Wie verstehen Menschen ihren Glauben? Wie leben sie ihn? Die Erfahrung zeigt, dass sich bei aller Individualität und trotz der gemeinsam geteilten Inhalte ganz verschiedene Stile herausbilden. Eine Hilfe, sich besser zu verstehen – eine Hilfe aber auch für Seelsorger/innen.

Vier typologische Gestalten von Glauben

Beitrag: Peter Hundertmark – Photo: 95516/pixabay.com

Die folgenden Überlegungen sind typologische Vereinfachungen, die natürlich der Komplexität und Differenziertheit der je individuellen Gestalt des Glaubens nicht gerecht werden. Sicher gibt es ebensoviele Zwischenformen, Übergänge und Überlagerungen wie es Christinnen und Christen gibt. Die Typologie soll ausschließlich helfen, Grundgestalten von christlich gelebtem Glauben benennen zu helfen.

Wichtig ist dabei immer im Blick zu behalten, dass die Gestalten nebeneinander stehen, nicht in einer Wertung zueinander gedacht sind, nicht besser oder schlechter sind. Je nach persönlichem Zugang wird jeder/m eine Gestalt näher und die anderen ferner, weniger angemessen, weniger intensiv… erscheinen. Das hat jedoch primär mit der zwangsläufigen Subjektivität des eigenen Zugangs zu tun. Alle vier Gestalten sind gute, angemessene, ausreichende Gestalten von christlichem Glauben. Niemand braucht eine andere Gestalt für sich an zu nehmen, um ganz seinen Glauben zu leben, vollgültig Kirche zu sein und heilig zu werden.

Allerdings werden diese Glaubensgestalten unterschiedlich stark von gesellschaftlichen Plausibilitäten gestützt. Unter den Bedingungen der Postmoderne werden die ersten beiden Gestalten eher kritisch gesehen, die beiden anderen jedoch favorisiert. Das war nicht immer so und kann sich auch wieder ändern, wenn andere gesellschaftliche Rahmenbedingungen und philosophisch-politische Zeitströmungen nach vorne drängen und die „Normalitätserwartungen“ bestimmen.

 

Glaubensgestalt „Horizont“

Für Menschen, für die diese Gestalt des Glaubens im Mittelpunkt steht, ist der Glaube zuerst der Bezugsrahmen, eben der Horizont, innerhalb dessen sich das Leben abspielt. Sie bringen ihr alltägliches Verhalten, ihre Handlungen, ihr Engagement mit diesem Horizont des Glaubens kreativ in Verbindung. Das Leben wird vom Horizont her gedeutet, von einzelnen Elementen des Glaubenshorizontes her kritisiert… Der Glaube gibt Werte, Best-Practise-Beispiele, Modelle gelingenden Lebens vor.

 

Die Beziehung zwischen Leben und Glauben ist in dieser Glaubensgestalt korrelativ strukturiert. Typisch für diesen Zugang ist, dass eigentlich alles gute Handeln auch ohne Glaube in gleicher Weise sachgerecht und ethisch richtig ist, andere Menschen also genauso handeln oder handeln würden. Der Unterschied liegt in der Deutung und Einbindung. Für Arme einzutreten ist in jedem Fall richtig. Dieses richtige Handeln bekommt jedoch noch ein mehr an Bedeutung, wenn es im Horizont der Optionen Jesu Christi und seiner Kirche ansiedelt wird. Gutes, ethisch richtiges Handeln ist in dieser Gestalt Ausdruck meines Glaubens.

Diese Glaubensgestalt ist sehr handlungsorientiert. Nicht innerliche Vertiefung, Gebet, biblische Reflexionen…  gelten als primärer Ausdruck des Glaubens, sondern das Engagement für das Reich Gottes, für die Humanisierung der Welt, für eine lebenswerte Zukunft der Schöpfung.  Der Bezug geht wesentlich auf die zentralen Aussagen des Neuen Testamentes. Besonders wertgeschätzt werden Texte, Erzählungen, Worte, aus denen sich eine Handlungsorientierung gewinnen lässt: die Bergpredigt, die Berichte über die Urkirche. Texte, die eher über Gott selbst reflektieren, die Geheimnisse des Lebens Jesu, eucharistiegründende Texte… stehen weniger im Mittelpunkt. Ihre Kenntnis wird aber vorausgesetzt.

Ansätze der Sozialpastoral, der Jugendarbeit, des diakonischen und politischen Handelns der Kirche, aber auch die Korrelationsdidaktik sind Beispiele für diese Gestalt gelebten Glaubens. Die Horizont-Gestalt des Glaubens verbindet sich fast ausschließlich mit einer gelungenen Glaubenssozialisation. Die zentralen Glaubensinhalte und eine weithin bruchlose Einbindung in kirchliche Abläufe werden vorausgesetzt und nur ihre „Anwendung“ auf die praktischen Handlungsherausforderungen wird diskutiert.

 

Glaubensgestalt „Ordnung“

In dieser Gestalt ist Glaube das, was dem Leben Struktur, Orientierung und Halt gibt. Der Glaube gibt dem Leben Sinn und Form. Er wird mittels eines komplexen Geflechts von Verhaltensweisen in den alltäglichen Tagesablauf integriert. Er ist selbstverständlicher Bestandteil der Selbst- und Weltwahrnehmung. Glaubenswissen ist von großer Bedeutung. Kirche ist ein wichtiger, eigener Lebensbereich, mit dem intensiv mitgefühlt und mitgelebt wird.

Die Glaubensgestalt Ordnung ist massiv von der Frage nach dem „richtig“ geprägt. Wird richtig gebetet, wird richtig im Sinne der liturgischen Normen Gottesdienst gefeiert, wird richtig geglaubt, wird richtig gelebt? Dieser Zugang ist fast zwangsläufig struktur- und wertkonservativ, womit noch nicht gesagt ist, welche Werte und Traditionen bewahrt werden sollen. Das können die Werte des Aufbruchs nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil sein, oder die Kirchengestalt des 19. Jahrhunderts, oder eine rückprojizierte Urkirche… Zentrales Merkmal ist der Vollzug des Glaubens in ritualisierten, wiederkehrenden Formen.

Die Beziehung zwischen Leben und Glauben ist in dieser Glaubensgestalt eher additiv – ora et labora. Zusätzlich zu Beruf, Familie, Engagement… wird der Glaube gelebt, werden Riten vollzogen, Austausch gesucht, Freizeit für die Kirche eingesetzt. Eine große Unruhe verursacht dabei in Menschen, die diese Gestalt überwiegend leben, die Frage, ob und wie Glaube und Leben sich verbinden. Ist der Glaube alltagsrelevant? Wie verändert der Glaube das Leben? Diese Frage sind in dieser Glaubensgestalt nicht oder nur schwer zu beantworten.

Im Mittelpunkt stehen die Feier der Sakramente, die Traditionen und Gewohnheiten der Kirche, die regelmäßige und verlässliche kirchlich-gemeindliche Gemeinschaft: Gebete zu den Mahl- und Tagzeiten, der Jahreskreis und liturgische Festkalender, Riten an den Lebenswenden, praktisches Engagement für die Kirche. Die persönliche Aneignung und Auseinandersetzung gilt als weniger wichtig und nimmt eher theologische Aussagen und kirchliche Optionen in den Fokus. Die Bibel ist selbstverständlicher Bestandteil des Glaubens, aber nicht unbedingt das zentrale Lebens- und Lesebuch.

Klösterliches Leben hat oft eine hohe Affinität zu dieser Gestalt des Glaubens. Auch der Stil der meisten Pfarrgemeinden ist stark von der Ordnungsgestalt des Glaubens geprägt. Bischöfliche und päpstliche Schreiben atmen oft den Geist dieser Glaubensgestalt. Sie zieht auch den weitaus größten Anteil medialer Aufmerksamkeit auf sich. Diese Gestalt des Glaubens spricht sowohl Menschen an, die einen Sozialisationsweg gegangen sind, als auch Initiierte, die erst als Erwachsene zum Glauben kamen. Letztere müssen jedoch wegen der bleibenden Fremdheit sehr viel Energie in die Ordnung investieren. Ordnung wird dann zwar gesucht, aber sie wächst nicht organisch aus dem Lebensvollzug heraus, sondern muss je neu aktiv hergestellt werden.

 

Glaubensgestalt „Beziehung“

Im Mittelpunkt dieser Gestalt steht die persönliche Gottes-, oft die persönliche Christusbeziehung. Alles andere, was Glaube ausmacht, wird diesem Beziehungsgeschehen nachgeordnet bzw. als Ausdruck dieser Beziehung verstanden. Kirche wird analog als Raum und Netz von Beziehungen verstanden. Die dialogisch-kommunikative Vergewisserung über den Glauben ist von zentraler Bedeutung.

Die Beziehung zwischen Leben und Glauben ist in dieser Glaubensgestalt kommunikativ strukturiert. Gottesbeziehung und Leben werden in eine Beziehung miteinander gesetzt, in der sie sich ständig gegenseitig befragen, fördern und korrigieren. Persönliche Bindung ist der Hauptfokus. Persönliche ganzheitliche Reifung aus Glaube und Leben ist ein wichtiges Anliegen. Glaube wird stark affektiv-emotional und als (Such-)Prozess gelebt. Erfahrung, insbesondere Gotteserfahrung, ist die zentrale Kategorie, die den Prozess am Leben hält.

Gesucht werden (spirituelle) Erfahrungen, das persönliche Beten, geistliches Üben, der Anschluss an die Geheimnisse des Lebens Jesu, die Auseinandersetzung mit der eigenen Berufung. Das Leben wird als immer bewussterer Weg mit Jesus Christus, im Kontakt mit ihm, von ihm geleitet, erhofft und eingeübt. Vor allem die Evangelien sind „täglich Brot“ des Glaubens. Die Geheimnisse des Lebens Jesu entfalten ihre volle Kraft. Theologische Auseinandersetzung und Aneignung, praktisches Engagement für die Kirche, Riten… treten hinter Erfahrung, Gebet und das Betrachten der Evangelien in der Bedeutung zurück. Gesuchtes Kriterium des Verhaltens ist die Christus-Beziehung: Passt mein Leben zu meiner Beziehung zu Gott, so wie ich sie jetzt erlebe? Lokale und kirchliche Traditionen, Ortsbindung, eine konkrete Gemeinde, der Jahreskreis, vorgegebene Gebetsformen, Gottesdienst… treten oft hinzu, sind aber nicht die eigentlich konstitutiven Elemente dieser Glaubensgestalt.

Manche Kirchliche Bewegung verkörpert diese Gestalt. (Einzel-)Exerzitien und geistliche Begleitung stützen sie. Hauskreise und Glaubensgesprächskreise, kleine christliche Gemeinschaften… sind oft von dieser Gestalt des Glaubens geprägt. Diese Glaubensgestalt setzt notwendig das Durchleben initiatischer Prozesse voraus. Sie spricht deshalb Menschen an, die entweder zusätzlich zu ihrer Sozialisation in den Glauben, Wege spiritueller Initiation gegangen sind, oder Menschen, die über Bekehrungsprozesse direkt aus einem Nicht-Glauben in diese Glaubensgestalt hineingefunden haben.

 

Glaubensgestalt „Innigkeit“

Glaube ist in dieser Gestalt primär mystisches Gottesgeschehen im Einzelnen, in der „Seele“, in der Existenzmitte. Die Inkarnation „geschieht“ analog und abgeleitet in jedem Christen. Das individuelle Leben in seinen Höhen und Tiefen und in seiner Alltäglichkeit ist Ausdruck des großen Dramas der Heilsgeschichte. Glaube wird zentral als Überstieg, als Transparenz der Lebensgestalt auf Transzendenz, als erfahrene Nicht-Erfahrung gelebt.

Die Beziehung zwischen Leben und Glauben ist in dieser Glaubensgestalt integrativ. Dabei wird die immer größere Integration des Lebens in den Glauben angestrebt. Vervollkommnung ist ein zentrales Stichwort. Heiligung, persönliche Heiligkeit, Innewerden der Christusgestalt… sind ähnliche Beschreibungen. Manchmal wird das ganze Leben als Vorbereitung für den Moment der Einung verstanden. Diszipliniertes Üben über lange Zeit hin ist der zentrale Vollzug dieser Glaubensgestalt. Zugang zu dieser Glaubensgestalt finden Menschen über die verschiedenen Meditations- und Kontemplationsschulen, manchmal auch über den „Umweg“ einer langen Zen- oder Yoga-Praxis, seltener über Schriften der Mystikerinnen und Mystiker. Oft entwickelt sich diese Glaubensgestalt aus der Beziehungs-Gestalt heraus und wird quasi als Fortsetzung, besser als der innere Kern der Beziehung gelebt.

Konkrete Glaubensinhalte, aber auch existentielle Lebensvollzüge treten dahinter zurück. Kirche, Tradition, Gemeinschaft, Theologie und Bibel werden als „Wegweiser“ und „Sprungbretter“ verstanden und wertgeschätzt. Das Eigentliche dieser Gestalt des Glaubens überschreitet sie im Erleben jedoch. Auf diesem Weg wächst dann ein Glaubensbewusstsein, das große Nähe zu mystischen Wegen anderer Religionen aufweist. Die Fragen nach der Rückbindung an Jesus Christus, an sein Leben und Lebensschicksal und nach der Einbindung in die Kirche als sichtbare Gestalt der Nachfolgegemeinschaft sind notwendige Kriterien.

Diese Gestalt des Glaubens bildet kaum gemeinschaftliche Vollzüge aus. Es ist  der Weg der Mystiker und Kontemplativen – auffindbar am ehesten in oft erst posthum veröffentlichten Lebenszeugnissen und Erfahrungsberichten. Diese Glaubensgestalt setzt notwendig initiatische Prozesse voraus. Wird sie in einer ausdrücklich christlichen Prägung und Einbindung gelebt, setzt sie zusätzlich in der Regel einen Durchgang und eine erste Verwurzelung in der Beziehungsgestalt des Glaubens voraus. Menschen, deren Glaube überwiegend von Sozialisation geprägt ist, ist diese Glaubensgestalt oft verdächtig.

 

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