Sexualisierte Gewalt in einem kirchlichen Kontext erscheint in den Nachrichten oft nur als Zahlen. Dahinter, das wissen alle, stehen Einzelschicksale. Dahinter sind Menschen, die schreckliches Leid erlebt haben. Aber was geschieht dabei in der Betroffenen? Eine Frau malt und erzählt.

Unzeit

Text und Bilder: H.F. – Photo: Tama66/pixabay.com
(Die Autorin ist der Redaktion bekannt)

Warnung: Dieser Artikel enthält die Beschreibung einer sexuellen Nötigung. Die Lektüre kann sensible Menschen und Personen, die selbst Übergriffe erleiden mussten, verstören und mit Abgründen in der eigenen Seele und Geschichte konfrontieren. Sollte so etwas geschehen, nehmen Sie bitte Kontakt zu einen*r Ärztin, Psycholog*in oder Seelsorger*in auf.

Prolog

Als mir vor nunmehr 15 Jahren das passierte, was dieser Text zu erzählen versucht, ahnte ich nicht, wie weitreichend wenige Monate des spirituellen Missbrauchs mein Leben beeinflussen würden.

Im vorletzten Jahr konfrontierte ich die betreffende Gemeinschaft mit meinen Erlebnissen. In den Augen vieler schien für mich nun, da ich endlich sprechen konnte, der Moment der Erlösung, der Befreiung und das Ende des Leidens ersichtlich. Auch ich nahm an, nun den größten, schwersten Schritt gegangen zu sein.

Die Realität hat mich anderes gelehrt: das Aussprechen des Unsäglichen zur Unzeit markiert den Beginn eines langen Weges, um nicht zu sagen eines langen Kampfes um Anerkennung. Anerkennung, in Wort, in Schrift und vor allem in der Tat. Menschen aus dem Umfeld der Gemeinschaft, Medienschaffende, Freund:innen, Familie, Verwandte und schließlich auch die Mitglieder der Gemeinschaft suchen und ringen um Worte, erproben den stimmigen Umgang mit dem, was ich erlebt und inzwischen so häufig versucht habe, in Worte zu fassen. Beizeiten scheint dies zu gelingen, oft tun sich Abgründe der menschlichen Natur auf.

In diesem Spannungsfeld unternehme ich – 15 Jahre später, nach zweieinhalb Jahren Wortfindung in dieser Sache – den Versuch, mein Erleben des Schlüsselmoments in der Zeit des spirituellen Missbrauchs als das darzustellen, was er ist: sexuelle Nötigung, begangen durch einen Bruder einer christlichen Lebensgemeinschaft.

1

Ein Bruder.
Ein Treffen.
Ein Gespräch.
Ein Ort – gewöhnlicher Treffpunkt.

Ungewöhnliche Uhrzeit.

Plötzlich wird aus dem Treffen mit einem Bruder der Gemeinschaft ein verbotenes Treffen. Es wird ein Gespräch an einem verbotenen Ort, an einem verbotenen Treffpunkt, zu verbotener Zeit.

In mir kommen Zweifel auf, und Unsicherheit. Möchte er mich wirklich an diesem Tag, zu dieser Zeit, an diesem Ort treffen? Zu dieser Zeit sollte er, sollte ich in der großen Aula sein, in der ein Treffen stattfindet.

Die Zweifel treiben durch meinen Kopf, brechen sich Bahn durch Magen und Herz. Doch eine Stimme ruft zum Vertrauen: er kennt die Grenzen, er weiß, was er darf; ihm kann ich Vertrauen.

Er ist angesehenes Mitglied der Gemeinschaft, verfasst Bücher mit sinnstiftendem Inhalt für alle, die das Wagnis zu Glauben eingehen möchten.

Er ist seit vielen Jahren Bruder, geschätzt und gefragt, bei offiziellen Anlässen dabei: ihm kann ich vertrauen und darf ohne Zweifel in dieses Treffen zum Gespräch am gewöhnlichen Treffpunkt gehen, zu ungewöhnlicher Uhrzeit.

2

Das Abendgebet ist zu Ende gegangen, die Mitglieder der Gemeinschaft und die Gäste verlassen die Kirche. Auch ich gehe, mache mich auf den Weg zu unserem Treffpunkt. Dort, am Rande des Klostergeländes, liegt das Haus der Begegnung, dort finden sich Räume für Gespräche und Treffen zwischen Brüdern und Gästen – so wie er und ich es sind. Während ich mich dem Haus nähere, begegne ich kaum einer Menschenseele.

Ach ja, erinnere ich mich, in der Aula ist das Treffen. Meine Zweifel mit jedem weiteren Schritt zurücklassend, nähere ich mich dem Treffpunkt. Verwundert bleibe ich stehen: das Haus ist abgeschlossen. Alle Lichter sind aus. Niemand ist zu sehen. Während mein Hirn sich abmüht die Gegebenheiten in einen sinnhaften Zusammenhang zu setzen und ich mich ratlos um mich selbst drehe, nach einer schnellen Antwort suchend, wächst Unbehagen in mir.

Ist er sicher, dass wir uns jetzt hier treffen sollen?
Geht das überhaupt?
Ist das erlaubt?
Wie soll ich da reinkommen?
Darf ich überhaupt jetzt gerade hier sein – als Frau, als Frau, die vielleicht in einen Frauenorden eintreten will?
Ist das nicht verboten?

Noch während ich meinen Blick unschlüssig über die Umgebung, das Klostergelände, die Bäume, die Kirche, den Glockenturm und wieder hin zu dem Haus des Treffens schweifen lasse, beruhigt mich die Stimme des Vertrauens: er kennt die Grenzen, er weiß, was er darf; ihm kann ich vertrauen.

Das Ringen in mir wird unterbrochen, als sich plötzlich eine Seitentür am Haus öffnet. Ein Kopf, sein Kopf, schaut durch den Türschlitz und winkt mich ohne Worte zu sich, ruft zur Eile. Schnell, schnell. Ich gerate für einen kurzen Moment in Panik, laufe zügig zu ihm und schlüpfe zum Türspalt.

Zack.
Tür zu.

3

Ich bin drin, mit ihm. Er begrüßt mich ohne Worte, nur mit einem kurzen Blick und fordert mich mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen. Durch diesen kleinen Raum mit der Seitentür hindurch, den Flur entlang, an mehreren Gesprächszimmern vorbei – bis nach ganz hinten im Haus gehen wir, ohne ein Wort zu wechseln. Das Haus ist immer noch dunkel, nur eine spärliche Notbeleuchtung erhellt in der Dämmerung das Innere des Gebäudes. Ich haste hinter ihm her, der – leicht geduckt -, wie eine sich heranschleichende Katze, vorangeht, bis wir schließlich – endlich – in einen Raum entschwinden. Er rückt Stühle zurecht. Ich setze mich – zu meiner Verwunderung sehr angespannt – auf einen der bereiteten Stühle in die Ecke des Raumes, die von der Glastür aus nicht einsehbar ist. Er nimmt neben mir Platz.

Direkt neben mir.
Dicht, zu dicht neben mir.

Das Gespräch, das folgt, geht im Rauschen meiner wirren Gedanken und der Eindrücke der vergangenen Minuten unter. Warum hatten wir dieses Treffen nochmal vereinbart? Ah, ja, es sollte ein Abschiedstreffen sein vor meiner Abreise zwei Tage später. Wir wollten uns in Ruhe verabschieden nach bewegenden Gesprächen über die Abgründe meines Lebens der vergangenen Monate. In mir nur Dröhnen der Fragen und Unsicherheit. Die Stimme, die mir Vertrauen abverlangte, erhebt sich weiterhin gegen die Zweifel, der Lärm in mir übertönt jedes seiner und meiner Worte. Ich schabe mit den Worten an der Oberfläche eines Sees der Tiefgründigkeit, in dem wir mal schwammen. Weiter, tiefer komme ich nicht.

Ist das hier erlaubt?
Gewöhnlich oder ungewöhnlich?
Verboten?
…Oder…Vorbote?

4

Seine Hand greift nach meiner, bleibt, meine in seiner, auf meinem Knie liegen. Meine Kehle…wie zugeschnürt, mein Magen krampft, ebenso meine Gedanken.

Er hat das schon einmal, zweimal gemacht, vor ein paar Tagen. Vorgestern. Da war es hell, mitten am Tag, das Innere des Hauses glich einem Ameisenhaufen mit geschäftigem Hin und Her. Auch vorgestern fühlte ich Enge, ja, aber das lebhafte Treiben um uns herum gab mir ein Gefühl der Sicherheit, des Gesehenwerdens für den Fall, dass… . Und dann war da noch die Stimme in mir, die mich zum Vertrauen ermunterte: er kennt die Grenzen, er weiß, was er darf;  ihm kann ich vertrauen. Trotz meines Unbehagens, der Angst, jemand könnte uns sehen und all der Unsicherheit, sprach ich mir vorgestern Mut zu und beschwichtigte mich selbst: er hat dir viel Gutes getan. Wenn er diese Berührung braucht, bin ich sie ihm schuldig!?

Und damit schluckte ich mein Unbehagen in die Enge meiner Brust.
Doch heute ist es anders.
Ganz anders.
Denn da ist kein anderer Mensch im Haus, es ist nicht hell, es herrscht kein reges Hin und Her. Keine Stimmen, nicht einmal meine innere, dringen ganz zu mir durch. Nur das Gepresste in ihr höre ich.
Wir sind allein, zur Unzeit, ein Bruder und eine junge Frau, die Ordensfrau werden will und halten Händchen.
Das Rauschen in meinem Kopf wird zu dröhnendem Tosen.

Und dann, urplötzlich, ist dieser Spuk vorbei.

5

Er sieht nervös zur Tür, lässt meine Hand los, springt auf und öffnet vorsichtig, leise und langsam die Tür. Späht hinaus – nach links, nach rechts – und bedeutet mir – wie schon anfangs an der Seitentür, ihm zügig zu folgen.

Himmel hilf, das alles ist also genau so verboten, wie es sich anfühlt! Wir sind zu verbotener Zeit am verbotenen Ort!
Was, wenn uns jemand sieht?’
Was, wenn jemand bemerkt, dass er meine Hand gehalten hat?
Was, wenn dieser Eindruck von ihm und mir die Runde macht?
Was wenn…?

Hastige Schritte durch den Flur, zurück zum Raum mit der Seitentür. Kein Licht, keine Worte, kein Laut. Oh nein, da kommt schon jemand, keine Ahnung wer; ich traue mich nicht hinzusehen. Das Licht im Flur, das Licht im Eingangsbereich geht an. Wir gehen schnell zur Seitentür, durch die ich ebenso schnell zu entwischen hoffe. Kurz blicken wir uns an, ein Wort des Abschieds wechselnd. Gerade will ich mich zur Tür umwenden, tritt er einen Schritt auf mich zu.

Seine Hände packen mich bei den Schultern. Er ist mir sehr nah. Zu nah. Ich kann die Wärme seines Körpers, seinen Atem auf meiner Haut spüren. Fragen schießen durch den Kopf, doch bevor ich eine Antwort greifen kann, zieht er mich mit Wucht an sich.

Seine Finger bohren sich durch mein dünnes Sommershirt in mein Fleisch.
Er hält mich fest.
Sehr fest.
Zu fest.
Seine Muskeln – hart wie Stahl, scheint es – zwingen mich in seine Nähe.

6

Noch ehe ich den Schreck überwunden habe, presst er seinen Mund auf meinen.

Was macht er da?
Warum?
Oh Gott, ist das eklig.
Was mache ich jetzt?
Was kann ich überhaupt machen?
Hilfe!!

Seine Lippen sind gespannt, fast schmerzhaft hart drücken sich seine auf meine. Igitt.
Was soll das? Mir ist übel.
Was macht er?
Und WARUM?

Ich bin unfähig mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Panik schreit schrill in meinen Ohren. Lähmt meinen Körper.

Unfähig, etwas zu tun.
Unfähig, zu sprechen.
Unfähig, mich zu bewegen.
Unfähig, ihn von mir zu stoßen.
Nur Panik, da ist nur Panik. Mein Kopf, mein Mund, meine Kehle, mein Herz, mein Magen… . Alles stumm und erstarrt im fassungslosen Schrei.Und schließlich die blanke Angst vor dem, was noch kommen kann.Dunkler Raum.

Dunkle Ecke.
Er.
Übermacht.

Sein Griff tut weh, seine Lippen ekeln mich, sein Speichel klebt, …doch klare Gedanken fehlen; keine Worte kommen, passen auch nicht an seinen Lippen vorbei, die meinen Mund versiegeln.
Ich bin erstarrt.
Minuten, Sekunden, Momente oder eine Ewigkeit später lässt er mich los, geben seine Hände meine Schultern frei, lösen sich seine Lippen – an denen sonst so viele Menschen mit ihren Blicken hängen – von meinen und ich höre, weit in der Ferne, seine Worte: „Einmal im Leben“.

7

Was tun?
Was jetzt?
Was soll ich machen?
Ich will hier weg.
Hilfe, ich will hier weg!
Was hat er getan?
Wie komme ich in Sicherheit?
Hat jemand das Geschehen beobachtet? Hoffentlich nicht.
Hat mich jemand gesehen? Bitte nicht!
Wie komme ich hier raus?
Kann ich jetzt gehen?
Stelle ich ihn nicht bloß, wenn ich jetzt einfach gehe?
Wie bekomme ich die Tür auf?
Was passiert jetzt? Gleich?
Ich muss was sagen. Muss ich? Was?
Hilfe! Mir ist übel! Ich habe Angst!
Wer ist dieser Mensch?
Wie kann das sein?
Warum hat er das getan?
Warum so fest? Warum diese Gewalt? Er hätte wenigstens fragen können!

Die Tür öffnet sich, ich sage ein „Gute Nacht“ und will weglaufen, so schnell ich kann. Den Sprint meines Lebens abliefern. Doch da ist sie wieder, die Angst: wenn du schnell läufst, ziehst du Aufmerksamkeit auf dich. Alle, die hier umhergehen – es sind deutlich mehr als vorhin, das Treffen in der Aula ist wohl zu Ende – werden sich wundern, warum du über den Vorplatz pest, als wäre eine Horde hungriger Wölfe hinter dir her. Geh ruhig. Geh zügig, aber beherrscht. Lass dir nichts anmerken. Ruhig. Aber ich will weg hier, schnell weg hier. Der Ekel, die Angst, die Verwirrung, der Schmerz und noch mehr Angst treiben mich voran; die Stimme mahnt mich unauffällig zu sein.

Stetig weiter weg, doch ruhig.
Weg, schnell weg! Hoffentlich hat mich keiner bemerkt.
Hoffentlich hat mich keiner erkannt.
Hoffentlich hat niemand gesehen, mit wem ich mich getroffen habe.
Hoffentlich hat keine der Schwester etwas mitbekommen von dem, was drinnen passiert ist.
Oh Gott.
Enge, Angst, Übelkeit.

Das Gefühl seiner Fingerkuppen in meinen Schultern. Das Gefühl seiner Lippen auf meinen, hart darauf gepresst, als wollten sie sich in meine drängen. Abwesenheit von Sanftheit. Kein Kuss.

Das war kein Kuss.

Das war kein Kuss!

Das war Ekel. Das war Gewalt. Das war Enge. Das war Zwang. Das war Härte. Das war, was es war: ungewollt und mit Gewalt erzwungen.

8

Mit jedem Schritt, der mich weiter von dem Ort der Gewalt, der Angst wegbringt, werde ich schneller. Als ich dorthin komme, wo mehr Menschen sind, beschleunige ich in einen schnellen Laufschritt. Ich nehme meine Umgebung nur schemenhaft war, wie durch einen Schleier; den Schleier der Panik. Nur den Weg im Fokus, den Weg hin zu meinem Zimmer, laufe ich getrieben vom Fluchtinstinkt, hin zum Klostergarten. Dort sitzt meine Freundin. Ich halte vor ihr an. Sie, im Gras sitzend über ein Buch gebeugt, schaut auf, begrüßt mich. Mustert mich: Bist du auf der Flucht? …

Auf der Flucht? Ja. Ja, genau. Das bin ich. Ich bin auf der Flucht.
Hilfe.

Ich bin völlig durch den Wind, aus der Puste, unruhig auf der Stelle tretend, unfähig meine Gedanken zu sortieren. Nur eines kommt aus mir heraus: er hat mich gerade geküsst! Auf den Mund!
Gepackt.
An sich gezogen.
Seinen Mund auf meinen gepresst.
Die Gewalt des Moments hält mich gefangen, hat mich noch im immer fest im Griff. Übelkeit.

Ich will schlafen, doch die Erinnerung des Erlebten drückt schwer auf meine Brust.
Ich kann nur flach atmen.

9

Ich starre im Dunkeln an die Decke des Zimmers. Meine Freundin weiß jetzt Bescheid über das, was sich zur Unzeit in dem Haus abgespielt hat. Sie wirkt verstört.

Von meiner Angst weiß sie nichts. Von den dunklen Angstgedanken, die das schlimmste befürchteten und alles in mir eng machten, sodass ich auch jetzt noch nicht frei atmen kann.

Dunkler Raum, dunkle Ecke, starke Hände, fester Griff, warmer Hauch, Haut an Haut, Lippen auf Lippen, zu hart, zu fest, zu grob, zu lang, zu brutal. Angst. Ekel. Zu nah.

Schlaf? Nicht dran zu denken.

Epilog

Dem beschriebenen Ereignis folgt eine schlaflose Nacht, in der ich entscheide, mit besagtem Bruder das Gespräch zu suchen über das Gewalterlebnis des vergangenen Abends. Am kommenden Tag begebe ich mich in ein kurzes Treffen mit ihm. Ich spreche von meiner Verletzung durch seine Tat, von Empörung über die Grenzüberschreitung, von dem Schock über die Gewalt und von meinem  Entsetzen über den Vertrauens- und Machtmissbrauch. Stelle ihn zur Rede über das Warum. Seine Reaktionen fallen teils defensiv, teils verärgert aus. Schließlich bringt er ein: „Tut mir leid!“ hervor; er habe mich nicht ängstigen wollen.

Ich reise kurz darauf ab.

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