Mit der Multioptionsgesellschaft pluralisieren sich notwendig auch die Kirchen. Ungewohnte Formen bekommen nun Heimatrecht. In Deutschland geschieht dies vor allem innerhalb der bestehenden Konfessionen. Neue Nähe und neue Fremdheit entsteht. Ein wertschätzender Dialog zwischen liturgischen und intuitiven Stilen wird spannend.
Kreative Spannung
Text: Peter Hundertmark – Photo: Glavo/pixabay.com
Die Anglikanische Kirche lebt seit über hundert Jahren mit der Unterscheidung in und dem Nebeneinander von „High“-Church und „Low“-Church. Seit fünfzehn Jahren kommen nun noch die „Fresh Expressions of Church“ als weitere Kirchenwirklichkeit hinzu. Diese Vielfalt wird in England nicht in institutioneller Trennung, sondern als eine Binnendifferenzierung gelebt. Die Gemeinden und Gemeinschaften unterscheiden sich primär in der Gottesdienstform festmacht, darüber hinaus aber in den pastoralen Schwerpunkten und theologischen Grundhaltungen. Entscheidend ist, dass diese Unterscheidung keine neuen Kirchen schafft. Es ist die eine Kirche von England, die eben verschiedene, sehr verschiedene Ausdruckformen kennt. Dabei gelingt es, dass alle Akteurinnen und Akteure sich (meistens) wechselseitig als rechtgläubig gottsuchend anerkennen und wertschätzen. Die Anglikanische Kirche ist eine große Gemeinschaft mit einer weit gespannten inneren Vielfalt.
In vielen Konfessionen – auch in Deutschland – geschehen gerade Veränderungen, die möglicherweise mit dieser anglikanischen Binnendifferenzierung besser verstanden werden können. Nur ein paar Schlaglichter: In der katholischen Kirche werden Lobpreisgottesdienste populär, Gebetshäuser entstehen, es laufen Versuche mit Fresh Expressions of Church… In den Kirchen der Reformation und in den Freikirchen mehren sich Stimmen, die die regelmäßige Deutsche Messe und auch Tagzeitengebete mehr ins Zentrum rücken wollen. Mit anglikanischem Sprachgebrauch gesagt: die katholische Kirche wird auch „low“, die Kirchen der Reformation integrieren mehr hochkirchliche Elemente.
Allerdings ist eine Vorsicht angebracht: „High“ und „low“ transportieren zumindest für den deutschen Sprachgebrauch eine deutliche Wertung – ein scheinbares Besser und ein Schlechter. Das ist aber nicht gemeint. Es sind erst einmal einfach verschiedene Ausdruckformen von Kirche. Ich möchte deshalb eine andere Begrifflichkeit vorschlagen. Dabei sollen sich die beiden Begriffe nicht als Gegensatzpaar gegenüberstehen und keine Wertung transportieren.
Ausgehend von der Gottesdienstform könnte so zwischen liturgischen und intuitiven Feierformen, zwischen liturgisch geprägten und intuitiv geprägten Gemeinden und Gemeinschaften unterschieden werden. „Intuitiv“ transportiert für mich dabei: spontan, wenig regelmäßige Abläufe, stark an den jetzt anwesenden Personen orientiert, nah am rasch wechselnden Puls der Zeit, mit deutlichem Schwerpunkt auf unmittelbaren Zugang und emotionale Beteiligung. „Liturgisch“ verbindet sich für mich mit folgenden Beschreibungen: ritualisierte Abläufe mit allgemein festgelegten überzeitlichen Regeln, mit einer komplexen Abfolge und mit einem Akzent auf Vermittlung und Disziplin. Liturgisch geprägt Kirchen akzentuieren eher die Tradition und die Kontinuität des Glaubenslebens über die Generationen hinweg. Das ist natürlich zu holzschnittartig und kann nur als erster Hinweis verstanden werden.
Zu einem liturgischen Stil von Kirche würde ich auch kontemplative Übungen aus dem Zen oder dem Herzensgebet rechnen, Taizé-Gottesdienste, Andachten, Litaneien, Tagzeiten, Lectio Divina, die meisten landeskirchlichen Gottesdienst-Agenden, insbesondere die Agenden, die die Feier des Abendmahls integrieren, und die katholischen Gottesdienstformen, die einem offiziellen liturgischen Buch folgen. Der liturgische Stil von Gemeinden beginnt oft mit dem Gottesdienst und sendet die Glaubenden von dort aus in die Mitgestaltung der Welt (Englisch: „service first“). Zum intuitiven Kirchenstil würde ich charismatische Gottesdienst- und Gebetsformen zählen, Ausdrucksformen der Pfingstkirchen, vieler Freikirchen und zum Beispiel auch der Quäker, die Integration von (Impro-)Theater, spontane Beteiligungsmöglichkeiten bei digitalen Gottesdiensten, freies gemeinsames Beten, Gebetsformen der Hauskreise, vielleicht auch von Bibelgruppen und Gruppen von Exerzitien im Alltag. Oft steht in intuitiven Gemeinden und Gemeinschaften das Engagement im Vordergrund und der Gottesdienst kann sinnvoll dazu kommen (Englisch: „serving first“). Und selbstverständlich gibt es eine Menge Übergangsformen und gemischte Stile. Das katholische Nightfever-Projekt zum Beispiel verbindet klassisch liturgische Formen mit einem offenen, ungeplanten Ablauf und sehr differenzierten Beteiligungsmöglichkeiten. Gottesdienste, deren Grundablauf den liturgischen Büchern folgen werden mit intuitiven Elemente angereichert…
Meist werden diese Differenzierungen bisher entlang den konfessionellen Grenzen diskutiert und beschrieben. Nach einem Eindruck verliert die faktisch geschehende Differenzierung und Integration dadurch von ihrer kirchenentwicklerischen Kraft. Nicht die eine Konfession ist so, die andere anders… sondern viele Konfessionen integrieren jetzt – unter den Bedingungen der Postmoderne – Elemente, die kreativ zu ihrem Basis-Stil hinzutreten. Dadurch entstehen quer zu den Konfessionen Erfahrungen von Nähe und innerhalb der Konfessionen Fremdheit. Beide Spannungen könnten jedoch ausgesprochen kreativ wirken.
Beide Stile haben ihre ausgesprochenen Stärken. Im Kontrast aber sind auch die jeweiligen Herausforderungen sichtbarer. Liturgische Formen erschweren vielen Menschen den emotionalen Zugang und die unmittelbare Betroffenheit. Liturgien könnten mehr als bisher oft üblich auch auf persönliche Bekehrung zielen bzw. die spirituellen Kräfte aus der persönlichen Bekehrung integrieren. Intuitive Formen können manchmal durch ihre Verwendung von archetypischen Bildern voraufklärerische Gottes- und Menschenbilder transportieren. Mancherorts würde man sich ein Mehr Unterscheidung der Geister wünschen, die dann den Teilnehmer/innen mehr innere Distanz und eigene Positionierung ermöglicht. Die Frage der praktischen Relevanz des unmittelbar Erlebten könnte mehr in den Mittelpunkt gerückt werden. Beide Stile können voneinander lernen, um sich so zum Wohl der Gottsuchenden weiter zu entwickeln, ohne ihre spezifische Prägung aufzugeben. Ein wohlwollender, hörender Dialog kündigt sich jedenfalls spannend an.
Zentraler scheint mir jedoch die gegenseitige respektvolle Anerkennung als legitime Ausdrucksformen von Kirche – und zwar innerhalb einer Konfession. Menschen können mittels liturgischer und mittels intuitiver geistlicher Ausdrucks- und Vergemeinschaftungsformen Christus nachfolgen und als seine Jüngerinnen und Jünger in die Gesellschaft hinein wirken. Vielleicht passen verschiedene Stile zu verschiedenen Anlässen. Für den einen wird nur Weihnachten, wenn es liturgisch gefeiert wird, für seine alltägliche Gottsuche aber taugt ihm die Wohnzimmeratmosphäre der Kölner Beymeister. Eine andere folgt vielleicht wöchentlich der liturgischen Ordnung, tankt aber in der charismatischen Gebetsgruppe zusätzlich für ihr geistliches Leben auf. Warum nicht Herzensgebet und freies, pfingstlerisches Beten nebeneinander pflegen? Alles was den Menschen dient, sie auf Christus ausrichtet, sie stärkt für ihren christlichen Beitrag in der Welt… „frommt“ auch. Rückzug in eine kirchenstilistische Blase, Vorverurteilungen, Abwertungen, Ausgrenzungen hingegen stabilisieren, scheint mir, die Gottsuchenden oft nur vordergründig und kurzfristig.
Eine wechselseitige Akzeptanz von liturgischen und intuitiven Stilen innerhalb einer Konfession und über die Konfessionen hinweg lässt mich auch von neuen Impulsen für die Ökumene und insbesondere für die schwierigen Ämterfragen träumen.
Im Vordergrund steht aber das Zeugnis für Christus: Vielleicht gelingt es, wenn liturgische und intuitive Stile von Gemeinden und Gemeinschaften nebeneinander und miteinander leben, mehr Zeitgenossinnen und Zeitgenossen das Evangelium greifbar, anschlussfähig und lebensrelevant anzubieten. Die Postmoderne stellt uns vor neue Herausforderungen, das Wort Jesu umzusetzen: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.“ (Joh 17,21). Sie gibt den Christinnen und Christen aber auch eine früher undenkbare Fülle neuer Möglichkeiten an die Hand.