachfolge anzustoßen, zu stützen und zu reflektieren.

Berufung begleiten

Ein anderer Kontext, der ein ergänztes Begleitungsverhalten erfordert, ist die Suche – vor allem junger Menschen – nach der eigenen persönlichen Berufung, nach der Gestalt ihres Lebens und ihrer Teilnahme an der Sendung Jesu Christi. Exerzitientheoretisch handelt es sich dabei um Prozesse der „zweiten“ Woche. Diese setzen ein geistliches Fundament in der erfahrenen Zuwendung Gottes voraus. Ein solches Fundament kann gerade bei jungen Menschen, die erst in ein geistliches Leben einsteigen, nicht in jedem Fall vorausgesetzt werden. Geistliche Begleitung wird hierzu deshalb Anregungen geben und geistliche Übungen vorschlagen. Erst wenn ein solides Fundament geistlicher Erfahrung vorliegt, kann der geistliche Reifungsweg – und damit auch die Frage der Berufung – wirklich aus einer Perspektive der „Nachfolge Jesu“ angegangen werden.

Bei jungen Menschen kreuzen sich erfahrungsgemäß Fragen der Berufung mit notwendiger Biographiearbeit. Beide müssen gemeinsam bearbeitet werden. Leitfrage ist aber häufig die künftige Lebensgestalt: Wie kann ich finden, was ganz „mein Ding“ ist? Wozu bin ich berufen? Welche Lebensform passt zu mir? Wie kann ich mitwirken an der Welt und Sendung Gottes für die Menschen? Wie werde ich glücklich? Wie gelingt mein Leben?

Biographisch gehen damit einher die Ablösung von der Herkunftsfamilie, Experimente mit verschiedenen Lebensformen und gegebenenfalls die Partner*innensuche bzw. erste Beziehungserfahrungen.  Im Übergang von einer „familiär-ererbten“ zu einer selbstentworfenen Identität kommen beide Fragestellungen zusammen. Geistliche Begleitung wird deshalb in rascher, häufig wechselnder Folge problemorientierte Seelsorge, Fundamentarbeit, Biographiearbeit und Prozesse der zweiten Woche kombinieren müssen.

Die Frage nach der persönlichen Berufung und den Hoffnungen für ein gelingendes Leben ist dabei konfrontiert mit Erwartungen der Herkunftsfamilie und des Freundeskreises, mit Vorstellungen von einer  gesellschaftliche Normalbiographie, mit dem Streben nach Sicherheit und Status… Erst wenn eine gewisse Freiheit von diesen „ungeordneten Anhänglichkeiten“ gewonnen wurde, kann die Frage nach der selbstentworfenen Zukunft – exerzitientheoretisch gesprochen: der Ruf Christi in eine spezifische Form der Nachfolge – wirklich sach- und persongerecht angegangen werden. Nicht selten ist die Unzufriedenheit mit ersten Versuchen – oft stark beeinflusst von familiären „Aufträgen“ – der Auslöser für die vertiefte Frage nach der persönlichen Berufung. Bevor also die Frage neu gestellt werden kann, muss ein Mehr an innerer – und oft auch an äußerer – Freiheit erarbeitet werden. Sätze wie: „Ich bin zwar aus meiner Familie hervorgegangen, aber meine Familie ist nicht mein Schicksal“, oder „Ich bin in der Welt, um glücklich zu werden und nicht um meine Herkunftsfamilie glücklich zu machen“ – markieren das Ziel, das zum Ausgangspunkt der vertieften Berufungsfrage wird.

Dann öffnen sich andere Fragen: „Wer bin ich? Wer will ich sein? Welche Bedeutung hat für mich dabei mein Glaube an Jesus Christus? Was ist die Verheißung Gottes über meinem Leben? Zu welcher Gestalt meines Lebens beruft mich Gott, weil darin für mich Hoffnung auf gelingendes Leben liegt?“ Die Begleiter*innen müssen dabei immer im Blick behalten, dass jede Perspektive, die wirklich von Gott kommt, sich nach „Evangelium“, nach gelingendem Leben, nach Glück anfühlen muss. Eine scheinbare „Berufung“, die absehbar in Selbstverlust, Überforderung, falsche Hingabe an wen oder was auch immer führt, ist sicher nicht in Gottes Sinn für einen jungen Menschen.

Unnötig zu sagen, dass geistliche Begleiter*innen nie auf die Fragen antworten dürfen. Ihre Aufgabe ist es, die Fragen offen zu halten und immer wieder aus dem praktischem Blickwinkel auf den größeren Horizont Gottes und seiner Verheißung zu öffnen. Berufung ist ein Geschehen zwischen Gott und Mensch. Kein anderer Mensch darf sich da hinein einmischen.

Ein weiterer Kontext, der die Frage nach der eigenen Zukunft bei jungen Leuten dringlich auf die Tagesordnung setzen kann, ist die „Quarterlife-Crisis“ im Übergang aus Ausbildung und Studium zu einer ersten Berufstätigkeit und die von ihr ausgelösten Selbstzweifel und depressiven Episoden. Hier ist häufig zusätzlich therapeutische Unterstützung erforderlich.

Die geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung ist in diesem Zusammenhang ein weiteres, oft sehr andrängendes Thema des jungen Erwachsenenlebens. Ziel der Geistlichen Begleitung ist in allen biographischen Fragen die je größere Freiheit der Begleiteten, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen und nach den eigenen Wünschen, Fähigkeiten und Träumen zu gestalten.

Bei der persönlichen Berufung geht es nur in wenigen Sonderfällen um kirchliche Berufe oder Stände. Alle Menschen sind gerufen an der Sendung Christi für Erde und Menschen teilzunehmen: in ihrem Beruf, mit ihrem Engagement, mit ihrem Familienstand, in den oft so banalen Herausforderungen des Alltags. Da aber die Verbindung von Berufung und kirchlichen Berufen in vielen Köpfen noch immer sehr eng ist, ist es eine wichtige Aufgabe der Begleiter*innen, diese Verbindung in den Köpfen der jungen Begleiteten aufzulösen. Sie gehört in subtiler Weise auch zu den „ungeordneten Anhänglichkeiten“ und verhindert potentiell, dass die jungen Menschen den an sie gerichteten Ruf in eine für sie passende Lebensgestalt vorurteilsfrei und lebensförderlich aufnehmen können.

Wird die Frage nach der persönliche Berufung im Rahmen eines geistlichen Lebens und der Gottsuche gestellt, dann kommt eine wesentliche Dimension ins Schwingen, wenn der*die Suchende sich durch biblische Imagination mit Jesus „auf den Weg macht“, den Weg der Jüngerinnen und Jünger mit Jesus geistlich nachvollzieht. Der*die Begleiter*in wird also über die Begleitung der jeweils anliegenden Fragen und Herausforderungen aus dem Alltag, ein Einübungsprogramm vorschlagen, das durch eine systematische Anordnung biblischer Betrachtungen dieses Mitgehen mit Jesus und den Jünger*innen ermöglicht. Die Reihung der „Geheimnisse des Lebens Jesu“ wie sie Ignatius von Loyola im Exerzitienbuch vorschlägt hat sich dafür bewährt, da sie einerseits die Person Jesu in neuer Weise zu entdecken einlädt, andererseits verschiedene Formen der Nachfolge und Ausrichtung an Jesus in den Blick rückt.  Eventuell muss dazu die Weise der imaginativen Schriftbetrachtung eingeführt und vielleicht auch einmal exemplarisch angeleitet werden.

Für dieses Einübungsprogramm ist der „Vertrag“ der geistlichen Begleitung explizit zu erweitern. Faktisch handelt es sich dann um eine zeitlich in den Alltag gestreckte „Exerzitienbegleitung“, die voraussichtlich ein oder vielleicht sogar mehrere Jahre in Anspruch nehmen wird. In diesem Kontext macht es deshalb auch besonders viel Sinn, wenn der*die Begleitete einmal bei ihrer Geistlichen Begleitung selbst Einzelexerzitien – als Kursexerzitien oder als Exerzitien nach Anmerkung 19 („Exerzitien à la Carte“) macht.

Da in Prozessen der „zweiten Woche“ neue Anforderungen an die Indifferenz der Übenden auftauchen, die über die Fragen der „ungeordneten Anhänglichkeiten“ hinaus weisen, und zudem oft persönliche Charismen sichtbar werden – und nicht selten irritieren – sind weitere Interventionen seitens der Begleiter*innen erforderlich, die über das basale Begleitungshandeln in der geistlichen Biographiearbeit hinausgehen. Folglich sollte der*die Begleiter*in mit den „Regeln für die Unterscheidung der Geister für die zweite Woche“ vertraut sein, vor allem um Versuchungen „unter dem Anschein des Guten“ erspüren und aufdecken zu können.

Nun tritt nämlich neben der Einführung in die Geheimnisse des Lebens Jesu und die Begleitung der persönlichen „Schüler*innenschaft“ des*der Suchenden eine weitere Aufgabe für die geistlichen Begleiter*innen hinzu. Während in der Biographiearbeit Trosterfahrungen fast immer die Richtung zu einem Mehr Leben, Freiheit und Mündigkeit anzeigen und oft relativ unmittelbar mit der entdeckten Verheißung über dem eigenen Leben verbunden werden können, verkompliziert sich die Unterscheidung auf den Wegen der Nachfolge. Nun können Trosterfahrungen auch irreführend sein.  Das ist besonders gefährlich, wenn sie in der Gestalt „frommer und gottgefälliger Werke“ daher kommen. Aber es geht eben nicht darum, dass der*die Suchende sich einem scheinbar „für alle“ verheißungsvollen, frommen, kirchlich bewährten… Lebensentwurf anpasst. Vielmehr ist die eigene, je persönliche Berufung zu entdecken. Gott handelt mit jedem Menschen individuell. Jeder Mensch ist gerufen, die Gestalt seines Lebens unmittelbar mit Christus auszuhandeln – und dann selbst eine Wahl zu treffen.

Für die Begleiter*innen bedeutet das, dem „agere contra“, dem beständigen Warnen vor „Abkürzungen“ und Anpassungen, großen Raum in ihren Interventionen zu geben. „Wenn der*die Begleiter*in sieht, dass der*die Übende getröstet und mit großem Eifer vorangeht, soll er*sie ihn*sie zuvorkommend warnen, irgendeine unbedachte oder verfrühte Entscheidung zu treffen (vgl. EB 14). Immer wieder ist fast schon penetrant, die jeweilige Entwicklung mit den Gegebenheiten des Lebens, mit den Ressourcen und Fähigkeiten des*der Suchenden abzugleichen und die Ausrichtung auf die individuell-persönliche Berufung in ein gelingendes, glückliches Leben wach zu halten. Weil diese Interventionen bremsende Wirkung haben und damit dem Streben des*der Suchenden erstmal im Wege stehen, setzen sie eine stabile, über einige Zeit bewährte und von Vertrauen geprägte Begleitbeziehung voraus.

Hat der*die Suchende jedoch mit einiger Wahrscheinlichkeit eine tragfähige Entscheidung über seine*ihre künftige Lebensgestalt und ihre*sein spezifische Weise der Teilhabe an der Sendung Jesu getroffen, dürfen die Begleiter*innen nicht in der Wachsamkeit nachlassen. Erfahrungsgemäß stellen sich nun relativ rasch und sehr massiv Gegenkräfte ein. Ein erster Umsetzungsversuch scheitert vielleicht. Menschen, die für den*die Suchende wichtig sind, setzen der Entscheidung – vielleicht aus eigener Enttäuschung – Widerstand entgegen. Die innere Sicherheit scheint wie weggeblasen. Aufgabe des*der Begleiter*in ist es nun, den*die Suchende gegen die Gegenkräfte zu stärken und ihr*ihm zu helfen, zur eigenen Berufung zu stehen – natürlich ohne die Möglichkeit eines Irrtums in der Entscheidung ganz auszuschließen.

Bei alledem muss sich der*die Begleiter*in von Berufungswegen wie eine Waage verhalten, also einerseits neutral in der Mitte stehen und nicht eigene Interessen und Ideen in die eine oder andere Waagschale legen. Andererseits ist es ihre Aufgabe aber auch darauf zu achten, dass nicht eine Waagschale durch „ungeordnete Strebungen“ Übergewicht bekommt. Dann ist im Zweifelsfall die andere „Waagschale“, sind die anderen Optionen und Möglichkeiten, die eben gerade aktuell nicht präferiert werden, zu stärken und mit Gewicht auszustatten. Letztlich geht es bei allen Begleiterinterventionen auf dem Weg der Berufung darum, dass Gott direkt mit dem*der Suchenden und der*die Suchende unmittelbar mit Gott sein zukünftiges Leben aushandelt.

Und in diesem, erheblich erweiterten Sinn stimmt der Leitsatz der geistlichen Begleitung dann doch: „Ich bin nur mit“.

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