In theologischer Abstraktion gesprochen nährt die Eucharistie die Kirche. Wenn in der Realität der Pandemie oder des Amazonas aber nur ein Prozent der Glaubenden teilnehmen kann, stellen sich auch die theologischen Fragen neu. Wohin weisen jetzt die Zeichen der Zeit?

Kirchenentwicklung und Gottesdienst

Text: Peter Hundertmark – Photo: 189748/Pixabay.com

Kirche wird ihrem Auftrag gerecht, wenn sie in ständiger Resonanz mit den gesellschaftlichen Themen und Entwicklungen steht. Kirche und Welt sind nicht zwei Größen, die äußerlich aufeinander bezogen wären. Kirche ist Teil der Welt und die Bedingungen der Zeit durchdringen und prägen sie, wie schon die Konstitution „Gaudium et Spes“ des 2. Vatikanischen Konzils eindrucksvoll darlegt.

Da sich die Gesellschaft unter den Bedingungen postmoderner Globalisierung, Pluralisierung und Individualisierung rasch verändert, steht auch Kirche in der Herausforderung schneller Veränderungsprozesse, will sie nicht die Resonanz mit der Gesellschaft und damit eine mögliche Bedeutung für die Menschen verlieren. Diese notwendigen Veränderungsprozesse erfassen alle Bereiche von Kirche und natürlich auch ihr gottesdienstliches Leben.

In 2020 ist durch die weltweite Pandemie zusätzlich eine völlig neue Situation für alle – Wirtschaft, Kirchen, Wissenschaft, Politik, Schulen, Familien… entstanden. Auch im Bereich der Gottesdienste hat diese Situation einen Kreativitätsschub ausgelöst. Neue technische Möglichkeiten wurden erkundet, neue Beteiligungsformen geschaffen, die Idee der Hausgottesdienste neu belebt, bewährte Formen wurden neu interpretiert und starke, existentielle Bilder (z.B. Karfreitagsgottesdienst des Papstes) geschaffen. Klar ist aber auch geworden, dass auf längere Zeit der Besuch der sonntäglichen Eucharistiefeier im niedrig einstelligen Prozentbereich liegen muss. Ob sich daran, wenn die Krise einmal überwunden sein wird, noch wieder etwas ändert, ist nicht absehbar.

Neu ins Bewusstsein gerückt ist durch die Krise auch, dass es zwei miteinander verbundene und doch unterscheidbare Dimensionen des Gottesdienstes gibt: die liturgische Feier und die diakonische Zuwendung zu den Notleidenden und dem gemeinsamen Haus Erde. Beides ist im Vollsinn Gottesdienst.

Theologische Vergewisserung

An dieser Stelle können einige trinitätstheologische und biblische Vergewisserungen helfen, die pastorale, diakonische und liturgische Praxis zu orientieren: Gott ist in sich dreifaltige Gemeinschaft und damit selbst offenes Geschehen und engagierte Dynamik. Er hat sich selbst eine eindeutige Sendung für die Menschen und die Erde gegeben. Gott ist entschieden. Diese Sendung ist in Jesus Christus für uns konkret und greifbar geworden. Sein Leben und Handeln ist darum normativ für alle, die zu ihm gehören. Die Sendung Gottes in Jesus Christus zielt auf Erlösung, Versöhnung, umfassenden Frieden, Gerechtigkeit – in einem Wort: auf das Reich Gottes hin. Aber Gott wirkt sein Reich durch Inkarnation, indem sich der Sohn „darunter stellt“ (gehorsam ist) unter den Willen des Vaters, und unter die Bedingungen und in die Ambivalenzen der Welt. Durch die Menschwerdung, den Kreuzestod und die Auferweckung Jesu hat die neue Wirklichkeit des Reiches Gottes bereits begonnen. In seinem Geist wirkt Gott in den Menschen – sichtbar und reflektiert in den Glaubenden – auf das große Ziel, das Zeiten und Räume übergreift, hin. Der Geist Jesu nimmt die Glaubenden in seine Sendung mit hinein und stattet sie dafür mit Vollmacht aus.

Alle Glaubende sind Geistträgerinnen und Geistträger und nehmen Teil an der Sendung Gottes. Die Selbstsendung Gottes ist die Sendung der Kirche und die Sendung aller Christinnen und Christen. Die Sendung der Kirche ist folglich ebenfalls eindeutig und entschieden – und sie ist nur inkarnatorisch-inkulturiert mitten in der Gesellschaft und zu ihren Bedingungen zu denken. Diakonischer wie liturgischer Gottesdienst müssen aus dieser Perspektive entwickelt werden.

Die Glaubenden partizipieren an der Sendung Gottes indem sie sakramental durch Taufe und Firmung in die Gemeinschaft mit Gott aufgenommen sind und den Heiligen Geist empfangen haben. Um auf Gottes Initiative zu antworten und ihrer Sendung gerecht werden zu können, eignen sich die Glaubenden die Verheißungen und Weisungen der Heiligen Schrift an, unterscheiden sie individuell und in Gemeinschaft die Geister, vergewissern sie sich und  gestalten sie durch Gebet, Meditation und gottesdienstliche Feiern ihre Beziehung mit Gott – und lassen sich so nach und nach immer mehr durch den Geist nach dem Bild und Gleichnis Jesu formen.

Sakramental dargestellt und je neu gewirkt wird diese Wandlung der glaubenden Gemeinde in die Gegenwart Gottes durch die Eucharistie, die die Kirche seit Anbeginn am Herrentag feiert. Folgerichtig endet die Eucharistie nicht mit der gottesdienstlichen Feier, sondern setzt sich durch die Sendung in den Alltag fort. Für ihren Alltag werden die Christinnen und Christen gewandelt in Zeugen und Werkzeuge des Reiches Gottes.

Die Eucharistie wird dabei als ein einziger Gottesdienst verstanden, der die Heiligen, alle Verstorbenen und alle lebenden Glaubenden auf der ganzen Erde holistisch in der partikularen, örtlichen Feier zusammenbringt. Christus selbst ist es, der den Gottesdienst feiert und zugleich in ihm gegenwärtig ist. Seine Selbsthingabe für die Erlösung wird nicht wiederholt, sondern geschieht je als Ganzes im Fragment. Die Emmaus-Erzählung legt das eindrücklich dar, indem sie erzählt, dass der Eingeladene und nicht der Hausvater – in radikalem Bruch mit aller zeitgeschichtlichen Sitte – das Brot bricht und austeilt.

Die Emmaus-Erzählung kennt jedoch weitere Begegnungen mit dem Auferstandenen. Er ist gegenwärtig, wenn Menschen miteinander unterwegs sind und ihre Hoffnungen und Enttäuschungen miteinander teilen. Er ist es selbst, der ihnen den Sinn der Schriften eröffnet. Die Wandlung durch die die Jünger in das Auferstehungsgeschehen und damit in die Sendung Gottes hineingenommen werden, geschieht durch das Brotbrechen. Danach sind sie Menschen der Auferstehung geworden, innerlich von Christus umgeformt. Der Auferstandene tritt wiederum in die Mitte, wenn die Glaubenden zusammen kommen, um ihre Glaubenserfahrung miteinander zu teilen und zu besprechen.

Kirche lebt, indem sie an der Sendung Jesu für das Reich Gottes teilnimmt. Dafür wird sie sakramental gewandelt und ist sie selbst das Ursakrament des Glaubens. Sie bezeugt und wirkt mit am Heilshandeln Gottes. In dieser Doppelfunktion des Sakramentes – Zeichen und Werkzeug – ist auch der doppelte Charakter des Gottesdienstes als liturgische Feier und diakonisches Handeln grundgelegt.

Kirchenentwicklerische Konsequenzen

Das Wandlungsgeschehen der Eucharistie geschieht an der ganzen Kirche – und nicht an Einzelnen und nicht nur an der aktuell versammelten Gemeinde. Diese wird gewandelt, weil sie Teil und Verwirklichung der ganzen Kirche ist. Sie wird Leib Christi, weil sie in der Kommunion am Leib Christi Anteil bekommt und Teil des Leibes Christi, der Kirche, ist. Der gewandelte Leib der Kirche ist jedoch viel größer und umfasst alle Glaubenden aller Länder und aller Zeiten. Deshalb ist die Eucharistie in einer paradoxen Spannung einerseits für das Leben der Kirche zentral und unersetzlich, während andererseits die Glaubenden als Teil des kommunitären Leibes Christi auch an der Sendung Gottes teilnehmen, wenn sie aktuell nicht an der Eucharistiefeier teilgenommen haben.

Diese Teilnahme an der Sendung Gottes, die sakramental, aber nicht unbedingt individuell in jedem Moment liturgisch gegründet ist, braucht jedoch, wie jedes Beziehungsgeschehen von Menschen, immer wieder Anregung, Auffrischung und Ausrichtung. Zieht man die Emmaus-Geschichte als Paradigma heran, so weist sie auf die Möglichkeiten des gemeinsamen, glaubend geteilten Lebens, auf die Aneignung der Heiligen Schrift, auf die innere betende Prägung und Formung und das Glaubensgespräch als Formen der Rückbindung hin. Die Glaubenden können neben der Eucharistiefeier auch alle diese Formen nutzen und gestalten, um sich so je neu für ihre Aufgaben in der Sendung Gottes zu rüsten.

Konkret geht es darum, dass die Glaubenden das Heilshandeln Gottes bezeugen, als Zeichen für die Welt in ihrem Leben sichtbar machen und sich dem Heilshandeln Gottes als Werkzeug der Versöhnung, des Friedens, der Gerechtigkeit… des Reiches Gottes für Menschen und Erde zur Verfügung stellen. Damit diese sakramentale Doppelaufgabe für möglichst viele Menschen in einer pluralen, globalisierten und von Individualisierung geprägten Gesellschaft anschlussfähig sein kann, müssen logischerweise auch das Bezeichnen und das werkzeugliche Handeln der Glaubenden plural sein.

Der Geist Gottes verbindet sich dabei mit den Lebenssituationen, den Prägungen und Bedürfnissen der Glaubenden zu einer überwältigend schönen Diversität der Zeichen für die Güte und Zuwendung Gottes. Zusammen aber, wie in einem Mosaik, lassen die vielfältigen Formen, mit denen die Glaubenden ihr Leben gestalten, die Herrlichkeit des einen Gottes unter den Menschen aufstrahlen.

Für die liturgische Dimension des Gottesdienstes bedeutet dies, dass es um des Zeugnisses für die Erlösung unumgänglich ist, ganz unterschiedliche betende Versammlungen zu schaffen. Glaubensgespräch, Aneignung der Heiligen Schrift, geteiltes Leben, Prägung durch die Geheimnisse des Lebens Jesu, Gebet und Fürbitte – aber auch Zeichenhandlungen, Musik, Licht, Wohlgerüche, Prozessionen, Tanz… können und müssen in vielfältiger Weise nach den lokalen Charismen und Bedürfnissen miteinander zu authentischen und ansprechenden Feierformen des Glaubens verbunden werden.

Sakramental dazu befähigt und berechtigt, solche selbstorganisierten Formen geteilten und gefeierten Glaubens zu gestalten, sind alle Getauften und Gefirmten, die ja miteinander das gemeinsame Priestertum des Neuen Bundes ausüben. Dem dient es, wenn viele Glaubende sich liturgiepraktische Kompetenzen aneignen.

Notwendige Kompetenzen und praktische Gestaltung hängen dabei auch von der Reichweite der jeweiligen gottesdienstlichen Feier ab. Kirche verwirklicht sich ja wiederum holistisch in ganz unterschiedlichen Größenordnungen: beginnend mit der Hauskirche einer glaubenden Familie, über nachbarschaftliche Kreise, örtlich-gemeindliche Versammlungen und über Gemeinschaften, Bewegungen und Verbände, bis zu den bischöflich geleiteten Ortskirchen und der Weltkirche. Für eine gottesdienstliche Feier mit kleinen Kindern in der Familie braucht es ganz andere Ausdrucksformen, eine andere Zeitgestalt – und deshalb auch andere Kompetenzen – denn für eine gottesdienstliche Versammlung einer Jugendgruppe oder einer pluralen Ortsgemeinde.

Vorteil dieser selbstorganisierten und –verantworteten Feierformen ist, dass sie unmittelbar mit dem Leben verbunden sind und sich aus den Charismen der anwesenden Glaubenden speisen. Je mehr unterschiedliche Menschen jedoch einbezogen werden sollen, desto formalisierter und ritualisierter muss eine gottesdienstliche Feier gestaltet werden. Für die Gottesdienstformen der ganzen Kirche – Eucharistie, Sakramente, Tagzeiten… – macht es also Sinn, ein allgemeingültiges Gerüst, kodifiziert in liturgischen Normen, zu Grunde zu legen.

Um das Verhältnis der beiden Grundformen liturgischen Handelns: selbstorganisiertes Gottfeiern und kodifizierte Liturgien, zu beschreiben, kann die theologische Formel herangezogen werden, die das 2. Vatikanische Konzil in „Lumen Gentium“ entwickelt hat, um die Beziehung von gemeinsamem Priestertum und Weihepriestertum zu beschreiben. Sie sind voneinander unabhängige Ausdrucksformen des Handelns Gottes und können nicht auseinander abgeleitet werden, sind aber aufeinander hingeordnet, wobei das Besondere und in diesem Kontext das Kodifizierte dem Gemeinsamen – hier dem Selbstorganisierten – dient und ihm Rahmen und Ausrichtung gibt.

So könnte es an die Zeichen der Zeit anschließen...

Die Pandemie als Zeichen der Zeit legt nahe, persönliches Gebet und Haus- und Nachbarschaftsgottesdienste als Basis des Glaubenslebens zu fördern. Dem dienen u.a. Handreichungen, Schulungen und offen nutzbare Kirchengebäude.

Die Pluralisierung der Gesellschaft als Zeichen der Zeit lässt es logisch erscheinen, eine große Diversität selbstorganisierter Gottesdienstformen zu ermöglichen. Dafür sollten neben den Kirchgebäuden auch die vielen anderen „Orte von Kirche“ genutzt werden können.

Das Zeichen der Zeit, dass Glauben stabile lokale Gemeinschaft als „Biotop“ benötigt, spricht für einen Vorrang der lokalen gottesdienstlichen Feier: selbstorganisiert oder kodifiziert – gerne immer wieder auch als Eucharistie. Die Erfahrungen mehren sich, dass die reine „Fahrgemeinde“ den Glauben nicht durch Krisen trägt.

Die große Mobilität weiter Teile der Gesellschaft als Zeichen der Zeit gibt die Möglichkeit, Hochorte des liturgischen Geschehens als „Stadt auf dem Berge“ zu schaffen. Diese Funktion kann nicht länger den schwächer werdenden Ordensgemeinschaften aufgebürdet werden. Zugleich kann auch nicht jede Pfarrkirche so ein Hochort sein.

Das Zeichen der Zeit, dass Beteiligungsmöglichkeit und Zugehörigkeitsgefühl gleichumfänglich erlebt werden, legt es nahe, alle liturgischen Formen, auch und gerade die kodifizierten Formen, so zu gestalten, dass sie breit anschlussfähig sind und vielfältige Beteiligungsmöglichkeiten eröffnen.

Diakonischer Gottesdienst

Die Berufung der Glaubenden erschöpft sich nicht in Anbetung und Gotteslob. Von dort drängt der Geist Gottes zur Tat. Alle im gemeinsamen Priestertum sind zur Verantwortung für Gesellschaft und das gemeinsame Haus Erde berufen.

In manchen Lebenssituationen finden Menschen „nur“ Zugang zum diakonischen Gottesdienst. „Mit den Händen“ – nicht mit ihrem Lobgesang – nehmen sie an der Sendung Gottes teil und verherrlichen auf diese Weise den Schöpfer und Erlöser aller.

Da macht es Sinn, wenn in der Verkündigung das Bewusstsein gestärkt wird, dass auch durch die Werke der Nächstenliebe Gemeinschaft mit Gott gelebt wird. „Was ihr dem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.“ Menschen, die sich mit Herz und Hand in den Dienst der Nächsten stellen, sich für Gerechtigkeit einsetzen, eine Kultur der Nachhaltigkeit und der Versöhnung mit allem Geschaffenen fördern, sind Freunde Gottes – auch wenn sie vielleicht lange Zeit nicht an einem liturgischen Gottesdienst teilnehmen. Sie haben Teil an der eucharistischen Wandlung der ganzen Kirche in den Leib Christi, leben ihren Glauben und stehen mitten in der Communio. 

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