Wegloser Dschungel – das ist nicht unsere Situation als Kirche in Deutschland. Ist es noch nicht unsere Situation? Wenn nur ein Prozent der Getauften an der sonntäglichen Eucharistiefeier teilnehmen kann, ist das für das katholische Kirchenverständnis schon eine extreme Situation?

Von Extremen her Kirche neu denken

Text: Peter Hundertmark – Photo: Thomas_Gerlach/pixabay.com

In Zeiten massiver Umbrüche und notwendiger Neuorientierung kann es Sinn machen, einmal von Extremsituationen her zu denken: um den Blick zu weiten, wie Kirche vielleicht noch denkbar wäre – auch weil es irgendwo in der Weltkirche schon mal da war.

Extreme Kirchenerfahrungen

Sucht man nach Extremsituationen des Glaubens, sind an erster Stelle die „verborgenen Christen“ Japans zu nennen. Über 250 Jahre lang (1614 -1873) wurde christlicher Glaube im Untergrund und unter Verfolgung, ohne Priester und Sakramente, ohne Bibeln und ohne jeglichen Kontakt zu anderen Christen lebendig bewahrt. Ähnliche Erfahrungen gab es im 20. Jahrhundert in einigen Ländern des Warschauer Paktes, insbesondere in der Tschechoslowakei und in der Sowjetunion, sowie in Albanien.

Ein weiteres Beispiel ganz ungewohnter Kirchlichkeit, deren Wurzeln aber bis in die apostolische Zeit zurückreichen, ist die ostsyrische (chaldäische oder assyrische) Kirche im Irak und im Iran. Sie war nie Mehrheitskirche, hatte nie eine dominierende Stellung in der Gesellschaft und hat deshalb bis ins 20. Jahrhundert hinein nie territoriale Verwaltungsstrukturen aufgebaut.

Zu nennen sind aber auch die Missionare, die sich seit dem 16. Jahrhundert alleine oder in kleinen Gruppen in unwegsame Gegenden aufmachten, unbekannten Gefahren trotzten, um Volksgruppen, die noch nie Kontakt zu Europäern hatten, den christlichen Glauben zu verkünden. Nicht selten mussten sie dafür über lange Zeit selbst auf Kontakte zu anderen Christinnen und Christen und auf viele Vollzüge, die den Glauben ausdrücken und stützen, verzichten.

Aber auch weniger dramatische und gefährliche christliche Lebensformen unterscheiden sich so radikal vom kirchlich Gewohnten, dass es lohnt sie hier zu aufzuführen: Die Arbeiterpriester des 20. Jahrhunderts, die Gemeinschaft um Madeleine Délbrêl, die Wohnungen der Kleinen Schwestern von Charles de Foucauld, manche modernen Eremit/innen…

Lebensmittel des Glaubens

Äußerlich gibt es keine Gemeinsamkeiten zwischen dem Japan des 18. Jahrhunderts, den Missionaren im Amazonasurwald, den Christ/innen im Sassanidenreich Irans und einem Arbeiterpriester bei Renault in einem Vorort von Paris. Und doch gibt es Grundzüge, die sich wiederholen: Die Christinnen und Christen in allen diesen Situationen sind sehr auf sich selbst gestellt und können kaum oder gar nicht auf stützenden Rahmenbedingungen zurückgreifen. Sie leben ihren Glauben in oder gegen eine erdrückende gesellschaftliche Mehrheit, die anderen Überzeugungen folgt und andere Werte lebt. Sie müssen also den Glauben in sich selbst tragen, in sich selbst eine Stabilität der Gottsuche und Gotteserfahrung entwickeln, die es ihnen erlaubt, als Einzelne oder ganz kleine Gruppen am Bekenntnis des Evangeliums und an der Ausrichtung an Jesus Christus fest zu halten.

Einfache Glaubensformeln, einige zentrale Glaubenssätze (neutestamentliches Beispiel: „Jesus Christus ist der Herr“), Lieder und Grundgebete, die leicht auswendig gelernt werden können… sind sicher eine wesentliche Hilfe, um alleine oder in kleinen, versprengten Gruppen den Glauben zu leben. Ein einfacher, aber täglicher Rhythmus ritualisierten Betens (bekannte Beispiele: Rosenkranz, Angelus-Gebet, Tischgebete, das regelmäßige „Vater unser“ der lutherischen Seelsorgepraxis…), der in jeder Situation unaufwendig, und bei Bedarf auch völlig unauffällig durchgehalten werden kann, ist wahrscheinlich ein wichtiger weiterer Bestandteil. Ignatius von Loyola gibt den ersten Jesuiten- Missionaren um Franz Xaver darüber hinaus den geistlichen Tagesrückblick als spirituelles „Grundnahrungsmittel“ mit auf den Weg. In vielen spirituellen Traditionen hat sich eine möglichst tägliche, persönliche „stille Zeit“ für die innere, betrachtende oder dialogische Ausrichtung auf Gott bewährt.  

Denkt man an die Missionare, zeigt sich, dass eine intensive Vorbereitung durch längere Einübung in die Vollzüge des Glaubens, in Gebet und Schriftlesung, ebenfalls ein wichtige Stütze für unkalkulierbare Extremsituation sein kann. Dabei kommt es jedoch darauf an, dass diese Einübungsphase auf eine persönliche Prägung durch die Nachfolge Jesu hinzielt, Mündigkeit im Glauben und spirituelle Selbstbestimmung anstrebt, die persönliche Berufung und die Charismen in den Vordergrund rückt. Die Einübung muss befähigen, den Glauben ohne äußere Stützen und in völlig fremden, vielleicht feindseligen Situationen zu leben und dort das Evangelium zu bezeugen. Leichter ist es natürlich, wenn diese Prägung in gewissen Abständen zum Beispiel durch Exerzitien, geistlichen Austausch oder Studien aufgefrischt werden kann.

Alle diese Situationen erfordern die Fähigkeit und die Bereitschaft sehr kreativ und in freiem Umgang mit den Traditionen je neu angepasste Lösungen zu suchen. Der Weg des Glaubens und des Zeugnisses für Jesus Christus entsteht – vorher unabsehbar, nicht planbar – aus der vorgefundenen Lebenswelt und im Dialog mit der Kultur, in der man lebt oder in die man hineinkommt.

Gemeinsam ist allen diesen Extremsituationen die Bedeutung des „Hauses“, des eigenen persönlichen, kommunitären oder familiären Nahbereichs, der in vielen Kulturen einen besonderen Schutzraum darstellt. Das ist schon neutestamentlich bezeugt: In den „Häusern“ versammelten sich die ersten Christinnen und Christen und brachen das Brot. Theologisch war die Bedeutung der „Ekklesiola“ – der Hauskirche – seit dem 2. Vatikanischen Konzil wieder da, wenn es auch in Deutschland bisher wenig pastorale Umsetzungen gab. Die besonderen Herausforderungen der Corona-Pandemie haben aber gerade gezeigt, wie dankbar zum Beispiel Anregungen für Hausgottesdienste aufgegriffen werden und wie fruchtbar das gemeinsame Gott-feiern im „Haus“ der Familie sein kann.

In Situationen, in denen der Glaube nicht durch äußere Vollzüge und öffentliche Strukturen gesellschaftlich gestützt wird, „materialisiert“ sich der Glaube vornehmlich im Austausch, in der Begegnung, im Dialog. Freundschaft und Nachbarschaft tragen den Glauben. Beziehungen und Begegnungen sind entscheidend: die persönliche Gottesbeziehung und die Beziehung zu anderen Christinnen und Christen. Wo das möglich ist, tragen aber auch wertschätzende Beziehungen zu den nichtchristlichen Nachbarinnen und Nachbarn wesentlich dazu bei, den Glauben leben zu können. So beschreibt beispielsweise der Erzbischof von Rabbat in Marokko die wenigen Christ/innen im islamischen Umfeld als „Betende unter Betenden“.

Einen besonderen Hinweis geben die Kirchen des Ostens. Sie sind lebendig, weil sie Klöster haben. Klöster und charismatisch besonders begabte, „heilige“ Männer und Frauen – nicht Strukturen, Ämter und Zuständigkeiten –  waren und sind ihr Rückgrat. Solche Hoch- und Rückzugsorte des Glaubens ermöglichen es denen „in der Zerstreuung“, den Glauben lebendig zu halten, indem sie ab und an in dieses „Biotop“ des Glaubens und des Gebetes eintauchen und die Sakramente feiern.

Wo immer es möglich ist, spielt die Bibel eine zentrale Rolle. Die oft abgelegenen dörflichen Gemeinschaften des südlichen Afrika leben ihren Glauben und gestalten ihr Zusammenwirken vom Bibelteilen her. Christinnen und Christen zu allen Zeiten und an allen Orten leben aus den Sakramenten und aus der Heiligen Schrift. Wenn Sakramente aber nicht zugänglich sind, bleiben dennoch oft die Schrift, das Schriftgespräch und das Beten mit der Bibel als Lebensmittel des Glaubens verfügbar.

Postinstitutionelles Christsein

Wenn also absehbar die institutionellen Absicherungen des Glaubens in unserer Gesellschaft schwächer werden, mancherorts auch ganz verschwinden, wenn vielleicht die Präsenz von engagierten Christinnen und Christen in der Bevölkerung auf einstellige Prozentwerte zurückgeht, können diese historischen Erfahrungen wichtige Hinweise für eine Kirche jenseits der Sicherung der eigenen Strukturen geben.

Alles geht dann von dem einzelnen Christen, die einzelne Christin, vielleicht und hoffentlich zusammen mit der Familie oder einem kleinen Netzwerk von Glaubenden, aus. Der/die Einzelne als „Stadt/Dorf-Eremit/in“ (ein Begriff den Prof. Sabine Bobert in die Diskussion eingebracht hat) ist die kleinste Einheit des Glaubens.
Den persönlichen Glauben möglichst vieler Christinnen und Christen  – gegründet in Erfahrung, belebt vom Gebet, gestützt von der Heiligen Schrift, geprägt von der Nachfolge, angeeignet und entschieden – zu fördern, ist dann die vornehmste und vordringlichste Aufgabe der Kirchenentwicklung. Dafür braucht es weiter- oder neuentwickelte einfache Rituale, aber auch Möglichkeiten der intensiven Einübung: Gebetsschulen, Exerzitien, Rückzugsorte… Verfahren, sich die Heilige Schrift zu erschließen und theologische Fähigkeiten zu erwerben, werden ebenfalls vielen Glaubenden dienlich sein.

Als Orte der Begegnung, der gegenseitigen Bestärkung und der gemeinschaftlichen Feier des Glaubens rücken in postinstitutionellen Zeiten das „Haus“ einer christlichen Familie, die örtliche oder thematische „Nachbarschaft“ und die „Zelle“ aus einigen wenigen einander freundschaftlich verbundenen Christ/innen in den Mittelpunkt. Vielleicht lassen diese Kleinformen sich mancherorts auch in Basisgruppen, Kleine Christliche Gemeinschaften oder überschaubaren Orts- und Themengemeinden vernetzen und zusammenführen.
Modelle für Hausgottesdienste, Bibelgespräch, Revision de Vie, gemeinschaftliche Unterscheidung der Geister… mit den Glaubenden einzuüben, aber auch Gründertrainings, Prozessbegleitung, Mediation und Supervision zur Verfügung zu stellen, ist es dringend geboten.
Soll eine lokale Vernetzung eine Chance haben, braucht es zudem Personen, die die verschiedenen Stadt/Dorf-Eremit/innen, die christlichen Häuser, Zellen und Nachbarschaften im Blick behalten, immer wieder einmal zusammen bringen und nach Möglichkeit mit der größeren Kirche verbinden. Diesen Koordinator/innen muss durch die bischöfliche Ortskirche geistliche Formation, praktische Ausbildung und verlässliche Unterstützung ermöglicht werden.

Unterstützt werden können die einzelnen Stadt/Dorf-Eremit/innen, die christlichen Häuser, die kleinen Zellen und Nachbarschaften durch Teams von seelsorgerlich und theologisch ausgebildeten, reisenden „apostolischen Teams“. Das werden auf absehbare Zeit wahrscheinlich vor allem Hauptberufliche sein, aber auch ein ehrenamtliches Engagement ist überhaupt nicht ausgeschlossen. Diese apostolischen Teams sollten nicht an einen Ort oder einen Zuständigkeitsbereich gebunden sein, sondern eigenverantwortlich und flexibel unterwegs, sich lokal einladen lassen, auf Nachfrage begleiten, schulen, verkündigen, korrigieren, Sakramente feiern…
Die apostolischen Teams sind dann neben den persönlichen Nachbarn, Verwandten und Freunden  – den Häusern, Zellen und Nachbarschaften – wichtige Ansprechpartner/innen für Menschen, die sich neu auf die Suche nach Gott und Glauben machen. Sie machen sich deshalb bei gesellschaftlichen Ereignissen, in Vereinen und kommunalen Zusammenhängen sichtbar und lassen sich überall ansprechen. Sie haben gelernt, Glaubensvollzüge mit Menschen, die (vielleicht noch) am Rand von Kirche stehen bleiben wollen (die Zachäus-Christen, wie T. Halik sie beschreibt) gemeinsam und situativ zu entwickeln. Für die meisten pastoralen Mitarbeiter/innen ist das eine neue und unvertraute Rolle, die durch entsprechende Weiterbildung vorbereitet werden muss.  

Ergänzend macht es Sinn, in einige regionale „Hochorte“ des Glaubens und geistliche Zentren zu investieren, an denen die Glaubenden in die Vollform der Vollzüge von Kirche eintauchen können, wo also regelmäßig alle Sakramente gefeiert werden, eine geistliche Tagesstruktur gelebt wird, theologische und biblische Lernmaterialien und Lernbegleitung zur Verfügung stehen, geistliche Begleitung möglich ist, christliche Kultur, Musik, Kunst… gepflegt werden und so ein Lebensstil eingeübt werden kann, der am Evangelium Maß nimmt. War dies früher Aufgabe der Orden, liegt diese Herausforderung künftig voraussichtlich mehrheitlich in der Hand der Diözesen.

Die vielen großartigen „Orte von Kirche“ (Kindertagesstätten, Schulen, Krankenhäuser, Behinderteneinrichtungen, Beratungsstellen…), die aus der Zeit der starken institutionellen Gestalt von Kirche ererbt sind, könnten hingegen sorgsam, überlegt und verantwortungsbewusst in eine größtmögliche Selbstständigkeit geführt werden. Im Bereich der tätigen Orden gibt es hierfür gute Erfahrungen, wie die „Werke“ in andere Hände gelegt werden können. Durch eine organisatorische Freigabe in die Selbstständigkeit müssten weder die Bedeutung dieser Orte für das kirchliche Leben noch die Vernetzung mit anderen Lebensäußerungen des Glaubens, geschwächt werden. Diese Orte sind authentisch Kirche – und bleiben es, wenn sie sich auch in letzter Konsequenz selbst leiten und verwalten.
Im Umgang der Orden mit ihren Werken hat sich gezeigt, dass der Übergang eher gelingt, wenn den Verantwortlichen und Mitarbeiter/innen Möglichkeiten geschaffen werden, sich mit der christlichen Tradition, der Prägung und dem Leitbild ihrer Institution auseinandersetzen. Gelingt dies, werden sie Wege finden, wie sie diese Prägung in die Zukunft weiter  tragen. Regionale Bildungs- und Beratungsträger, der die christliche Ausrichtung dieser „Orte von Kirche“ fördern, ist auf diesem Weg sicher eine gute Hilfe.

Apostolische Kirche

Institutionen sind notwendigerweise Gebilde mit einer Grenze. Die bisherige starke institutionelle Gestalt von Kirche – auch vor Ort durch die Pfarreien – hatte entsprechend starke Grenzen: ein kaum zu überschätzender Schutz und eine Heimat für die „drinnen“ und nicht selten eine unüberwindliche Hürde für die „draußen“. Dadurch, dass sich auf diese Weise ein „drinnen-draußen“ einstellen musste, entstand so, bei allen Vorteilen, auch eine schwierigen Spannung zum Sendungsauftrag Jesu: „Geht zu allen Völkern, zu allen Menschen…“. Apostolisch zu sein – das griechisch-neutestamentliche Wort für „gesandt sein“ – ist der Wesenskern der Kirche.

„Hingehen“ heißt aber: sich auf die anderen in ihrer Fremdheit einlassen, Schwellen überschreiten, Eigenes hintanstellen, sich selbst im Dialog und offenen Begegnungen riskieren, zulassen, dass jede neue Begegnung auch mich selbst, meinen Glauben und die Gestalt meiner Kirche verändert. „Zu den Völkern hingehen“ heißt immer Inkulturation, heißt sich unter die Bedingungen der Besuchten, der Gastgeber/innen zu stellen und eben nicht als „Raumschiff“ auf dem Marktplatz einer anderen Kultur, eines anderen Milieus, anderer Wertvorstellungen… zu landen“. Hingehen und Demut sind Zwillinge.

Missionstheologisch ist das längst Standard. Dass dem säkularen Europa ebenfalls mit missionarischer Demut zu begegnen ist, ist eine Einsicht, die auch bald 100 Jahre alt ist. Die Sicherung der ererbten und über weite Strecken bewährten starken Institution Kirche in Europa hat diese Einsicht aber nicht selten an den Rand gedrängt. Heimat und Sicherheit hatten oft die Oberhand über Auftrag und Demut. Es ist ein Schmerz, aber ist es nur ein Verlust, wenn diese starke Institution in Krise ist? Kann es Wirken des Geistes Gottes sein?

Es könnte auch eine Chance im Rückgang der institutionellen Gestalt der Kirche liegen. Christinnen und Christen leben doch ganz selbstverständlich in Begegnungen und Beziehungen mit den anderen Menschen ihrer Umwelt, sie teilen deren Anliegen und Erleben, sie sind den gleichen Umständen ausgeliefert, sie greifen auf die gleichen Verstehensmuster zurück. „Freude und Hoffnung, Trauer und Schmerz…“ – der vielzitierte Beginn des Konzilsdokuments bringt es auf den Punkt. Christinnen und Christen leben „in der Welt“: das ist der entscheidende Satz für eine apostolische Kirche. Die Christinnen und Christen müssen nicht erst „zur Welt“ hingehen. Sie sind schon da. Was nicht heißt allerdings nicht unbedingt, dass sie schon bereit und befähigt wären, ihren Glauben mit Demut in einen offenen Dialog einzubringen.
Die bisherigen Versuche, die „Sprachfähigkeit“ der Glaubenden zu stärken, sind meist auf halbem Weg stecken geblieben bzw. an der vermeintlichen Delegation der Aufgabe an die Hauptamtlichen gescheitert. Hier ist dringend zu investieren, wobei der Weg wahrscheinlich eher über die spirituelle Erfahrung hin auf geistliche Mündigkeit und Selbstbestimmung, denn über theologische Trainings führt.

Durch ihre Werte – „nicht von der Welt“, durch ihr praktisches Verhalten, das irgendwie versucht am Evangelium Maß zu nehmen und auch durch ihr Reden und Argumentieren, bezeugen dennoch potentiell alle Christinnen und Christen, dass Gott ist und dass deshalb Eigensinn und Eigennutzen nicht das einzige Lebensziel des Menschen sein müssen. Dass Christsein einen Unterschied macht, war so lange unsichtbar, wie scheinbar alle christlich waren. Das ist vorbei – und damit eine riesige Chance für das Bezeugen des Evangeliums offen. Die Begegnungen, die natürlichen Beziehungen, die Prägung durch den gleichen Alltag mit seinen Mühen…, sind der unkomplizierte Anknüpfungspunkt für das Zeugnis der Hoffnung – oder könnten es jedenfalls sein. Institutionell organisierte Angebote, das haben die letzten Jahrzehnte des Resonanzverlustes mit der Gesellschaft gezeigt, bleiben in ihrer Effektivität dahinter weit zurück, weil sie immer dem Phänomen der Grenze mit ihrem „drinnen-draußen“ ausgeliefert sind.

Wenn der Ansatzpunkt der ungeschützte, ungegrenzte Begegnungsort der Christ/innen mit ihren Nachbarn, Freunden und Verwandten ist, gibt es natürlich keine denkbare Delegation an externe Fachleute und Verantwortungsträger. Auch das ist, obwohl seit mindestens 30 Jahren sonntäglicher Predigtstandard, für viele Christinnen und Christen immer noch ungewohnt und schmerzlich. Das Risiko und die Zumutung, die darin liegen, lassen nicht wenige zurückschrecken. Vielleicht werden aber, wenn die gewohnten Zuständigkeiten der „Fachleute“ schwächer werden, nach und nach mehr Christinnen und Christen bereit sein, sich selbst, ihre „Häuser“, „Zellen“, „Nachbarschaften“… sichtbar zu machen, damit andere Menschen Kontakt aufnehmen und das Zeugnis für Evangelium hören können. Die institutionelle bischöfliche Ortskirche kann durch Begleitung und angemessene Rahmenbedingungen mithelfen, dieses Sich-Zeigen der „Stadt/Dorf-Eremit/innen“, der „Häuser“ und „Zellen“ zu gestalten und die auf diese Weise  „öffentlich“ gewordenen Christinnen und Christen zu stärken.

Wenn es dann gelingt, das Lebenszeugnis der Christinnen und Christen mit dem Arbeitsauftrag der apostolischen Teams zu vernetzen, entsteht eine Kirche, die je neu um Antworten ringen muss, die aber Antwort geben kann und gibt, weil sie gefragt werden wird. Wenn aber die Antwort aus der Frage folgt, wenn das Ritual aus der Situation entsteht, wenn die Hoffnung in der erlebten Not bezeugt wird, sind Inkulturation und Resonanz keine Hürden mehr. Das Reich Gottes ist ja schon mitten unter uns. Niemand muss und niemand kann es herstellen, es irgendwo hin tragen oder verwalten. Es geschieht durch den Geist Gottes, wenn Menschen sich begegnen und das Evangelium aus dieser Begegnung hervorwächst, wenn das Evangelium mitten im Alltag und in der Sprache des Alltags gesagt und gelebt wird.

Diesen Beitrag teilen: