Kirchenentwicklung soll ein geistlicher Prozess sein. Aber wie geht das: auf den Geist Gottes hören? Und wie geht es nicht? Es wäre unsinnig auf die Kraft des Geistes zu verzichten. Aber ist damit nicht der Manipulation Tür und Tor geöffnet?

Auf den Geist hören

Text: Peter Hundertmark – Photo: dimitrisvetsikas1969/pixabay.com

In Texten zur Kirchenentwicklung begegnet immer wieder das Zitat aus der Offenbarung des Johannes: „Höre, was der Geist den Gemeinden sagt“ (Off 2,7) Es klingt besonders schön, wenn man den Kontext außer Acht lässt. In der Offenbarung geht es in den sieben Stellen, die diese Wendung als Refrain einsetzen, um massive Kritik an den angesprochenen Gemeinden, um Häresie und Abgrenzung gegen innerchristliche Gegner, dann auch um Bedrängnis und Durchhalteparolen. „Höre, was der Geist den Gemeinden sagt“, stammt aus einem konfliktiven Textumfeld und wird dort polemisch eingesetzt. Allein das könnte schon Grund zur Vorsicht sein, wenn mit dem Zitat hantiert wird.

Aber vielleicht ist der Heilige Geist gar keine Taube, sondern eine Stopfgans. Da niemand den Geist gesehen hat, er per definitionem nicht zu greifen ist, kann man da nicht einfach alles in ihn hineinprojizieren, was man gerne glauben will beziehungsweise wovon man möchte, dass es die anderen glauben müssen? Abgesichert wird die Position dann durch eine zirkuläre Begründung: Dadurch dass die Meinung von einem Vertreter der Hierarchie, einem charismatisch ausgewiesenen „Leiter“ oder von Personen, die sich selbst in besonderer Nähe zu Lehramt und Tradition behaupten, vorgebracht wird, ist die Aussage sicher eine Mitteilung der Heiligen Geistes. Und weil es eine Mitteilung des Heiligen Geistes ist, ist die Meinung der vorgenannten Personen unfehlbar richtig und kann nicht kritisiert werden. Diejenigen, die sich in der Debatte um die Zukunft der Kirche eher dem „Aggiornamento“ verpflichtet wissen, haben schon zu oft erlebt, dass mit dem Verweis auf den Geist versucht wurde, eine Meinung zu sakralisieren. Sie reagieren entsprechend skeptisch bis ablehnend, wenn ein „Hören auf den Geist“ als Verfahren vorgeschlagen wird.

Das Spiel mit der Stopfgans lässt sich jedoch nicht nur formallogisch durch die zirkuläre Begründungsstrategie aufdecken, sondern auch pneumatologisch aufklären. Der Geist Gottes kann niemals partikular und parteiisch sein, ohne sich selbst als Person der Trinität ad absurdum zu führen. Ihn, für welche kirchenpolitische Position auch immer – egal ob eher auf Bewahrung oder eher auf Erneuerung aus – als Legitimation heranzuziehen, stellt immer eine unzulässige Vereinnahmung dar. Partikulare Interessen, leicht daran zu erkennen, dass sie bestimmte kirchliche Gruppierungen oder Traditionen privilegieren und andere Gruppen polemisch abwerten, sind deshalb niemals geistgeführt. Der Heilige Geist ist Gott – und damit immer universal, immer auf das Heil aller Menschen und Zukunft für die ganze Erde aus. Er inkarniert sich in einem globalen, alle Menschen, ja alle Lebewesen auf der Erde umgreifenden Gemeinwohl. Wer meint, ihn zu haben und für die eignen Zwecke nutzen zu können, hält vielleicht eine Taube, vielleicht auch eine Stopfgans in Händen, aber sicher nicht den Geist Gottes.

Der Versuch, eine kirchenpolitische Meinung durch Verweis auf den Geist Gottes gegen Kritik zu immunisieren, setzt zudem voraus, dass nur eine Gruppe von Christinnen und Christen den Geist hat, womit er anderen Gruppen abgesprochen wird. Das neutestamentliche Zeugnis über die Allgegenwart des Geistes ist jedoch eindeutig: Der Geist erfüllt alle Frauen und Männer, die am Ort zusammen waren (Apg 2,1), er lässt sich auf  alle nieder (Apg 2,3), die an Christus glauben und die Auferstehung bezeugen. Er greift manchmal sogar der Taufe vor (Apg 10,47). Christin oder Christ sein und den Geist haben, ist gleichbedeutend (1 Kor 2,16). Jede ausgrenzende Aneignung des Geistes für eine Meinung – wann immer also der Geist zum Besitzstand einer Gruppe gemacht wird, widerspricht dem christlichen Glauben und begrenzt in unzulässiger Weise das Wirken Gottes. Der Geist gibt nie einer Gruppe ein Sonderwissen, mit dem sie über die anderen triumphieren könnten.

Wie kann dann dennoch ein „Hören auf den Geist“ im Rahmen kirchenentwicklender Suchbewegungen und Debatten gelingen. Der Geist ist die Energie Gottes, die das „Antlitz der Erde erneuert“. Auf diese Energie bei der Weiterentwicklung von Kirche zu verzichten wäre schlicht unsinnig. Wie aber lässt sich Raum für das Wirken des Geistes in die Abläufe hinein organisieren?

Zuerst müssen alle bis zum Beweis des Gegenteils davon ausgehen, dass alle Meinungen, die ganze Vielfalt der Positionen und Überzeugungen geistgeführt sein können. Diese Haltung ist pneumato-logisch: Der Geist Gottes wird in die Herzen gegeben (1 Kor 1,22). Er ist in den Christinnen und Christen (1 Joh 3,24). Er verbindet sich so innerlich mit ihnen, dass sie aus ihm leben. (Röm 8,4). Er gestaltet sie um in Kinder Gottes (Röm 8,6f). Der Geist Gottes bleibt nicht als isolierte Wirklichkeit in den Christinnen und Christen, genauso wenig wie die Gottheit Christi eine isolierte Sonder-Wirklichkeit in Jesus war. Gott wird gegenwärtig, indem er „Fleisch“ wird. Der Geist Gottes und die jeweilige Persönlichkeit der Glaubenden gehen eine unauflösliche Verbindung ein. Damit sind die biographischen Erfahrungen, die körperlichen Gegebenheiten und kulturellen Prägungen jeder und jedes einzelnen Glaubenden konstitutiver Teil seiner und ihrer Geistgestalt. Der Geist Gottes ist in Milliarden menschlicher Gestalten in der Welt. Diversität, Unterschiedlichkeit der Meinungen und Optionen, auch inkompatible und einander widersprechende und ausschließende Überzeugungen gehören zur Realität des Geistes Gottes. Weshalb Debatte und Streit von Anfang an Normalität unter Christinnen und Christen ist.

Der Geist Gottes ist also zugleich divers und universal. Er verbindet sich mit jeder menschlichen Wirklichkeit zu einer einmaligen Gestalt – und doch ist es der gleiche Geist, der in allen wirkt. Geistgeführt ist Streit unter Christinnen und Christen dann, wenn es gelingt diese Spannung zu halten. Der legitime Wettstreit der Meinungen steht unter einer gemeinsamen Verpflichtung auf den universalen Heilswillen Gottes. Es geht darum, die beste Lösung für alle zu finden und nicht eigene Meinungen und Interessen durchzusetzen. Dafür ist einerseits die Vielfalt der Meinungen unbedingt erforderlich. Wird eine Meinung von vornherein ausgegrenzt, können einige Christinnen und Christen ihre Stimme nicht erheben, werden ganze Gruppen nicht gleichwertig gehört, nimmt Kirche Schaden. Dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, das umfassende Wirken des Geistes zu erfassen und von ihm in die Zukunft geleitet zu werden. Und ebenso nimmt Kirche Schaden und verfehlt ihre Zukunft, wenn die einen Geistträger*innen über die anderen siegen wollen, statt gemeinsam danach zu streben, die „Macht des Feindes“ (Lk 10,19) – die Kräfte, die gegen Gottes Wirken hin auf Gerechtigkeit, Frieden, Heilung, Befreiung, Versöhnung… stehen – zu überwinden. Auf den Geist hören, heißt alle Christinnen und Christen gleichwertig hören, gemeinsam um das Bessere streiten und das Gute für alle suchen.

Der Geist Gottes ist aber auch eigensinnig. Nicht jede Meinung eines Christen oder einer Christin ist zwangsläufig immer Ausdruck des Wirkens des Geistes Gottes. Es wirken auch in den Christ*innen noch ganz andere Kräfte: partikulare Interessen, Intoleranz, Vorurteile, Rassismus und Misogynie, kulturelle Prägungen, kollektive Egoismen, Ängste, Verletzungen, Übergriffe und Missbrauch, unerfüllte und unerfüllbare Bedürfnisse… Der Geist aber ist der Geist Gottes und der Geist Jesu. Er ist in seiner Ausrichtung eindeutig, in seinem Wirken oft überraschend und immer kreativ. Auf den Geist zu hören, ohne die Geister zu unterscheiden, führt schnell auf Abwege. Nur eines führt noch schneller in die Irre: sich anzumaßen, autoritativ die Geister für die anderen unterscheiden zu können. Im Gegenteil, da der Geist Gottes in allen aktiv ist, wird die Unterscheidung umso verlässlicher je mehr und je mehr unterschiedliche Menschen daran beteiligt sind. Vorausgesetzt ist jedoch, sie suchen nicht sich, sondern die Zukunft Gottes, der Gerechtigkeit will und Frieden… – was sich konkret in gutes Leben und Würde für alle und in Gemeinwohl für Menschen, Mitgeschöpfe und Erde übersetzt. Wird sie so in ein gemeinsinniges Unterscheiden und Entscheiden integriert, nutzt die Vielfalt der Meinungen, die Komplexität der Argumentationen, die Pluralität der Optionen, um die Komplexität der Welt abzubilden und ihr adäquater zu handeln.

Die gemeinsame Unterscheidung der Geister nutzt dabei vier Erkenntnisquellen: Die Wahrnehmung der äußeren Wirklichkeit, die Offenbarung in Schrift, Tradition und Gebet, die Achtsamkeit für innere Regungen und das Hören auf die anderen Geistträger*innen in der Gemeinschaft der Glaubensgeschwister.

Das Hören auf den Geist und das dazu notwendige Unterscheiden beginnt bei der äußeren Wirklichkeit. Geistgeführte Suche nach der Zukunft Gottes findet nicht in den Wolken der eigenen Phantasien, Ideale und Projektionen, sondern auf der Erde der Dinge, der Endlichkeit und konfliktiven Interessen statt. Deshalb geht es bei der Achtsamkeit auf den Geist auch nicht darum, möglichst viele „fromme“ Worte zu benutzen oder lange Gebete zu sprechen. Die genaue Kenntnis der Situation und der Gesetzmäßigkeiten, das möglichst sachgerechte und umfassende Verstehen von Zusammenhängen und Auswirkungen, aber auch eine skeptische Haltung des Verdachts gegenüber allen Interessen ist wesentlich, will man auf den Geist hören. Gott handelt nicht an den Gesetzen der Natur und den Gesetzmäßigkeiten der Psyche und menschlichen Zusammenlebens vorbei. So ist sorgfältige, gegebenenfalls auch wissenschaftliche Analyse und Theoriebildung notwendiger Teil jeder Unterscheidung der Geister. Die Glaubenden sprechen dann über Klimamodelle, empirische Ergebnisse, Gruppendynamik, ökonomische Theorien… und damit über das Wirken des Geistes, der in der Wirklichkeit Spuren seines Wirkens hinterlässt. Nicht-Wissen, mehr aber noch Nicht-Wissen-Wollen schadet dem Versuch, die Spur Gottes und den Weg in seine Zukunft miteinander zu finden. Gott ist angstlose Wirklichkeit. Von seinem Geist geführt kann angstfrei alles angeschaut, untersucht und diagnostiziert werden. Wirklichkeitsverweigerung ist Gottverweigerung.

Die zweite Quelle der Unterscheidung ist die Offenbarung. An der Heils- und Unheilsgeschichte Israels, an Leben und Verkündigung Jesu, an der Geschichte der Kirche entlang lässt sich ein Gespür dafür entwickeln, was Gott will, was seine Präferenzen sind und wie er oft handelt, um seine Ziele zu erreichen. Für Christinnen und Christen sind dabei insbesondere die Geheimnisse des Lebens Jesu – sein Menschsein, sein Eintreten für die Armen, seine Verkündigung eines liebenden Gottes, sein Sterben um der Erlösung aller Menschen willen und seine Auferstehung zu einer neuen Wirklichkeit, das damit begonnene Reich Gottes – normativ. Jesus ist unser Weg und unsere Wahrheit, auch wenn es darum geht, die vielen Aspekte und die Entwicklung der Offenbarung wahrzunehmen und einzuschätzen. Grundsätzlich aber gilt, dass das Hören auf den Geist und die Unterscheidung der Geister die ganze Bandbreite der Offenbarung braucht. So wie jeder Mensch geistgewirkte Wirklichkeit ist, sind auch alle Bücher der Bibel, die vielen spirituellen Traditionen, die Volksfrömmigkeit, die Liturgie, die theologische Theoriebildung, aber auch die Gebetserfahrung der Einzelnen – geistgewirkte Offenbarung. Jeder Teil der Offenbarung muss in gleicher Weise gehört werden können, soll die Zukunft Gottes nicht verfehlt werden. Jeder Ausschluss, jede Unkenntnis, jede vorgängige (Ab-)Qualifizierung, jede Privilegierung einer bestimmten Epoche oder Kirchengestalt begrenzt unsachgemäß und schadet der Suche nach der Zukunft Gottes für die Kirche.

Spuren hinterlässt der Geist jedoch auch im inneren Erleben jedes und jeder Einzelnen. Sein Wirken kann dabei ähnlich wie in der äußeren Wirklichkeit nicht unmittelbar beobachtet werden. Wahrgenommen werden können nur die Reaktionen auf sein Wirken. Diese Regungen und Bewegungen der Seele – wie Ignatius von Loyola diese Verarbeitungsmechanismen unseres Verstandes, unseres Körpers und unserer Psyche nennt – geben Auskunft darüber, ob ein Impuls eher in die Richtung weist, die Gott vorgibt oder eher davon weg zeigt. Wieder gilt der gleiche Grundsatz: Wenn bestimmte Gefühle, Stimmungen, Körperreaktionen, innere Bilder, Träume… abgewertet, ausgegrenzt oder verdrängt werden, macht es das Herz schwerhörig für die Stimme des Geist Gottes. Wer also über die Freude, die er spürt, über die Wut, die sie antreibt, den Schmerz, der in ihm bohrt, den Ekel, der sie schüttelt… spricht, sagt damit etwas über Gottes Geist, der in ihm oder ihr am Werk ist, auch wenn er oder sie keine religiösen Vokabeln benutzt. Was die Wissenschaft für die äußeren Gegebenheiten ist, ist die geschulte, kontemplative Achtsamkeit für die innere Wirklichkeit des Wirkens des Geistes. Wer sich selbst ignoriert – manchmal auch: ignorieren muss, ist auch taub für den Heiligen Geist.

In allen Glaubensgeschwistern geschehen idealtypisch die gleichen Prozesse: Sie bemühen sich um Verstehen der Wirklichkeit, sie horchen auf die Vielstimmigkeit der Offenbarung, sie öffnen sich achtsam ihrer ganzen inneren Wirklichkeit – und sind darin vom Geist Gottes oder von anderen Kräften geleitet. Dann gilt: „Jeder gute Christ wird die Aussage des anderen mehr zu retten als zu verdammen suchen“ (Exerzitienbuch des Ignatius, 22). In jedem Beitrag der anderen Glaubenden kann die Führung des Geistes Gottes aufleuchten. Deshalb sind alle gleichwertig zu hören, wenn Kirche auf den Geist Gottes hören und sich von ihm leiten lassen will. Die gleiche kontemplative Achtsamkeit, die sich nach innen bewährt, nutzt auch im Gespräch. So wie das Wirken des Geistes den inneren Regungen vorausgeht und nur aus ihnen zurück geschlossen werden kann, so ist es auch mit der Rede der Christinnen und Christen. In der Weise, wie sie sich um die Wirklichkeit bemühen und nach Wegen in die Zukunft suchen, kann das Wirken des Geistes Gottes entschlüsselt werden. Denn sie sprechen nicht über himmlische, sondern über irdische Dinge (vgl. Joh  3,12). Wenn es beispielsweise um ein Gebäude geht, sprechen sie über Architektur, finanzielle Ressourcen, Nutzungskonzepte, Ästhetik, Umweltfolgen… wenn es um künftige Ausrichtung der Pastoral geht, dann sprechen sie über Sozialraum, Gewaltenteilung, Machtmissbrauch, Option für die Armen, Prävention, Beiträge zu gesellschaftlichen Herausforderungen… und in ihrer Rede, spricht der Geist Gottes, der Gerechtigkeit, Leben, Freiheit, Frieden, Versöhnung und Gemeinwohl voranbringt – oder eben ein anderer Geist des Eigeninteresses, der Rücksichtslosigkeit, der Ehrsucht, des Haben-Wollens…

So gilt für alle Erkenntnisquellen für den Geist eine Hermeneutik der Unterscheidung: Spricht aus der Wirklichkeit wie wir sie wahrnehmen, aus den Texten der Schrift wie wir sie jetzt verstehen, aus unseren Gefühlen und inneren Bildern wie wir uns ihnen nähern, aus der Rede der anderen Glaubenden so wie wir sie aufnehmen können, eine Stimme, die wir als Stimme Gottes kennengelernt haben, die trostreich ist und zu Gemeinwohl und Zukunft hin lockt? Alle Glaubenden wissen um Gott, aber niemand weiß exklusiv um dessen Wirken heute. Alle werden vom Geist bewegt, aber niemand hat ihn allein. Alle können das Wirken des Geistes entschlüsseln, aber  niemandem vermittelt er ein Sonderwissen. Alle sind Geistträger*innen, aber niemand kann dabei nicht irren. Hören auf den Geist, heißt bei allen Beiträgen achtsam „dahinter“ lauschen und sorgsam gemeinsam unterscheiden. Das braucht Zeit, Mut, innere Freiheit, manchmal Streit, immer aber  gegenseitiges Wohlwollen.

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