Nicht jeder Gott ist ein Freund der Menschen. Aus Versatzstücken biblisch-christlicher Verkündigung können Gottesbilder und Theologien gezimmert werden, die Menschen verletzlich machen. Im Kontext von Gewalterfahrungen in Kirche tauchen nahezu immer vulnerabisierende Theologien als Absicherung und Vorbereitung der Übergriffe auf.

Vulnerabilisierende Theologien

Text: Peter Hundertmark – Photo: Lela_Maffie/pixabay.com

Wer regelmäßig Gottesdienste mit Predigt besucht, kennt sie, die „schwachen“ Theologien. Wenn etwa bei einer Beerdigung die christliche Auferstehungshoffnung bildlich mit dem Wechsel der Jahreszeiten verglichen wird, so mag das pastoral geboten sein, weil die Angehörigen darin Trost finden. Aber der Zusammenhang mit der biblischen Botschaft von Sterben und Auferstehen Jesu ist doch recht schwach. Als weitere Beispiele schwacher Theologie mögen die Verkündigung dienen, dass Gott immer (lächelnd) da ist und (kritiklos) alle Wege mitgeht, oder der banalisierende Hinweis, dass schon einfachste Gesten des Wohlwollens im Alltag Verwirklichungen des Reiches Gottes sind.

Schwache Theologien können ärgerlich sein, aber sie richten, zumindest wenn man ihnen nur ab und an begegnet, meist wenig Schaden an. Ganz anders sieht es mit „schwächenden“ Theologien aus. Ich wähle dafür den Begriff „vulnerabilisierende Theologien“, denn er lässt die Gefahr, die von ihnen ausgeht, unmittelbarer erahnen. Es sind Theologien, die Menschen verletzlich – vulnerabel –  machen. Theologien, die es Menschen erschweren, für sich und ihre Anliegen einzustehen. Theologien, die verhindern, dass sich Menschen gegen Übergriffe zur Wehr setzen. Theologien, die Menschen zu Verhaltensweisen motivieren, die ihr Leben langfristig überschatten, belasten oder gar zerstören. Theologien, die sie an Fremdbestimmung ausliefern und anderen Menschen Macht über das eigene Leben geben.

Solche vulnerabilisierenden Theologien sind in aller Regel aus traditionellen Glaubensüberzeugungen zusammengestellt, kombinieren sie aber in einer Weise, die eine schwächende, schädigende Wirkung auf ihre „Konsumenten“ hat. Dass sie mit biblischen Zitaten, Texten großer Theologen und spiritueller Meisterwerke belegt werden können, ändert nichts an ihrer schädlichen Wirkung.

Einige Beispiele

Traditionell genießt Maria, die Mutter Jesu, in der katholischen Kirche hohe Verehrung. Sie gilt als Urbild des Glaubens und damit auch als Vorbild. Vulnerablisierend wird dieser Vorbildcharakter – und die Gottesmutter kann nichts dafür! – wenn Maria auf ihre Zustimmung zur Botschaft des Engels verengt und diese Zustimmung in ein grundsätzliches Ja zu allem und jedem verallgemeinert wird. Den Christinnen – den Christen erfahrungsgemäß etwas weniger – wird dann diese zum Wesensmerkmal Mariens hochstilisierte Zustimmung als in jeder Lebenssituation nachahmenswert empfohlen. Eine kritische Unterscheidung, ob das Verlangte überhaupt zustimmungsfähig und -würdig ist, wird dabei unterschlagen. Wer folglich eine solche „Theologie“ internalisiert, wird sich gedrängt fühlen, um der persönlichen Heiligung willen, und weil es dem angeblichen Vorbild der Gottesmutter entspricht, Anweisungen und Forderungen ohne großes Abwägen zu entsprechen. Nun muss sich eine Autoritätsperson nur noch in den Verkündigungsengel „verkleiden“, sich also zum Sprachrohr Gottes erklären, um Macht über die vulnerabilisierte Person ausüben zu können. Leider gibt es genug Berichte, in denen dann ein Mann auch das „überschattet werden vom Heiligen Geist“  auf körperlichere Übergriffe – sexuelle Gewalt und Ausbeutung – hin „theologisierend“ transformiert.

Ein weiteres Beispiel: Kein Mensch geht ohne Begrenzungen, Fehler, Schuldigwerden… durchs Leben. Es gibt keine Persönlichkeit ohne dunkle Seite. Und auch jenseits allen persönlichen Fehlverhaltens sind Menschen immer in schuldhafte, schädigenden Kontexte und Strukturen eingebunden  – was mit anderen Karl Rahner strukturelle Sünde nannte. Damit umzugehen, gehört zentral zu einem erwachsenen Realismus über sich selbst und ist selbstverständlicher Teil auch jeder christlichen Glaubenspraxis. Potentiell vulnerabilisierend wird diese Tatsache, wenn daraus eine Grundkonstitution des Menschen konstruiert wird: alle Menschen sind rettungslos Sünder und ständig auf die erlösende Gnade Gottes angewiesen. Verschärft wird die vulnerabilisierende Wirkung dann noch, wenn die Gnade Gottes angeblich ein rares Gut ist, dass mit großer Anstrengung, Selbstverleugnung und Opferbereitschaft erlangt werden muss – und dennoch immer unsicher bleibt, weil Gott auch zu „beleidigt“ sein könnte. Die sündenvergebende Wirkung der Taufe und die ein für allemal ergangene Erlösung durch Menschwerdung, Kreuz und Auferstehung Jesu werden dabei „theologisch“ vergessen bzw. systematisch, wenn nicht absichtsvoll,  ausgeklammert. Menschen, die solche „Theologien“ konsumieren und internalisieren, verlieren damit den festen Grund in der eigenen Geschöpflichkeit. Dass ihr Leben in sich und vor aller Leistung gut, gottgewollt und bejaht ist, wie es der biblischen Botschaft von der ersten Schöpfungserzählung an entspricht, ist für sie nicht vorstellbar. Ihr schiere Existenz muss erst durch frommes oder frömmelndes Verhalten, eventuell durch häufige Andachtsbeichten und Interventionen kirchlicher Autorität wieder gut gemacht werden. Sie sind existentiell vulnerabilisiert, ständig dem Urteil und der Verfügung anderer – angeblich dazu befähigter oder beauftragter – Personen ausgeliefert.

In schweren Schicksalsschlägen war es schon immer eine zutiefst christliche Möglichkeit, sich und das eigene Leid mit der Passion Jesu zu verbinden und durch diese Deutung eine existentielle Stabilisierung zu finden. Auch Spiritualitäten, die auf der Basis einer Vertrautheit und Freundschaft mit Jesus, ihm symbolisch und empathisch auch auf seinem Leidensweg verbunden bleiben, gehören zum großen mystischen Schatz der Kirche. Wird jedoch dieses Therapeutikum zu einer generalisierten Forderung – und beides liegt sprachlich nicht weit auseinander – verkehrt es sich in eine vulnerabilisierende Ideologie. Dann werden Menschen aufgefordert, Leid zu suchen, sich nicht gegen (unnötiges) Leid zu verhalten, im Leid zu verharren, „um sich mit dem Leiden Christi“ zu verbinden. Menschen, die davon geprägt sind, verweigern dann beispielsweise schmerzstillende Medikamente oder psychotherapeutische Hilfe. Sie begeben sich absichtlich in Situationen, oder lassen sich dorthin schicken, die für sie gefährlich und schwer belastend sind, um so Christus „ähnlicher“ zu werden, der sich in Gethsemani für den Kelch des Leidens und Kreuzweg entschieden habe. Oder sie verzichten auf Selbstbestimmung, auf angemessene Arbeits- und Lebensverhältnisse, auf Sicherheit im Alter… – nicht selten verbunden mit einem einseitigen Gehorsamsverständnis, das Vorgesetzten ausbeuterisches Verhalten ermöglicht.

Ich habe bewusst einige einerseits recht verbreitete „theologische“ Produktionen gewählt, die aber eher subtil klassische Elemente der Verkündigung in einer vulnerabilisierenden Weise neu zusammenstellen. Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eine Vielzahl offen Menschen (und Gott) abwertender „Theologien“ gibt: misogyne, LSBTQI-feindliche, rassistische, imperialistische, kriegsverherrlichende… theologische Ideologien, die dennoch das Wort Gott anführen und fälschlich behaupten, Ausdruck der christlichen Botschaft zu sein. Sie alle schwächen, machen verwundbar, werten ab, entziehen ganzen Gruppen die Menschenrechte, bestreiten anderen die Menschenwürde.

Passung mit vulnerabilisierender Pädagogik und vulnerablen Situationen

Besonders wirksam und gefährlich werden vulnerabisierende Theologien, wenn sie in der Kindheit mit vulnerabilisierenden pädagogischen Konzepten verbunden wurden. Wenn also in einer Familie, ständige Fremdbestimmung bis in intimste Details und in die persönliche Lebensplanung durch einen Familienpatriarchen als normal galt, dann fallen Theologien, die Gott – und seinen irdischen Stellvertretern – umfassende, und den freien Willen ignorierende  Macht über das Leben jedes Mensch einräumen, auf vorbereiteten Boden. Wenn durch körperlich überlegene Erwachsene immer wieder Gewalt als Mittel der Erziehung eingesetzt wurde, schließen Theologie problemlos an, die Gott und seinen Vertretern Gewalt als legitimes Heiligungs- und Erziehungsmittel zubilligen. Wenn Selbstwert und Selbstwirksamkeit pädagogisch unterbunden oder geschwächt wurden, wenn die Schuld für familiäre Nöte auf die Kinder abgewälzt wurde, wenn Pädagogik Schuldgefühle gezüchtet hat… dann finden sich auch vulnerabilisierende Theologien zwischen denen und der jeweiligen familiären Erfahrung eine unmittelbare Passung entsteht. So kommt es zu einer Mehrfach-Vulnerabilisierung. Vulnerabilisierende Theologien finden jedoch auch in vulnerablen Situationen von Familien jenseits vulnerabilisierender Pädagogik – Armut, häufiger erzwungener Wohnortwechsel, Suchterkrankungen von Familienmitgliedern, Kriegsgeschehen… – willkommene Anknüpfungspunkte, mit denen sie eine scheinbar stabilisierende, in Wirklichkeit weiter massiv schwächende Passung aufbauen können.

Bauplan und Wirkung

Zwischen solchen vulnerabilisierenden „Theologien“ gibt keinen leicht erkennbaren gemeinsamen „Bauplan“. Ganz unterschiedliche Elemente der christlichen Botschaft, biblischer Texte, kirchlicher Traditionen werden in je verschiedener Weise miteinander kombiniert. Gemeinsam sind nur die Wirkungen: eine oder mehrere Gruppen von Christ*innen werden durch den Konsum solcher Ideologien vulnerabilisiert und eine oder mehrere Personen oder ganze Gruppen werden aufgewertet, gegen Kritik immunisiert, sakralisiert und überhöht. Das ermöglicht, illegitim und auf Kosten anderer Menschen persönlichen Gewinn zu generieren – sei es durch Statusvorteile, sei es durch Selbstbestätigung, sei es durch Möglichkeiten, übergriffiges Verhalten bis hin zu sexualisierter Gewalt zu leben, ohne befürchten zu müssen, dafür sanktioniert zu werden. Vulnerabilisierende Theologien sind in sich schon Übergriffe und sie ermöglichen Übergriffe.

Durch ihr „frommes“ Gewand vernebeln vulnerabilisierende Theologien, ihre eigene Wirkung, vernebeln sie aber auch den Profit, der durch sie erzielt werden kann. Sie ermöglichen eine Machtausübung, die sich nicht zeigen muss. Macht, und noch mehr Gewalt – die dunkle Seite der Macht, ist in kirchlich-spirituellen Kontexten sehr weitgehend tabuisiert. Vulneranz – die Haltung und ihr entsprechendes Verhalten, anderen zum eigenen Profit Wunden und Schaden zuzufügen – ist nicht besprechbar. Sie existiert aber dennoch, denn es ist eine mögliche menschliche Verhaltensvariante, und treibt in religiösen Kontexten ihr unsichtbares Unwesen. Wahrscheinlich ist Vulneranz sogar so tabu, dass sie auch in der Selbstreflexion der Täter*innen nicht vorkommen kann. Vulnerabilisierende Theologien verbergen – anderen und ihnen selbst – die Vulneranz der Täter*innen und helfen ihnen, einerseits Scham, Reue und Umkehr zu vermeiden, andererseits das eigene oft übersteigerte Selbstbild aufrecht zu erhalten.

Vulnerabilisierende Theologien spielen deshalb wenig überraschend eine zentrale Rolle in allen Berichten von spirituellem Missbrauch, emotionaler und finanzieller Ausbeutung, sexualisierter Gewalt in der Kirche. Sie dienen dazu, potentielle Opfer wehrlos zu machen und sind nicht selten Teil einer sorgfältig ausgearbeiteten Grooming-Strategie. Vulnerabilisierende Theologien können sich aber auch von der ursprünglich profitierenden Person oder Gruppe abgelöst haben, und zur Normalität einer ganzen Gruppierung geworden sein. Selbstabwertung, Verzicht, Aufopferung, Depersonalisierung… erscheinen dann den Mitgliedern als der bessere Weg christlicher Nachfolge – wodurch kompensierend-stabilisierende Sekundärgewinne erzielt werden. Fühlen sich doch nicht wenige Menschen, die ihr eigenes Leben auf der Basis vulnerabilisierender Theologie abwerten und letztlich „wegwerfen“, moralisch den anderen „lauen“ Christ*innen überlegen.

Theologische Dekonstruktion als Mittel der Prävention

Die Dekonstruktion solcher vulnerabilisierender Theologien ist folglich ein zentrales Element im Kampf gegen missbräuchliche Strukturen und Verhaltensweisen in der Kirche. Die Wirkungen müssen sichtbar gemacht und einem breiten Publikum öffentlich gemacht werden. Aber auch die jeweilige „Bauweise“, wie bewährte Elemente der Verkündigung so kombiniert werden, dass sie eine der christlichen Botschaft entgegengesetzte Wirkung entfalten, muss analysiert, um nicht zu sagen, seziert werden. Dabei darf man sich nicht von der gerne mitgelieferten Atmosphäre schrecken lassen, die vulnerabilisierende Veränderung der Botschaft sei der eigentliche katholische Glaube. Die einzelnen Zitate und Autoritätsargumente mögen alle stimmig und bewährt sein. Entscheidend sind die Früchte. Gute Bäume tragen keine schlechten Früchte. Menschen, die Gott suchen und ihr Leben an ihm ausrichten wollen, zu vulnerabilisieren und damit für verschiedenste Ausbeutungsformen „zuzurichten“, ist keine gute Frucht. Vulnerabilisierende Theologien verkünden eine nicht-christlichen Gotheit, sind Aberglaube und Häresie-. Vulnerabilisierende Theologien sind Übergriffe und ermöglichen Übergriffe.

Diesen Beitrag teilen: