Das Bild, das das Markusevangelium in der Geschichte vom Seesturm von den Jüngern malt, wirkt wie ein Vorab-Echo auf die Situation der Kirche heute. Alle rudern gegen den Sturm an. Dennoch droht das Boot unterzugehen. Markus empfiehlt einen spirituellen Ausweg.

 

Marana tha! Wach auf!

Text: Peter Hundertmark – Photo: Buecherwurm_65/pixabay.com

Am Abend dieses Tages sagteJesus zu ihnen: Wir wollen ans andere Ufer hinüberfahren. Sie schickten die Leute fort und fuhren mit ihm in dem Boot, in dem er saß, weg; einige andere Boote begleiteten ihn. Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm, und die Wellen schlugen in das Boot, so dass es sich mit Wasser zu füllen begann. Er aber lag hinten im Boot auf einem Kissen und schlief. Sie weckten ihn und riefen: Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen? Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind legte sich, und es trat völlige Stille ein. Er sagte zu ihnen: Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben? Da ergriff sie große Furcht, und sie sagten zueinander: Was ist das für ein Mensch, dass ihm sogar der Wind und der See gehorchen? (Mk 4,35-41)

Die Geschichte vom Seesturm ist eine der ganz bekannten Geschichten des Neuen Testamentes. Unzählige Male wurde sie vorgelesen, unzählige Male ausgelegt, unzählige Male gemalt. Der letzte Vers gibt die Tonlage vor: Eine Wundergeschichte, eine Veranschaulichung der besonderen Vollmacht Jesu. Als solche eröffnet sie eine Abfolge von Machtbeweisen Jesu – über die Gewalten der Natur, über die Geister, über Krankheiten und Tod. Soweit, so oft gehört.

Mehr zufällig bin ich über eine Unstimmigkeit gestolpert, die dahinter noch eine zweite Ebene aufmacht. Es gibt in der Geschichte nämlich zwei Wunder. Das erste entdeckt man, wenn man versucht, sich die Erzählung realistisch vorzustellen: Ein Boot in einen heftigen Sturm – so heftig, dass die Jünger, die eigentlich als Fischer Profis sind, nicht mehr klarkommen. Sie wecken Jesus. Dieser steht auf. Er steht auf? Wie steht jemand in so einer Situation in einem Boot auf? Wer einmal versucht hat, im Sturm in einem schwankenden Boot aufzustehen, weiß wie unmittelbar man dabei über Bord geht. Was Jesus da angeblich tut, ist unmöglich. Wenn man es genau nimmt, ist es schon unmöglich, in so einer Situation zu schlafen, egal wie erschöpft man ist.

Der griechische Text benutzt hier ein Wort, das sowohl aufwachen, als auch aufstehen bedeuten kann. Vielleicht kommt die Übertragung „aus dem Schlaf hochschrecken“ oder auch das umgangssprachliche „senkrecht im Bett stehen“ der besonderen Färbung des Wortes nahe. Das Wort steht zudem im Original anders als im Deutschen im Passiv. Jesus wird aus dem Schlaf hochgerissen, wird auf die Füße gestellt. Markus benutzt dazu eine Ableitung eines Allerweltswortes. Allerdings: Die Stammform des Wortes ist auch das im Markusevangelium gebräuchliche Wort für die Auferstehung. Auch in dieser Bedeutung steht es immer im Passiv: Jesus wird auferweckt.

Markus gibt mit seiner Wortwahl einen versteckten Hinweis, wie die Geschichte auch gelesen werden kann. Es ist eine Auferweckungsgeschichte – aber in der Abfolge der Ereignisse vor der Passionserzählung platziert und deshalb ein wenig „verklausuliert“. Auch wird die Auferweckung hier nicht als „historischer“ Bericht, sondern in symbolischer Sprache erzählt.

Damit bekommen sowohl der Schlaf, als auch der Vorwurf Jesu an die Jünger einen anderen, logischeren Kontext. Der Schlaf wird zum Codewort für Tod, Abwesenheit, Unerreichbarkeit. Der Verweis „Habt ihr keinen Glauben?“ irritiert in einer Wundergeschichte, denn das Verhalten der Jünger erklärt sich doch nur durch ihren Glauben an eine besondere Macht Jesu. In einer Auferstehungsgeschichte aber ist er angemessen, hängt doch von dem Glauben, dass Jesus wirklich auferweckt wurde, alles andere ab. Furcht wiederum ist im Markusevangelium die typische Erst-Reaktion der Jünger auf die Auferstehung. Mit dem gleichen hier eingesetzten Wort für „sich fürchten“ schließt später die erste Version des Evangeliums in Mk 16,8. In einer Wundergeschichte würde man an dieser Stelle ein freudiges Erstaunen, eine Begeisterung oder einen zustimmenden Jubel erwarten.

Markus erzählt seiner Gemeinde also mit dem Seesturm eine Auferweckungsgeschichte. Er erzählt diese Geschichte als Stärkung und Trost für ihre Situation. Das Leben Jesu liegt bereits eine Generation zurück. Die Gemeinde sieht sich Anfeindungen ausgesetzt. Die Wiederkunft Jesu verzögert sich. Angst breitet sich aus. „Wasser schwappt ins Boot“. Die junge Gemeinde droht unter zu gehen. Jesus scheint unerreichbar. Er schläft wohl. Vielleicht ist er doch tot? Kümmert es ihn nicht, dass seine Gemeinde zu Grunde geht? Sie mühen sich, Kurs zu halten. Sie rudern nach Leibeskräften. Alle Anstrengung geht ins Überleben. Aber sie erleben nur Gegenwind. Kein Rückenwind von Jesus her. Es gehört nur wenig Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass sich in so einer Situation Zweifel am Glauben ausbreiten. Wahrscheinlich verlassen Menschen enttäuscht die Gemeinde. Auf das falsche Pferd gesetzt, oder näher am Bildwort des Markus: ins falsche Boot gestiegen.

Kein Wunder also, dass diese Geschichte zu einer Lieblingsgeschichte der Christinnen und Christen wurde. So fühlt es sich oft an. So fühlt sich das persönliche Leben oft an. So fühlt sich das geistliche Leben oft an. So fühlt sich das Leben der Kirche oft an. So fühlt es sich heute an. Dann reagieren allen vernünftig und rudern nach Leibeskräften. Viele gehen sogar über ihre Kräfte hinaus, überfordern sich. Alles, damit das Boot nicht untergeht. Und gleichzeitig gehen immer mehr Menschen von Bord. Die „Schlauen“, die begriffen zu haben glauben, dass hier nichts zu holen ist, dass man im falschen Boot saß, dass der Glaube nichts bringt. Die Verbliebenen sehen sich gezwungen, ihre Anstrengungen noch mal zu verdoppeln und sich gegen den Sturm zu stemmen. Der aber wächst sich zu einem Wirbelsturm aus: Gegenwind von allen Seiten.

Markus bietet für so eine Situation eine äußerst ärgerliche Lösung an. Die Hände in den Schoß legen und auf Jesus hoffen. Aus der Perspektive der Ruderer ist das nicht nur verrückt, sondern auch schädlich. Jetzt ist doch nicht der Moment für fromme Reden und langes Beten. Das wird dann gerne auch theologisiert: sich so auf Jesus zu verlassen, sei kindlich-magisches Denken. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Gott wirkt durch die „Zweitursachen“, indem Menschen richtig handeln. Gott zaubert unsere Probleme nicht einfach weg. Das wäre doch ein „Deus ex machina“. Und die historische Erfahrung scheint den Ruderern Recht zu geben, hätte doch der von einer popularisierten Stoa geprägte Quietismus im Frankreich des 17. Jahrhundert beinahe die Kirche verleitet, die geistige Auseinandersetzung mit der Aufklärung und damit sich selbst als zeitrelevant und anschlussfähig aufzugeben.

Aber vielleicht ist Markus gar kein Quietist. Der Text bietet nämlich noch eine weitere subtile Bedeutungsebene. Markus analysiert die Situation seiner Gemeinde, stellt sich Fragen über den Glauben der Glaubenden und kommt zu einem ernüchternden Ergebnis, das er in sein Bildwort versteckt. Jesus schläft. Die Jünger haben ihm ein Kissen bereitet, ihn schlafen gelegt. Er ist ihr verehrter Meister – „Lehrer“ sagt der griechische Text – aber als Landratte versteht er vom Rudern eh nichts. Das machen mal besser die Profis, die gelernten Fischer. Die Gemeinde, die Kirche kümmert sich jetzt mal selbst. Man kann ihn schließlich nicht ständig belästigen.

Holt man die Botschaft aus dem Bild und formuliert sie in harten Worten, dann sagt Markus seiner Gemeinde: Mit eurem Glauben ist es nicht weit her. Ihr verehrt Jesus als fernen Lehrer, so wie eure Zeitgenossen die großen Philosophen und Schriftsteller vergangener Zeiten verehren. Die Erfahrung und der Glaube aber, dass von Jesus wirklich eine Kraft ausgeht, die habt ihr verloren. Ihr habt Angst, statt Glauben. Oder ganz brutal: Ihr glaubt gar nicht. Ihr glaubt nicht, dass Gott wirkt. Ihr glaubt nicht an die Auferweckung. Ihr starrt auf den Lehrer Jesus. Der ist aber tot, am Kreuz ermordet. Ihr steht noch vor dem eigentlichen christlichen Glauben. Ihr seid keine Christen, keine Menschen der Auferweckung.

Seine Gemeinde schläft und Markus bemüht sich nach Kräften, sie wach zu rütteln. Dieses Bedürfnis, die Gemeinde zu wecken, erklärt auch, wie Markus sein Evangelium mit dem Wort „Sie fürchteten sich“ beenden kann. Da steckt ein flammender Appel darin: Glaubt endlich an die Auferweckung. Macht euch auf den Weg, Menschen der Auferweckung zu werden. Das ist Glaube. Nicht die Verehrung Jesu als Lehrer, Vorbild, Prophet, große Gestalt der Geschichte nützt etwas, sondern der Glaube, dass er da ist, lebt, handelt, machtvoll wirkt. Von ihm geht eine Kraft aus, die den Sturm stillt, die Kräfte des Chaos besiegt, Leben möglich macht, Wege bahnt, den Tod überwindet. Weckt endlich den Auferstandenen in eurer Mitte! Markus sagt es seiner Gemeinde. Markus sagt es jeder Gemeinde.

Das klingt dann gar nicht mehr nach „Hände in den Schoß legen“. Es geht vielmehr um kraftvolles Zeugnis, engagiertes Handeln, Einsatz für die nahgekommene Königsherrschaft Gottes. Nicht zufällig schließt die Geschichte vom Seesturm an eine Abfolge von Gleichnissen über das Reich Gottes an. Zuletzt das Gleichnis vom Senfkorn Glauben, das wächst und den Vögeln des Himmels ein Zuhause gibt. Das Markusevangelium erzählt das Bildwort vom Senfkorn Glauben, mit dem die Jünger sogar Berge versetzen, nicht. Den Gedanken transportiert es aber doch. Die nächsten Geschichten in Mk 5 – eine Dämonenaustreibung, eine Heilung und eine Totenerweckung – geben die Richtung vor.

Entscheidend, so Markus, ist nicht das menschlich verständliche Rudern, sondern den Auferweckten und seine Kraft lebendig in der Mitte zu haben: An ihn anzuschließen, von ihm her zu leben, aus seiner Kraft zu handeln. In einem modernen Bild gesagt: den Stecker in die Steckdose zu stecken. Im Auferweckten ist die Kraft Gottes, es ist die Kraft, die das Universum zusammen hält, die Kraft, die den Tod überwindet, die Kraft der unendlichen Liebe. Diese Kraft will fließen. Sie ist erreichbar. Sie ist lebendig, vibrierend, „auf dem Sprung“ da. Man kann sie sich nicht zu eigen machen. Sie nicht manipulieren. Sie nicht verzwecken. Aber es ist möglich, sich von ihr bestimmen, einsetzen, bewegen zu lassen.

Mk 6,4-6 formuliert dann die eine und einzige Bedingung, damit diese Kraft fließen kann. Jesus selbst ist blockiert, weil die Menschen seiner Heimatstadt, die Menschen, die ihn zu kennen meinen, nicht glauben. Wieder rüttelt Markus an seiner „schlafenden“ Gemeinde, an jeder Gemeinde. Ihr, die ihr Jesus zu kennen meint, euch fehlt der Glaube. Wundert euch also nicht, dass er nichts für Euch tun kann. Glaube, Auferweckung, Kraft, Heilung, Leben, Zukunft… sind eins. Gott wirkt. Kehrt um und glaubt. Glaubt an das Evangelium von der Auferweckung. Glaubt an das Evangelium von der todüberwindenden Kraft Gottes. (Mk 1,14)

Aber Markus appelliert nicht nur. Er kennt auch die Wirkung und so schließt die Seesturmgeschichte mit dem Wunder: Es trat völlige Stille ein. Die Gegenkräfte, die das Leben und den Glauben bedrohten, sind besiegt. Die Kraft der Auferweckten ist keine Illusion. Sie verändert das Leben. Sie ist wirklich wirksam. Diese Kraft wirkt, wirkt durch die Glaubenden. Die Glaubenden aller Zeiten kennen diese Wirkung. Tausendfach ist sie in der spirituellen Tradition beschrieben. Auch heute wird sie auf dem Glaubensweg erlebt. Geistlich in die Auferweckung eintreten und die Kraft Gottes erleben, gehören zusammen. „Alles kann, wer glaubt“. (Mk 9,23) Die Glaubenden, die Menschen der Auferweckung sind Licht der Welt und Salz der Erde. Aber sie sind es aus der Kraft des Auferweckten, sie sind es, weil sie an seine Kraft, an sein Wirken anschließen.

Wenn das Salz aber keine Kraft mehr hat (Mk 9,50)? Dann weckt den Auferweckten. Wenn die Gegenkräfte nicht mehr zu meistern sind (Mk 9, 28)? Dann weckt den Auferweckten. Wenn das Rudern nicht mehr hilft? Dann weckt den Auferweckten.

Vielleicht ist es dann wie in der Geschichte vom Seesturm. Die ihn endlich wecken, müssen sich erst einmal was anhören. „Habt ihr keinen Glauben? Vielleicht hatten sie keinen Glauben (mehr). Sie müssen durch ihre Furcht hindurch. Sie müssen die Ruder aus der Hand legen. Sie müssen auf die Illusion, ihr Leben selbst gegen die Kräfte der Vernichtung retten zu können, verzichten. Sie müssen auf Planung und Kontrolle verzichten. Zum Glück aber ist noch das Senfkorn Glauben in ihnen, das genügt, Jesus zu wecken.

So ist die Geschichte vom Seesturm zu Recht eine Lieblingsgeschichte der Christinnen und Christen durch die Jahrhunderte. Sie rüttelt die Ruderer wach. Sie weckt die, die Gottes Kraft vergessen haben. Sie führt vom Noch-nicht-Glauben zum Glauben. Sie lehrt, den lebendigen Jesus in sich zu wecken. Sie schafft die völlige Stille für das Gebet, für die spirituelle Reise, für das Engagement für das Reich Gottes.

Markus erzählt ihn, auch wenn er ihn nicht ausformuliert aufschreibt: den Gebets-Ruf der ersten (und aller) Christinnen und Christen: marana tha! Unser Herr, komm! Wach auf! Komm! Heute! Für heute! Wach auf!

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