Die institutionelle Gestalt der katholischen Kirche wankt – und die Pandemie wirkt dabei beschleunigend. Strukturdebatten haben die letzen Jahre geprägt, aber keinen wirklichen Neustart bewirkt. Mit dem Ruf “Metanoiete” beginnt die Verkündigung Jesu: denkt noch mal neu – kehrt um!
Inkarnierte Kirche
Text: Peter Hundertmark – Photo: LoggaWickla/pixabay.com
Die katholische Kirche in Deutschland hat eine große Geschichte als starke Institution mit öffentlich-rechtlichem Charakter. Sie ist nach wie vor einer der ganz großen Player in den Feldern der Lebensunterstützung und Gesundheitsfürsorge, der Erziehung und Bildung, der Meinungsbildung und des zivilgesellschaftlichen Engagements. Sie ist eine der größten Arbeitgeberinnen und eine große Eigentümerin von Immobilien und Land. Auf diese Weise hat die katholische Kirche die Bundesrepublik wesentlich mitgeprägt und ist bis heute in vielen Bereichen unverzichtbar.
Als Reaktion auf Kulturkampf und Nationalsozialismus hat die katholische Kirche zudem ein eigenes gesellschaftliches Milieu aufgebaut, in dem sich ihre Mitglieder früher zeitlebens bewegen konnten. Daraus hat sich ein eigener Stil der Kirche in Deutschland entwickelt, der – blickt man in die Weltkirche oder in die Kirchengeschichte – keineswegs selbstverständlich ist: Kirche engagiert sich durch eigene Institutionen, in eigenen Gebäuden, mit eigenen Mitarbeiter/innen, unter ihrer eigenen Kontrolle, mit eigenem Rechtssystem und zu ihren Bedingungen. Diese Möglichkeit ist ihr sogar für die „res mixta“ – Schulunterricht, Gefängnis- und Militärseelsorge… – verfassungsrechtlich eingeräumt.
Dass Kirche gesellschaftlich zwangsläufig als Institution handeln muss, ist jedoch ein Dogma, das von keinem Konzil und keiner Synode verabschiedet wurde. Kirche verdankt es dem Soziologen Max Weber, der es aus seinen sozialgeschichtlichen Forschungen heraus ein „Naturgesetz“ der notwendigen Institutionalisierung postulierte. Richtig daran ist, dass jedes Zusammenwirken einer großen Zahl von Menschen ein institutionelles Rückgrat braucht. Die Folgerung jedoch, dass Kirche immer in und durch eigene Institutionen handeln muss, ist jedoch ein wissenstheoretischer Fehlschluss. In der rasch sich verschärfenden Minoritätssituation einer Diaspora in der säkularen Gesellschaft zeigt sich dieses „Dogma“, das historisch so viel Positives bewirkt hat, als dramatische Belastung und Hemmnis für Entwicklung und Anpassung. Die starke gesellschaftliche Institution erfordert einen Rückhalt in einer starken, einheitlich gelenkten Glaubensgemeinschaft. Diese erodiert jedoch seit mehr als fünfzig Jahren. Und selbst wenn es nicht so wäre, wäre es unserer Zeit der reifen Zivilgesellschaft angemessen, Kirche als Sonderwelt zu leben?
Das Dokument „Gaudium et Spes“ des Zweiten Vatikanischen Konzils stellt das institutionelle Handeln nicht in Frage, setzt es jedoch als eine Möglichkeit in einen wesentlich weiteren Kontext. Die Berufung der Kirche und der Christinnen und Christen ist es, Verantwortung in der Gesellschaft (und für das gemeinsame Haus Erde) zu übernehmen. Dies geschieht zuerst, in dem sich Kirche und die Christen vorbehaltlos mitten in die Gesellschaft hineinbegeben und die Anliegen wie auch die Lebensbedingungen der Menschen teilen. Kirche soll sich eben nicht von der gesellschaftlichen Umwelt unterscheiden, in der sie lebt, sondern sich an jedem Ort in die konkreten Bedingungen einwurzeln.
In theologischer Fachsprache heißt diese Einwurzelung in Anklang an die Menschwerdung Gottes “Inkarnation”: Einfleischung. Diese Bildsprache sagt, dass es Kirche eben nicht “selbst”, nicht rein und abstrakt gibt, sondern immer nur, indem sie sich in den Beziehungen der Menschen, in den gesellschaftlichen Bedingungen, in den Herausforderungen der Zeit… materialisiert.
Diese Inkarnation muss aber keineswegs notwendig so geschehen, dass sich Kirche einen eigenen “Körper” schafft – Körperschaft ist. Kirche kann in dieser Logik auch eine Dimension des menschlichen Zusammenlebens sein und sich ereignen, wann immer Glaubende sich zusammenfinden und zusammenwirken. Um noch einmal die Analogie zur Menschwerdung zu bemühen: Jesus Christus ist auch kein extraterrestrisches Sonderwesen gewesen, sondern wahrer Mensch – und darin Gott. Kirche als Sonderwelt wirkt sonderbar.
Inkarnierte Kirche sind Christinnen und Christen, die mitten im Leben und in den Anforderungen ihres Ortes ihren Glauben leben. In eine inkarnierte Kirche kann man nicht gehen. Inkarnierte Kirche kann sich nur ereignen. Und sie ereignet sich, indem ganz säkulare Abläufe aus dem Glauben heraus verstanden und mitgestaltet werden.
In vielen jungen Ortskirchen hat das Bild der Inkarnation in Verbindung mit der vorrangigen Option des Evangeliums für die Armen zu einer Bekehrung der katholischen Kirche und zu einem Standortwechsel an die Seite der Benachteiligten geführt. Kirche geschieht, wenn die Armen zu ihrer Würde finden und Gott dafür loben. Die Amazonas-Synode und das nachsynodale Schreiben „Querida Amazonia“ haben diese Ausrichtung gerade eindrucksvoll bestätigt.
Gaudium et Spes ergänzt diesen grundsätzlichen Blick- und Ortswechsel durch die Lehre von den „Menschen guten Willens“. Kirche soll, wo immer möglich, für ihre Ziele – Reich Gottes, Erlösung, Versöhnung, Friede, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit… – mit allen zusammenarbeiten, die auf vielleicht völlig anderer weltanschaulicher oder religiöser Basis sich in die gleiche Richtung engagieren und ähnliche Ziele verfolgen. In der kirchlichen Lehre zur ökumenischen Zusammenarbeit ist dieses Prinzip weitergeführt und präzisiert worden: Alles gemeinsam tun, was gemeinsam möglich ist. Das Eigenleben, die eigene unabhängige Institutionalisierung, nicht das Zusammenwirken ist begründungsbedürftig. Das Konzil geht sogar so weit, den Organisationen und Institutionen „guten Willens“ die Mitarbeit der Katholikinnen und Katholiken zuzusagen. Dort agieren und engagieren sie sich jedoch zu den Bedingungen dieser „fremden“ Institutionen. Das Konzilsdokument versteht die daraus folgende praktische Unterordnung als einen Ausdruck kirchlicher Demut und einer Armut um des Evangeliums willen.
Die Sicherung der eigenen institutionellen Gestalt, der Gebäude, Pfarrstrukturen, organisationalen Abläufe hat in den letzten Jahren, da die früher selbstverständliche gesellschaftliche Stütze weggefallen ist, die Kirche in Deutschland viel Kraft gekostet. Die Übermacht der Strukturdebatten ist oft beklagt worden. Inkarnation in die gesellschaftlichen Prozesse, demütige Mitarbeit in fremden Initiativen guten Willens, selbstloses Engagement für eine bessere Welt hin auf ein Mehr Reich Gottes, radikales „Herausspringen aus Eigennutz und Eigensinn“ (Ignatius von Loyola)… können zum Befreiungsschlag werden.
Die entscheidenden pastoralen Fragen sind dann: Was ist heute und hier zu tun? Was wird gebraucht? Wo muss mitangepackt werden? Was ist unsere Berufung als Glaubende, was sind unsere Charismen? Was können wir in das gemeinsinnige Engagement einbringen? Wem können wir uns anschließen, mit wem zusammenarbeiten? Wer ist im Sinne des Evangeliums ein Mensch oder eine Initiative „guten Willens“? Wie können wir die „Geister“, die in den gesellschaftlichen Debatten wirken, unterscheiden?
Und dahinter und darauf hin ausgerichtet spirituelle Fragen: Wie kann mich das Evangelium prägen? Wie kann ich unter den Bedingungen heute Freundschaft mit Jesus und Nachfolge leben? Welche Lern- und Reifungsschritte muss ich gehen, damit Hoffnung, Versöhnung, Friede, Gerechtigkeit, Erlösung… das angebrochene Reich Gottes in meinem Leben und Handeln aufscheinen? Wie kann ich meinen Glauben in der „Fremde“ anderer Initiativen leben? Was brauchen wir Glaubenden miteinander, damit wir unsere Berufung für die Gesellschaft und das gemeinsame Haus Erde leben können?
Dabei würde die Gesellschaft wenig gewinnen, Kirche aber alles verlieren, wenn die Glaubenden im Kontakt mit anderen Engagierten ihren Glauben zurückstellen und beschweigen würden. Das Gegenteil wird in einer reifen Zivilgesellschaft erwartet: dass jeder sich mit seinen Werten, Überzeugungen, Hoffnungen und Prägungen dialogisch in den Aushandlungsprozess einbringt. Je profilierter die Einzelnen sich dabei zeigen, desto mehr profitiert das Ganze. Je mehr um die Lösung und den nächsten Schritt gerungen werden muss, desto besser ist wahrscheinlich das Ergebnis.
In dem kleinen Wort „dialogisch“ steckt aber die ganze Umkehr verborgen. Indem Kirche sich inkarniert, verlässt sie sich selbst, verlässt den Raum, in dem sie selbst dominieren kann, und begibt sich hinein in Begegnungen, in der die Glaubenden nur eine Gruppe unter vielen sind. Sie stellen Ihres zur Verfügung, sie steigen engagiert in die Diskussion ein, aber sie herrschen weder über die Abläufe noch über das Ergebnis. Sie tun es in der Nachfolge des inkarnierten Gottessohnes, der nicht gekommen ist zu herrschen, sondern zu dienen und der sich mitten hineingegeben hat in den Alltag seiner Zeit, in die Ambivalenzen und Gefahren, der sogar extra einen schwachen gesellschaftlichen Ort gewählt und als seine Freunde die Armen und Kleinen, die Fischer, die Zöllner, die Frauen… berufen hat.
Dialog ist immer Risiko, denn er ist nur möglich, wenn alle bereit sind, die anderen Positionen ernst zu nehmen, nach ihrer Wahrheit zu fragen, um dann gemeinsinnig nach dem Weg des größeren Gemeinwohls zu suchen. Jede Überzeugung ist dabei den Anfragen und den Argumenten der anderen ausgeliefert. Aus dem interkonfessionellen und interreligiösen Gespräch bringen Christinnen und Christen schon die Erfahrung mit, wie fruchtbar und stimulierend diese Infragestellung bei aller Anstrengung sein kann.
Die nötige Wandlung ist riesig und kann durchaus erschrecken, aber Jesus hat nicht gesagt „Ich bin gekommen, damit sie ihre starken Institutionen haben“, sondern „damit Kranke geheilt, Gefangene befreit und den Armen gute Nachrichten verkündet werden“. Kirche ist kein Selbstzweck, sondern hat sakramentale Struktur: Sie ist gerufen, Zeichen der Hoffnung zu sein und Werkzeug einer gottgefälligeren und menschenwürdigeren Welt. Kirche ist nur Kirche, wenn sie Kirche Gottes ist – und damit Teil ist seiner „gütigen und von Herzen demütigen“ Sendung für Menschen und Erde. Hier sprechen die neutestamentlichen Bilder vom Salz und vom Sauerteig. Kirche ist gedacht als Salz, das die Speisen genießbar macht, nicht als Suppentopf; als Sauerteig, der den Teig unterstützt und treibt und nicht als Backofen. Eine inkarnierte Kirche ist eine demütige Kirche – und als solche authentische und anziehende Zeugin für ihren inkarnierten Herrn.